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Paul LafargueDie Legende von Victor Hugo |
Madame Hugo liebte Napoleon nicht, seine Freunde waren ihre Feinde. Nach der Niederlage von Waterloo [54] zog sie die grünen Schuhe an, um die Farbe des Kaiserreichs mit Füßen zu treten. Diese einfache Tatsache charakterisiert die Heftigkeit ihrer Gefühle. [55] Der Vater und der Onkel Hugos hegten zahlreiche Beschwerden gegen den Kaiser, der dem Vater den Generalstitel nicht bestätigen wollte, den ihm Joseph Bonaparte verliehen hatte.
Der General Lahorie machte während seines achtzehnmonatigen Aufenthaltes im Kloster der Feuillantines [56], wo ihn Hugos Mutter verborgen hielt, ihren Sohn mit Tacitus [57] bekannt, wobei ihm der Verschwörer gegen Bonaparte (*gemeint ist Lahorie) vermutlich auch keine Zuneigung zu diesem einflößte.
Man sollte annehmen, daß Hugo mit den royalistischen Gesinnungen auch den Haß gegen Napoleon von seiner Mutter einsog, den diese mit ihrem Gatten und ihren Freunden teilte. Nichts von alledem geschah. Der Einfluß von Mutter, Vater, Onkel, Freunden ging spurlos an ihm vorüber. Napoleon und sein außerordentliches Glück erfüllten ihn vollständig: „Sein Bild beschäftige unaufhörlich seine Gedanken“. Alle Menschen seiner Generation unterlagen diesem verwirrenden Einfluß. Man muß Rouge et Noir [58] lesen, um zu begreifen, wie sehr Napoleon die Phantasie kraftvoller, willensstarker Menschen faszinierte. Schon als Kind wählte ihn Hugo zu seinem Idol. Seine Schulkameraden führten Theaterstücke auf, die Victor oder sein Bruder Eugène verfaßt hatten. „Das Thema dieser Stücke bildeten gewöhnlich die Kriege des Kaiserreiches [...]. Victor spielte da Napoleon. Er trat immer dekoriert auf. Seine Brust glänzte von goldenen und silbernen Adlern“. [59]
In diesen Zeiten scherte er sich wenig um die Vendée und ihre jugendlichen Märtyrer, um Heinrich IV. [60] und die Tugenden der legitimen Könige. Er ging ganz in Napoleon auf und vergaß die Spiele der Jugend über dem Studium seiner Feldzüge seiner Armeen, die er auf der Karte verfolgte.
Aber kaum war sein Held bei Waterloo geschlagen und in Sainte Hélène eingekerkert worden, kaum war sein Vater des Hochverrates angeklagt worden, weil er sich geweigert hatte, die Festung Thionville dem auswärtigen Feind auszuliefern, kaum hatte Ludwig XVIII. seinen triumphalen Einzug in Paris gehalten, eskortiert von „riesigen Kosaken mit Fellmützen, unter denen wilde Augen rollten, Lanzen schwingend, die rot von Menschenblut waren, mit goldenen Uhrketten“ und „Halsbändern von Menschenohren geschmückt“ [61], da steckte sich schon der junge Dichter eine silberne Lilie ins Knopfloch und wählte zum Gegenstand seines ersten Trauerspieles eine politische Restauration [62] und beschimpfte Bonaparte, „diesen Tyrannen, der die Erde verwüstete“. [63] Zehn Jahre lange ließ er unermüdlich in seinen Gedichten „die Flüchen der Toten als ein Echo seines Ruhmes erdonnern“. [64] Erst 1827 machte er einen Versuch, in seiner Ode à la colonne [*de la Place Vendôme] [65] das Kaiserreich indirekt durch die Verherrlichung seiner Marschälle zu preisen. Aber damals hatte er gute Gründe von dem einmal eingeschlagenen und konsequent verfolgten Weg abzuweichen. Die Beleidigung, die den Marschällen Soult [66] und Oudinot [67] in der österreichischen Gesandtschaft widerfuhr, empörte die Armee und den Hof so sehr, daß das Journal Débats [*Debatten] und die ganze royalistische Presse für sei eintraten. Hugo stimmte also in das Geschrei ein, das die royalistische Partei erhob. Seine Ode erschien auf der dritten Seite des Journal Débats.
Ohne Kenntnis der Sitten jener Zeit und der Gewohnheiten der Familie Hugo fiele es schwer zu begreifen, wie ein junger Mann, und sei er auch ein Genie, so perfekt die Kunst besitzen konnte, sich zu beherrschen und seine Gefühle zu verbergen. [68]
Seit 1789 waren die verschiedenen politische Regime einander so rasant gefolgt, daß die Kunst, seine Überzeugungen zu verleugnen und sich der jeweils aufsteigenden Sonne zuzuwenden, als eine Notwendigkeit angesehen wurde, sich im „Kampf ums Dasein“ zu behaupten. [69] Hugos Familie zeichnete sich in dieser Kunst besonders aus. Einige biographische Details über den General Hugo und seinen ältesten Sohn Abel werden vielleicht die Bewunderung der Hugomanen für das machiavellistische Genie ihres Helden verringern. Sie werden aber dazu beitragen zu erklären, wie so viel Diplomatie in einem so jungen Hirn sich entfalten konnte.
Brutus Hugo, der wilde Republikaner von 1793, der die Hinrichtungen der Royalisten und Chouans [70] durch Pulver und Blei und durch die Guillotine leitete, nahm am Staatsstreich gegen die gesetzgebenden Körperschaften vom 18. Fructidor (*4. September 1797) unter Augereau [71] teil, wurde dann Majordomus im Palast Joseph Bonapartes, des Königs von Neapel (*1806-08), später von Spanien (*1808-13), vertauschte seinen römischen Vornamen gegen den Titel eines spanischen Grafen, huldigte Ludwig XVIII., der ihm das Kreuz des heiligen Ludwig verlieh, lief zu Napoleon über, sobald dieser von Elba in Frankreich landete, und bot Ludwig von neuem seine Treue an, als dieser aus Gent zurückkehrte. In Blois interniert, schrieb er zur Zerstreuung seine Memoiren. Abel, sein ältester Sohn, versah diese mit einer historischen Einleitung, die mit folgendem Glaubensbekenntnis beginnt: „Aus Überzeugung der konstitutionellen Monarchie ergeben, tief durchdrungen vom Prinzip der Legitimität, hingezogen aus Sympathie zur erhabenen Familie, der wir so viel verdanken usw“.
Victor Hugo verdankte konnte das Vorbild nicht genug bewundern, das der Ex-Brutus seinen Kindern lieferte. Er sagte:
Deinen Söhnen genügt ihr edles Erbe von dir, |
Abel lebte von 1815 bis zu seinem Tod 1873 fast ausschließlich bei seinem Vater. Er konnte also nicht seine Mutter für den Ultraroyalismus verantwortlich machen, der sich nach dem Sturz des Kaiserreiches so plötzlich in seinen Schriften zeigte. Wie Victor betrieb auch er speziell den persönlichen Dienst bei der königlichen Familie. Während Victor die Salbung des Königs besang [73], veröffentlichte er in Prosa seine Neue Lebensbeschreibung des Grafen von Artois, jetzt Karl X.: Anmut, Freimütigkeit, Adel sind ihm in vollstem Maß zu eigen usw. Das zieht sich so über Dutzende Seiten. Nachdem er dem König genug Weihrauch gespendet hat, versetzt er der „Revolution, die sich an allen Verbrechen berauschte und vor ihren Herren kroch“ einen Fußtritt; er insultiert Napoleon, gerät dann außer Rand und Band vor Entzücken über „die Proklamation an die Armee“ des Grafen von Artois, der als Generalleutnant des Königs nach Lyon gesandt worden war, um den Marsch Napoleons nach dessen Landung von Elba 1815 aufzuhalten und bemerkt dazu: „Je edler und feiner die Sprache dieser Proklamation war, desto weniger war sie geeignet, Eindruck auf Leute zu machen, die nur dem Teufel [74] zugänglich schienen. Die Verräter empfingen sie mit höhnischem Gelächter“.
Unter diesen Verrätern befand sich auch der Vater des Verfassers, der General Hugo. Nach der Vertreibung Karls X. (1830) ließ Abel sich für „mit der Feder geleistete Dienste“ dekorieren und schrieb seine Populäre Geschichte Napoleons (1833), die ihm die Anerkennung des Prinzen Napoleon [75] eintrug.
Mit diesem bewundernswürdigen Anpassungsvermögen verband Abel Hugo einen Geschäftssinn, der im Erschließen von Geldquellen äußerst erfindungsreich war. Um tiefempfundenen Bedürfnisse abzuhelfen, veröffentlichte er eine Studie über das spanische Theater, eine französische Ausgabe des Romancero [*general] [76], eine Broschüre über den Guano und seinen Wert als Düngemittel, einen Führer durch Paris für alle Zeiten unter dem Titel Ganz Paris für zwölf Sous, eine Illustrierte Geschichte Frankreichs; er verfaßte mit Romieu zusammen ein Singspiel, studierte „Afrika“ vom landwirtschaftlichen Standpunkt, gründete das Journal du soir [Abendblatt]“, erfand die illustrierten Fortsetzungsromane usw. Abel war ein geschickter Literatur-Fabrikant.
Was man allerdings am allerwenigsten erwarten würde, das ist, daß wir bei Victors Vater, dem Soldaten des ersten Kaiserreiches, jene Humanitätsschwärmerei entdecken, die auf der Lyra des Sohnes den König und den Katholizismus verdrängen sollte. Unter dem Pseudonym Genty [77] veröffentlichte der General 1818 eine Broschüre, in der die Ideenrichtung des Industriellen sich auf das Beste mit der des Philanthropen verbindet. [78] Er löst darin die doppelte Aufgabe, die Findelkinder mit einer Aussteuer und die Ansiedler in den Kolonien mit weißen Arbeitern zu versorgen. Die schönen Zeiten, wo man die Schwarzen an den afrikanischen Küsten einfangen durfte, waren ja vorbei. Die Findelkinder sollen dem Arbeitskräftemangel abhelfen. Die Regierung, welche diese Kinder auf ihre Kosten aufzieht, hat das Recht, über sie nach Belieben zu verfügen: „Sie soll den Kolonisten Kinder liefern, Mädchen im Alter von neun bis zehn, Knaben im Alter von zehn bis elf Jahre. Deren Dienstzeit beginnt mit dem Tag ihrer Einschiffung und soll 15 Jahre nicht übersteigen, nach deren Ablauf sie von Gesetz aus endet. Dann zahlt die Regierung unter dem Titel einer Aussteuer an jeden der Männer 500 Francs, an jede der Frauen 500 Francs“.
Dieses Projekt böte Vorteile für alle Betroffenen und würde die Kolonien enger an das Mutterland binden. Die Kolonisten hatten die schwarzen Kinder mit 400 bis 800 Francs [79] bezahlen müssen. Das Mutterland lieferte die kleinen Weißen gratis. Diejenigen von ihnen, die den Mißhandlungen und der Rackerei in tropischen Pflanzungen nach 15 Jahren noch nicht erlegen sind, erhalten eine Aussteuer von 500 bis 600 Francs! Die bürgerliche Wohltätigkeit, die die Einzelhaft erfunden hat, die Zwangsarbeit von Frauen und Kindern und Fabriken, die auf Wohltätigkeitsbällen tanzt, um den Hunger der Verhungernden ein wenig zu besänftigen, sie sollte das Projekt des General Hugo aufnehmen, als Ergänzung zu den Gesetzen gegen Landstreicherei und den Arbeitshäusern. [80]
Victor Hugo schlug nicht aus der Art.
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54. * Am 18. Juni 1813 besiegten die verbündeten Militärkräfte der Reaktion (England, Preußen, Österreich) den von Exil auf der Insel Elba nach Frankreich zurückgekehrten Napoleon Bonaparte bei Belle Alliance (Waterloo).
55. Hugo raconté, 1, 252
56. * Die Feuillianten sind reformierten Zisterzienser. Madame Hugo wohnte ab dem Frühjahr 1809 in dem aufgelassenen Kloster.
57. * Der römische Historiker Publius Cornelius Tacitus (60–~117) verfaßte mit seiner Schrift Germania ein ethnographsiches Standardwerk.
58. * In Rot und Schwarz (Reprint Köln 1977) schilderte Stendhal (recte Beyle Henri) 1831 das Scheitern eines jungen, dynamischen Aufsteigers an der Gesellschaft.
59. Hugo raconté, 1, (*Seitenangabe fehlend).
60. * Mit Heinrich IV. von Navarra (regierte Frankreich von 1589–1610) gelangten nach den Hugenottenkriegen die Bourbonen auf den Thron. Hugo verfaßte 1820 eine Ode Le rétablissement de la statue de Henri IV. [Die Wiederherstellung der Statue Heinrich IV.], (Œuvres, B/1, Poésie 1, Paris 1912, 61ff..
61. Hugo raconté,1 , (*Seitenangabe fehlend).
62. * Gemeint ist die historische Tragödie Cromwell.
63. Verszeile aus Über den Nutzen des Studiums [*Sur le bonheur de l’étude], eingesandt zum Poesiewettbewerb von 1817 [*der Académie Française]. Er ergriff jede Gelegenheit, seinen Helden zu insultieren. * Ode in Œuvres, B/1, Paris 1912, nicht enthalten.
64. Les deux iles; in: Odes et ballades [Oden und Balladen], 1826 (*Seitenangaben fehlend). – * In Die zwei Inseln werden Korsika und Saint Hélène als die Inseln, zwischen denen sich das Geschick Napoleons erfüllte, zum Anlaß einer bewundernden Darstellung des Korsen als historisch schicksalhafte Gestalt genommen. Reprint in Œuvres, B/1, Paris 1912, 158f..
65. * Œuvres, B/1, Paris 1912, 166f.
66. * Nicolas Jean de Dieu Soult (1769–1851), seit 1804 Marschall, war einer der fähigsten Generäle Napoleon I.
67. * Nicolas Charles Oudinot, Herzog von Reggio (1767–1847), Marschall und Pair von Frankreich. – In dieser durch einen diplomatischen Zwischenfall inspirierten Ode wird das Symbol der Säule auf dem Platz Vendôme zum Vorwand genommen, um die napoleonische Zeit als Höhepunkt der „gloire“ Frankreichs einzufordern (die Säule wurde 1806 aus dem Metall von 1.200 erbeuteten Geschützen mit einem Cäsarenstandbild Napoleon Bonapartes an der Spitze errichtet).
68. * Ganzer Absatz in der deutschen Fassung fehlend.
69. Die heutigen Amateure in der Kunst politischer Akrobatik können aus dem Dictionnaire des girouettes [Lexikon der Windfahnen] von Prosny d’Eppe und dem Nouveau dictionnaire des girouettes von 1831 noch manches lernen. Sie werden mit Chateaubriand darüber staunen und mit Neid hören, „daß es Leute gab, die den Treueid der einen und unteilbaren Republik schworen, dann dem Direktorium der Fünf, dem Konsulat der Drei, dem einzigen Kaiser, der ersten Restauration, der Zusatzakte (*nach Napoleons Rückkehr von Elba) und der zweiten Restauration – und daß solche Leute noch Louis Philipp etwas zu bieten hatten“.
Lächelnd sagte Talleyrand (*Charles Maurice de [1754–1838], Staatsmann), als er Louis Philippe den Treueid leistete: „Sire, das ist mein dreizehnter!“.
70. * Gegner der französischen Revolution in der Bretagne, der Normandie und am rechten Ufer der Loire. Der Name stammt wahrscheinlich von dem ersten Führer Jean Cotterau (1754–1794), der nach dem ihm eigentümlichen Schrei „chat-huant [Eule]“ genannt wurde.
71. * Pierre François Charles de Augereau (1757–1816), französischer Marschall.
72. Odes, 1823, 2, VIII (*À mon père; in: Œuvres, B/1, Poésie 1, Paris 1912, 107).
73. * Gemeint ist 1825 geschriebene Ode Schatten der Kathedrale (in: Œuvres, B/1, Poésie 1, Paris 1912, nicht enthalten).
74. * Im Französischen „esprit de séduction“.
75. * Napoleon Bonaparte III. (Charles Louis) regierte von 1852–1870.
76. * Erste große spanischen Romanzensammlung (1600)
77. Mémoire sur les moyens de suppléer à la traite des nègres par des individus libres, d’une manière qui garantisse pour l’avenir la sûreté des colons et la dépendance des colonies [*Studie zur Erforschung über Möglichkeiten die Sklavenarbeit durch die Arbeit freier Menschen zu ersetzen, aber so, daß in Zukunft die Sicherheit der Kolonialherren und die Abhängigkeit der Kolonien gewährleistet bleibt], par Genty, 8. Jänner 1818.
78. Belton hat bei seinen Nachforschungen über die Familie Hugo entdeckt, daß der alte General besessen drauflosschrieb und -dichtete. Er hinterließ eine Fülle von Manuskripten: Die Herzogin von Alba, Der Tambour Rombin, Der Einsiedler vom See, Das Schwert des Brennus, Perrine oder die neue Nina, Eine Hofintrige, Die Erlaubnis, Josef und das Findelkind usw. Diese Werke sind entweder verloren gegangen oder verlegt.
Obgleich Victor Hugo die literarischen Leistungen seines Vaters nie erwähnt, bewunderte er sie doch sehr. In einem Brief an den General, den Belton zitiert, spricht er von einem Stück, das ihn „aufs tiefste erschütterte“; in einem anderen Brief erwähnt er ein Gedicht Lucifer, das „ihn entzückte“. Wenn man nicht wüßte, wie es mit seiner Liebe zum Vater stand, müßte man sich wundern, daß gerade er niemals den Versuch unternahm, die „ausgezeichneten“ Werke seines Vaters der Vergangenheit zu entreißen, wo er doch selbst die geringsten Exkremente seiner Muse aufhob. Die Messieurs Vacquerie, Meurice (*Paul [1820–1905], Schriftsteller) und Lefebvre sind jetzt um ihrer Sünde der Hugomanie willen verurteilt, diese herauszugeben, freilich nicht sie zu lesen.
79. * Im Französischen „200 bis 400 Francs“.
80. * Im Französischen „la loi des récidivistes“.
Zuletzt aktualisiert am 2.2.2004