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Paul LafargueDie Legende von Victor Hugo |
Am 1. Juni 1885 feierte Paris das großartigste Leichenbegängnis des Jahrhunderts: man begrub Victor Hugo „il poeta sovrano [Dichterfürst]“. Zehn Tage lang bereitete die gesamte Presse die öffentliche Meinung Frankreichs und Europas darauf vor. Paris, einen Moment lang aufgewühlt vom Anblick der roten Fahne und der Polizeiangriffe auf dem Père-Lachaise, welche die Erinnerung an die Blutige Woche [7] wachriefen, befaßte sich nun wieder allein mit demjenigen, welcher „der berühmteste Vertreter des menschlichen Gewissens“ gewesen war. Den Zeitungen genügten ihre drei Seiten nicht – die vierte war für Annoncen reserviert –, um „das Genie, in welchem die menschliche Idee lebte“, zu feiern. Die Sprache, obgleich von Victor Hugo durch zahlreiche lobpreisende Ausdrücke bereichert, schien den Journalisten armselig, sobald es darum ging, ihre Bewunderung für „den gigantischsten Denker des Universums“ in Worte zu kleiden, so daß sie auf Bilder zurückgriffen. Ein Abendblatt, dem die Worte ausgegangen waren, bildete auf seiner ersten Seite die im Ozean untergehende Sonne ab. Der Tod Victor Hugos war der Tod eines Sterns. „Das Ende der Kunst!“
Aus der Bevölkerung, vom journalistischen Enthusiasmus aufgewühlt, folgten 300.000 Männer, Frauen und Kinder dem Armenwagen, der den Dichter ins Pantheon brachte und eine Million ergoß sich auf die Plätze, Straßen und Trottoirs, wo der Zug vorbeikam.
Ein schwarzes Zelt hüllte den Triumphbogen imperialistischer Glorie in Trauer; das Licht der Gaslaternen und Straßenlampen drang düster durch den Flor; die Kränze aus Immortellen [8] und Samt, die Porträts von Hugo auf seinem Totenbett, die Bronzemedaillen mit der Gravierung: Nationaltrauer ..., alle Symbole eines verzweifelten Schmerzes waren aufgeboten worden und dennoch – die riesige Menge empfand weder Bedauern um den Toten, noch Erinnerung an den Dichter: Hugo war ihr gleichgültig. Sie schien nicht zu wissen, daß man vor ihren Augen „den größten Dichter, der je existierte“, ins Pantheon überführte.
Die aufgeregte und gut gelaunte Menge bezeugte lautstark ihre Zufriedenheit mit dem Wetter und dem Schauspiel. Sie erkundigte sich nach den Namen der Berühmtheiten und der Stadt- und Länderdelegationen, die da zu ihrem Vergnügen aufmarschierten. Sie bewunderte die riesigen, von Wagen gezogenen Blumenkränze. Sie applaudierte den Pfeifenspielern der Schießvereine, die mit ihren unharmonischen Tönen die Ohren zerrissen. Sie begrüßte mit ironischem Gelächter Déroulède [9], seine ernste Miene und seinen grünen Gehrock, und um ihre Freude auf den Höhepunkt zu bringen fehlte nur noch das Wappen der Bon-vivants, – einen Hasenbraten als Emblem, – eine riesige Tortenspritze aus Karton. [10]
Akteure und Zuschauer jubilierten. Es stimmt freilich, daß die Anrainer der Grands Boulevards voll Enttäuschung darüber, daß man den Leichnam nicht an ihren Türen vorbeiführte, säuerlich Berechnungen anstellten, welch runde Sümmchen sonst in ihre Taschen geflossen wären. Verbittert erzählten sie sich, daß Fenster und Balkone für Hunderte und Tausende Francs vermietet wurden; daß man in drei Stunden doppelt soviel oder noch mehr als die Miete von sechs Monaten verdienen konnte. Aber der Kummer dieser Miesmacher ging in der allgemeinen Fröhlichkeit unter. Die Restaurants der leichten Damen [11] schoben Vorbauten weit auf den Gehsteig hinaus. Man kaufte zu astronomischen Preisen das Recht, dort in der Sonne zu schmoren und sich mit gepantschtem Bier vollaufen zu lassen. Einfache Leute hatten seit dem Morgengrauen die besten Plätze besetzt, der eine mit einem Stuhl, der andere mit einem Tisch, einer Bank, einer Leiter, und traten sie den Neugierigen um den Wert von zwei lustigen Tagen und reichem Leben als Privatier ab. Hoteliers, Kaffeehausbesitzer, Schieber von der gierigen Sorte lächelten freudig und strichen dabei die Zehn-Sous-Geldstücke, die das Fest einbrachte, in ihre Taschen: einer von ihnen sagte in überzeugtem Ton: „Es sollte jede Woche ein Victor Hugo sterben um den Handel anzukurbeln“. Und in der Tat der Handel lief! Handel mit Blumen und Trauerabzeichen; Handel mit Zeitungen, Gravuren, Leiern aus Zink, mit Bronze, Gold oder Silber überzogen, galvanisierten Medaillen, Abbildungen zum Anstecken; Handel mit schwarzem Flor und Armschleifen, Schärpen, trikoloren und vielfarbigen Bändern; Handel mit Bier, Wein, Wurstwaren, die hungrigen Leute aßen und tranken im Stehen auf der Straße, vor den Theken, x-beliebiges zu x-beliebigen Preisen; Handel mit Liebe, – Provinzler und Ausländer, aus allen Himmelsrichtungen angereist, ehrten den Toten durch ausschweifende Feste mit den Damen des horizontalen Gewerbes.
Die Beisetzung des 1. Juni (*1885) war des Toten würdig, den man pantheonisierte, und würdig der Klasse, die die Leiche begleitete.
Die revolutionären sozialistischen Organisationen Frankreichs und des Auslands, welche den bewußten Teil des Proletariats darstellen, waren bei der Beerdigung Victor Hugos nicht vertreten. Mit Ausnahme der Anarchisten, die, um sich wieder einmal von den revolutionären Sozialisten abzuheben, versuchten, ihre schwarze Fahne unter die bunten Fahnen des Zugs zu mischen; Elisée Reclus [12], ihr bemerkenswerter Mann, bat seinen Freund Nadar [13], seinen Namen ins Trauerregister einzutragen. Das Regierungsverbot der roten Fahne, Monsieur Vacqueries [14] Erklärung, daß Hugo im Exil stets hinter der roten Fahne herschritt, wenn man eines der Opfer des Staatsstreichs zu Grabe trug, und die Forderung der radikalen Presse auf das Recht zur öffentlichen Verwendung des Banners der Commune und ihr Erinnern daran, daß der vom Empire [15] Verbannte 1871 sein Brüsseler Haus den Besiegten aus Paris geöffnet hatte, all das schien die Revolutionäre in höchstem Maß einzuladen, sich um den Sarg Victor Hugos zu scharen, wie um einen Sammelpunkt der republikanischen Parteien. Die revolutionären Sozialisten lehnten es jedoch ab, an diesem Karnevalsumzug des ersten Juni teilzunehmen.
Die Londoner City sandte, obwohl sie eingeladen war, keine Delegation zur Beerdigung des Dichters: Die Mitglieder des Stadtrates behaupteten, sie hätten bei der Lektüre seiner Werke nichts verstanden. In der Tat hieß es Victor Hugo schlecht verstehen, wenn man eine Ablehnung mit solchen Erklärungen begründete. Zweifellos glaubten die ehrenwerten Michelin [16], Ruel und Lyon-Alemand aus London, daß der eben verstorbene Schriftsteller einer dieser Proletarier der Feder war, die ihr Hirn wochen- oder jahresweise den Hachette [17] aus dem Verlagswesen oder den Villemessant [18] von der Presse vermieten. Wenn man ihnen mitgeteilt hätte, daß der Tote ein Konto bei Rothschild [19] hatte, daß er der größte Aktionär der Belgischen Bank war, daß er als vorausblickender Mann seine Gelder außerhalb Frankreichs angelegt hatte, weil man hier Revolutionen durchführt und davon spricht, das Hauptbuch zu verbrennen, daß er nur deswegen von seiner Vorsicht abrückte und von der Fünf-Milliarden-Anleihe für die Befreiung seiner Heimat kaufte, weil diese Anlage sechs Prozent einbrachte; wenn man ihnen gesagt hätte, daß der Dichter durch den Verkauf von Sätzen und Wörtern fünf Millionen angehäuft hatte, daß er ein geschickter Literaturhändler, ein Meister in der Kunst des Verhandelns und des Aufsetzens von für ihn vorteilhaften Verträgen war, daß er sich bereichert hatte indem er seine Verleger ruinierte, was man bis dahin noch nie erlebt hatte; wenn man so die Verdienste des Toten aufgezählt hätte, dann hätten die ehrenwerten Vertreter der City von London, dieses Herz des Handels beider Welten, um ihr Kommen zu dieser wichtigen Zeremonie nicht gefeilscht; im Gegenteil, sie hätten darauf bestanden, den Millionär zu ehren, der so gut Poesie mit Soll und Haben zu vereinen wußte.
Die französische Bourgeoisie war da besser unterrichtet, sie sah in Victor Hugo eine der perfektesten und brillantesten Personifizierungen ihrer Instinkte, ihrer Leidenschaften und ihres Geistes.
Die bürgerliche Presse, berauscht von den überschwenglichen Lobgesängen, die sie aus vollen Kolumnen über den Toten ergoß, versäumte es, die repräsentative Seite Victor Hugos herauszuarbeiten, die in den Augen der Nachkommen vielleicht als seine wahrste Eigenschaft erscheinen wird. Ich werde versuchen, diese Unterlassung wieder gut zu machen.
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6. * Der gesamte erste Teil fehlt in der deutschen Version.
7. * Der Niederschlagung des Commune-Aufstandes.
8. * Sommerblume mit strohtrockenen, gefüllten Blüten.
9. * Der Schriftsteller und Abgeordnete Paul Déroulède (1846–1914) war Gründer und Präsident der nationalistisch-militaristischen „Liga der Patrioten“. 1899 versuchte er die Armee gegen das Elysée zu führen und wurde daraufhin bis 1905 verbannt.
10. * Im Französischen „Benni-bouffe-toujours du cortège, – le lapin sauté de leur arme, – la colossale seringue de carton“.
11. * Im Französischen „brasseries à femmes“.
12. * Der Geograph Elisée Reclus (1830–1905) war ein Teilnehmer am Commune-Aufstand, emigrierte und wurde Professor an der Universität Bruxelles.
13. * Pseudonym für den Maler, Fotographen und Schriftsteller Félix Tournachon (1820–1910).
14. * Der Schriftsteller Auguste Vacqueries (1819–1895) war ein leidenschaftlicher Bewunderer Hugos.
15. * Gemeint ist das zweite Empire, das Kaisertum Napoleon III. von 1852–1870.
16. * Der Industrielle Édouard Michelin (1856–1940) erfand die Gummibereifung für Fahrräder und Automobile.
17. * Louis Christoph Hachette (1800–1864) gründete 1826 den gleichnamigen Verlagsbuchhandel (heute Kommunikationsunternehmen).
18. * Jean Cartier de Villemessant (1812–1872) gründete 1854 Le Figaro.
19. * Baron Alphonse de Rothschild (1827–1905) leitete ab 1855 die Banque de France. Zusammen mit seinen Brüdern verfügte er über ein europaweites Finanz- und Bankennetz.
Zuletzt aktualisiert am 2.2.2004