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Der Geschichtsschreiber der Sowjetunion wird um den Schluss nicht umhin kommen, dass die Politik der herrschenden Bürokratie in den großen Fragen eine Reihe von sich widersprechenden Zickzacks darstellte. Versuche, diese mit „wechselnden Umständen“ zu erklären oder zu rechtfertigen, sind offensichtlich haltlos. Führen heißt wenigstens in gewissem Grade voraussehen. Stalins Fraktion hat nicht im mindesten die unvermeidlichen Resultate der Entwicklung vorhergesehen, die ihr jedes Mal über den Kopf wuchsen. Sie reagierte darauf mit administrativen Reflexen, Die Theorie ihrer jeweiligen Wendung schuf sie nachträglich, ohne sich viel darum zu kümmern, was sie am Tage zuvor lehrte. Auf Grund unumstößlicher Tatsachen und Dokumente wird der Geschichtsschreiber schlussfolgern müssen, dass die sogenannte „linke Opposition“ eine unvergleichlich richtigere Analyse gab von den im Lande sich abrollenden Prozessen und viel genauer den weiteren Entwicklungsgang voraussah.
Dieser Behauptung widerspricht auf den ersten Blick die einfache Tatsache, dass unablässig die Fraktion siegte, die nicht weit vorauszuschauen vermochte, während die viel klarer sehende Gruppe Niederlage auf Niederlage erlitt. Ein derartiger Einwand, der sich von selbst aufdrängt, ist jedoch nur für den überzeugend, der rationalistisch denkt und in der Politik einen logischen Streit oder eine Schachpartie sieht. Indes, politischer Kampf ist seinem Wesen nach Kampf von Interessen und Kräften, nicht von Argumenten. Die Befähigung der Führerschaft ist für den Ausgang des Ringens natürlich durchaus nicht gleichgültig. aber nicht der einzige und letzten Endes auch nicht der entscheidende Faktor. Außerdem erfordert jedes der kämpfenden Lager Führer nach seinem Ebenbild.
Wenn die Februarrevolution Kerenski und Zeretelli an die Macht brachte, so nicht, weil sie „klüger“ oder „geschickter“ gewesen wären als die herrschende zaristische Clique. sondern weil sie wenigstens zeitweilig die revolutionären Volksmassen vertraten, die sich gegen das alte Regime erhoben hatten. Wenn Kerenski Lenin in die Illegalität treiben und andere bolschewistische Führer ins Gefängnis stecken konnte, so nicht, weil er ihnen persönlich überlegen gewesen wäre, sondern weil die Mehrheit der Arbeiter und Soldaten damals noch mit dem patriotischen Kleinbürgertum ging. Kerenskis persönlicher „Vorzug“ – wenn das Wort hier angebracht ist – bestand gerade darin, dass er nicht weiter sah als die überwiegende Mehrheit. Die Bolschewiki besiegten ihrerseits die kleinbürgerliche Demokratie nicht kraft persönlicher Überlegenheit ihrer Führer, sondern kraft einer neuen Verbindung der sozialen Kräfte: dem Proletariat war es endlich gelungen, die unbefriedigte Bauernschaft für sich zu gewinnen und gegen die Bourgeoisie zu mobilisieren.
Die Folgerichtigkeit der Etappen der Großen Französischen Revolution, in ihrem Aufstieg wie in ihrem Niedergang, zeigt nicht minder überzeugend, dass die Stärke der einander ablösenden „Führer“ und „Helden“ vor allem darin lag, dass sie dem Charakter der Klassen und Schichten entsprachen. von denen sie gestützt wurden: nur dies Entsprechen und keineswegs irgendwelche beziehungslosen Vorzüge erlaubten jedem von ihnen, einer bestimmten Geschichtsperiode den Stempel seiner Persönlichkeit aufzudrücken. In der Machtfolge der Mirabeau, Brissot, Robespierre, Barras, Bonaparte liegt eine objektive Gesetzmäßigkeit, die ungleich stärker ist als die besonderen Merkmale der historischen Protagonisten selbst.
Es ist genug bekannt, das bisher jede Revolution nach sich eine Reaktion oder sogar Konterrevolution auslöste, die freilich die Nation nie ganz bis zum Ausgangspunkt zurückwarf dem Volk aber immer den Löwenanteil seiner Eroberungen wieder entriss. Opfer der ersten reaktionären Welle sind in der Regel die Pioniere, Urheber, Initiatoren, die in der Angriffsperiode der Revolution an der Spitze der Massen standen: dagegen treten an die erste Stelle Leute zweiten Kalibers, im Bunde mit gestrigen Feinden der Revolution. Hinter den dramatischen Duellen der „Experten“ auf der offenen politischen Bühne gehen Verschiebungen in den Verhältnissen zwischen den Klassen vor sich und, was nicht weniger wichtig ist, einschneidende Veränderungen in der Psyche der gestern noch revolutionären Massen.
Als Erwiderung auf ratlose Fragen vieler Genossen, wohin denn die Aktivität der bolschewistischen Partei und der Arbeiterklasse geraten, was aus ihrer revolutionären Initiative, Selbstaufopferung und ihrem plebejischen Stolz geworden sei, wieso an die Stelle all dessen soviel Gemeinheit, Feigheit, Kleinmut und Strebertum treten konnte, berief sich Rakowski auf die Umschwünge der französischen Revolution des 18. Jahrhunderts und führte als Beispiel Babeuf an, der sich, als er das Abbayegefängnis verließ, ebenfalls verständnislos fragte, wo denn das heroische Volk der Pariser Vorstädte geblieben sei. Die Revolution ist eine große Verzehrerin menschlicher Energie, individueller wie kollektiver. Die Nerven halten nicht stand, das Bewusstsein reibt sich auf, die Charaktere verschleißen. Die Ereignisse wickeln sich zu schnell ab, als dass ein Zustrom frischer Kräfte den Verlust wettmachen könnte. Hunger, Arbeitslosigkeit, Verderb der revolutionären Kader, Verdrängung der Massen aus der Leitung, all das führte zu einer solchen physischen und moralischen Entkräftung der Pariser Vorstädte, dass sie bis zu einem neuen Aufstand mehr als drei Jahrzehnte brauchten.
Die axiomatische Behauptung der Sowjetliteratur, die Gesetze der bürgerlichen Revolutionen seien auf die proletarische „nicht anwendbar“, entbehren jeden wissenschaftlichen Gehalts. Der proletarische Charakter des Oktoberumsturzes war durch die Weltlage und das besondere innere Kräfteverhältnis bestimmt. Aber die Klassen selbst hatten sich unter den barbarischen Bedingungen des Zarismus und eines zurückgebliebenen Kapitalismus geformt und waren durchaus nicht wie auf besonderen Befehl für die Anforderungen einer sozialistischen Revolution vorbereitet, Vielmehr umgekehrt: gerade weil das in vieler Beziehung noch rückständige russische Proletariat in wenigen Monaten den in der Geschichte unerhörten Sprung von einer halbfeudalen Monarchie zur sozialistischen Diktatur vollbrachte. musste die Reaktion in seinen eigenen Reihen unvermeidlich zu ihrem Recht kommen. Sie wuchs in einer Reihe aufeinanderfolgender Kriege. Äußere Bedingungen und Ereignisse nährten sie um die Wette. Intervention folgte auf Intervention. Vom Westen her kam keine direkte Hilfe. Statt des erhofften Wohlergehens trat bitterste Not auf lange Zeit im Lande die Herrschaft an. Außerdem waren die hervorragendsten Vertreter der Arbeiterklasse entweder im Bürgerkrieg umgekommen. oder sie hatten sich um einige Grade über die Massen erhoben und von ihnen losgelöst. So folgte auf eine beispiellose Anspannung der Kräfte, Hoffnungen und Illusionen eine lange Periode der Müdigkeit, Niedergeschlagenheit und direkter Enttäuschung über die Resultate des Umsturzes. Das Verebben des „plebejischen Stolzes“ machte einer Flut des Kleinmuts und des Strebertums Platz. Auf dieser Welle schwang sich eine neue kommandierende Schicht empor.
Eine nicht geringe Rolle bei der Herausbildung der Bürokratie spielte die Demobilmachung der fünfmillionenköpfigen Roten Armee: die siegreichen Kommandeure besetzten die leitenden Posten in den lokalen Sowjets, in der Wirtschaft, im Schulwesen und führten überall mit Nachdruck das Regime ein, dem die Siege des Bürgerkriegs zu verdanken waren. So wurden die Massen allenthalben allmählich von der faktischen Beteiligung an der Leitung des Landes ausgeschaltet.
Die innere Reaktion im Proletariat erzeugte eine außerordentliche Flut von Hoffnungen und Selbstvertrauen in den kleinbürgerlichen Schichten von Stadt und Land, die durch die NEP zu neuem Leben erwacht waren und immer dreister den Kopf hoben, Die junge Bürokratie, ursprünglich als Agentur des Proletariats entstanden begann sich nun als Schiedsrichter zwischen den Klassen zu fühlen. Ihre Selbständigkeit nahm von Monat zu Monat zu.
In der gleichen Richtung wirkte, und zwar mit großer Kraft, die internationale Lage. Die Sowjetbürokratie wurde um so selbstsicherer, je heftigere Schläge die Weltarbeiterklasse trafen. Zwischen diesen Tatsachen besteht nicht nur ein chronologischer, sondern auch ein ursächlicher Zusammenhang, und zwar in doppelter Richtung: die Bürokratie trug durch ihre Führung zu den Niederlagen bei, und die Niederlagen erleichterten den Aufstieg der Bürokratie. Die Niederwerfung des bulgarischen Aufstandes und der ruhmlose Rückzug der deutschen Arbeiterparteien im Jahre 1923, der Zusammenbruch des estnischen Aufstandsversuchs 1924, die heimtückische Liquidierung des Generalstreiks in England und das unwürdige Verhalten der polnischen Arbeiterparteien bei Pilsudskis Machtübernahme im Jahre 1926, die grässliche Vernichtung der chinesischen Revolution 1927, später die noch fürchterlicheren Niederlage in Deutschland und Österreich – das sind die historischen Katastrophen, die in den Sowjetmassen den Glauben an die Weltrevolution ertöteten und der Bürokratie erlaubten, als einziger rettender Leuchtturm immer höher auf zuragen.
Was die Ursachen der Niederlagen betrifft, die das Weltproletariat in den letzten dreizehn Jahren erlitt, muss der Verfasser auf seine übrigen Arbeiten verweisen, wo er die verheerende Rolle der von der Massen losgelösten und tief konservativen Kremlführung in der revolutionären Bewegung aller Länder aufzudecken suchte. Hier beschäftigt uns vor allem die unbestreitbare und lehrreiche Tatsache, dass die ununterbrochenen Niederlagen der Revolution in Europa und Asien. die die internationale Lage der UdSSR schwächten, die Sowjetbürokratie hingegen außerordentlich kräftigten. Zwei Daten sind besonders denkwürdig in dieser historischen Folge. In der zweiten Hälfte des Jahres 1923 war die Aufmerksamkeit der Sowjetarbeiter leidenschaftlich auf Deutschland gerichtet, wo das Proletariat die Hand nach der Macht auszustrecken schien; der panische Rückzug der deutschen kommunistischen Partei bedeutete für die Arbeitermassen der UdSSR eine bittere Enttäuschung. Die Sowjetbürokratie zog sogleich gegen die „permanente Revolution“ zu Felde und brachte der linken Opposition den ersten schweren Hieb bei. 1926-27 schwoll neue Hoffnung in der Bevölkerung der Sowjetunion: alle Blicke waren diesmal nach Osten gerichtet. wo sich das Drama der chinesischen Revolution abspielte. Die linke Opposition erholte sich von den Schlägen und warb Scharen neuer Anhänger. Ende 1927 erlag die chinesische Revolution unter den Schlägen des Henkers Tschiang Kai-schek, dem die Kominternführung die chinesischen Arbeiter und Bauern buchstäblich ausgeliefert hatte. Eiskalte Enttäuschung griff in den Massen der Sowjetunion um sich. Nach einer wüsten Hetze in Presse und Versammlungen entschloss sich die Bürokratie endlich 1928, Massenverhaftungen unter den Linksoppositionellen vorzunehmen.
Unter dem Banner der Bolschewiki-Leninisten hatten sich freilich Zehntausende revolutionärer Kämpfer gesammelt. Die fortgeschrittenen Arbeiter standen der Opposition zweifelsohne sympathisch gegenüber. Aber diese Sympathie blieb passiv: den Glauben, dass durch neuen Kampf die Lage ernstlich zu ändern sei, hatten die Massen nicht mehr. Unterdessen zeterte die Bürokratie: „Um der internationalen Revolution willen gedenkt die Opposition uns in einem revolutionären Krieg zu verwickeln. Genug der Erschütterungen! Wir haben ein Recht auf Erholung erworben. Wir werden bei uns allein die sozialistische Gesellschaft schaffen. Vertraut auf uns, eure Führer!“ Diese Ruhepredigt schweißte die Militär- und Staatsapparatleute eng zusammen und fand ohne Zweifel bei den müden Arbeitern und besonders bei den Bauernmassen Anklang. Vielleicht ist die Opposition tatsächlich bereit, die Interessen der UdSSR namens der Ideen der „permanenten Revolution“ zu opfern, fragten sie sich. In Wirklichkeit ging der Kampf um die Lebensinteressen des Sowjetstaats. Die falsche Politik der Komintern in Deutschland ermöglichte zehn Jahre später Hitlers Sieg, d.h. das Entstehen drohender Kriegsgefahr im Westen; die nicht weniger falsche Politik in China festigte den japanischen Imperialismus und beschwor die Gefahr im Osten nah herauf, Aber Perioden der Reaktion zeichnen sich meistens durch Mangel an Mut zum Denken aus.
Die Opposition erwies sich als isoliert. Die Bürokratie schmiedete das Eisen, solange es heiß war. Indem die Bürokratie die Verworrenheit und Passivität der Werktätigen ausnutzte, deren rückständigste Schichten gegen die fortgeschrittenen ausspielte, sich immer unverhohlener auf den Kulaken und überhaupt auf den kleinbürgerlichen Verbündeten stützte, zerschlug sie in ein paar Jahren die revolutionäre Vorhut des Proletariats.
Es wäre naiv zu meinen, dass der den Massen unbekannte Stalin plötzlich, mit einem fertigen strategischen Plan versehen, aus den Kulissen hervorgetreten sei. Nein, bevor er seinen Weg aufspürte, spürte die Bürokratie ihn selbst auf. Stalin bot ihr alle nötigen Garantien: Prestige eines alten Bolschewiken, starken Charakter, engen Horizont und unzerreißbare Bande mit dem Apparat, der einzigen Quelle seines eigenen Einflusses. Der Erfolg, der ihm zuteil wurde, kam für ihn selbst anfangs ganz unerwartet. Das war der freundliche Widerhall der neuen herrschenden Schicht, die sich von den alten Grundsätzen und von der Massenkontrolle zu befreien trachtete und für ihre internen Angelegenheiten einen verlässlichen Schiedsrichter brauchte. Im Hinblick auf die Massen und die Revolutionsereignisse eine zweitrangige Figur, offenbarte sich Stalin als unumstrittener Führer der thermidorianischen Bürokratie, als Erster in ihrer Mitte.
Bald kamen bei der herrschenden Schicht die eigenen Ideen, Gefühle und, was noch wichtiger ist, ihre Interessen zum Vorschein. Die überwiegende Mehrheit der alten Generation der heutigen Bürokratie stand während der Oktoberrevolution auf der anderen Seite der Barrikade (man nehme zum Beispiel nur die Sowjetgesandten: Trojanowski, Maiski, Potemkin, Suriz, Tschintschuk usw.), oder hielt sich bestenfalls abseits vom Kampf. Diejenigen Führer von heute, die sich in den Oktobertagen im Lager der Bolschewiki befanden, spielten in ihrer Mehrzahl keine irgendwie bedeutende Rolle. Was die jungen Bürokraten betrifft, so sind sie von den alten ausgewählt und erzogen, nicht selten sind es ihre eigenen Sprösslinge. Diese Leute hätten die Oktoberrevolution nicht vollbringen können. Aber sie erwiesen sich als am besten geeignet, sie auszubeuten.
Persönliche Momente spielten bei dieser Folge zweier historischer Kapitel natürlich auch mit. So haben Lenins Krankheit und Tod den Ausgang zweifellos beschleunigt. Hätte Lenin länger gelebt, so wäre das Vordrängen der bürokratischen Machtfülle zumindest in den ersten Jahren langsamer erfolgt. Doch schon 1926 sagte Krupskaja im Kreise der Linksoppositionellen: „Lebte Iljitsch, säße er bestimmt schon im Gefängnis“. Lenins Befürchtungen und warnende Voraussagen waren ihr damals noch frisch in Erinnerung, und sie machte sich durchaus keine Illusionen über seine persönliche Allmacht gegen widrige historische Winde und Strömungen.
Die Bürokratie hat nicht nur die linke Opposition besiegt. Sie besiegte die bolschewistische Partei. Sie siegte über das Programm Lenins, der die Hauptgefahr in der Umwandlung der Staatsorgane „aus Dienern der Gesellschaft in Herren der Gesellschaft“ erblickte. Sie siegte über all diese Feinde – die Opposition, die Partei und Lenin – nicht mit Ideen und Argumenten. sondern durch ihr eigenes soziales Schwergewicht. Das bleierne Hinterteil der Bürokratie wog schwerer als der Kopf der Revolution. Das ist des Rätsels Lösung in der Frage des Sowjetthermidors.
Der Oktobersieg war vorbereitet und erfochten durch die bolschewistische Partei. Sie war es auch, die den Sowjetstaat baute und ihm ein festes Knochengerüst gab. Die Entartung der Partei wurde Ursache und Wirkung der Bürokratisierung des Staats. Es ist notwendig, wenigstens in knappen Zügen zu zeigen, wie dies geschah.
Das innere Regime der bolschewistischen Partei stand im Zeichen der Methoden des demokratischen Zentralismus. Die Verbindung dieser beiden Begriffe hat gar nichts Widersprüchliches an sich. Die Partei wacht scharf darüber, dass ihre Grenzen stets fest umrissen blieben, aber auch, dass diejenigen, die in ihren Grenzbereich getreten waren, wirklich das Recht genossen, die Richtung der Parteipolitik mitzubestimmen. Kritikfreiheit und Ideenkampf bildeten den unverrückbaren Inhalt der Parteidemokratie. Die heutige Lehre, Bolschewismus vertrage sich nicht mit Fraktionen, stellt einen Mythos aus der Verfallsepoche dar. In Wirklichkeit ist die Geschichte des Bolschewismus eine Geschichte von Fraktionskämpfen. Wie könnte eine echte revolutionäre Organisation, die sich zum Ziel setzt, die Welt aus den Angeln zu heben, und um ihr Banner verwegene Verneiner, Aufrührer und Kämpfer schart, auch leben und sich entwickeln ohne Ringen der Ideen, ohne Gruppierungen und zeitweilige Fraktionsbildungen? Durch ihren weiten Blick gelang es der bolschewistischen Führung oft, die Zusammenstöße zu mildern und die Fristen des Fraktionskampfes abzukürzen, aber nicht mehr. Auf diese ständig siedende demokratische Grundlage stützte sich das Zentralkomitee, aus ihr schöpfte es die Kühnheit zur Entscheidung und zum Befehl. Dass die Leitung in allen kritischen Etappen eindeutig im Recht war, verschaffte ihr hohe Autorität, dies kostbare moralische Kapital des Zentralismus.
Das Regime der bolschewistischen Partei, besonders vor dem Machtantritt, war somit das direkte Gegenteil von dem Regime der heutigen Kominternsektionen mit ihren von oben ernannten „Führern“, die auf Kommando Kehrt machen, mit ihrem unkontrollierten Apparat, hochnäsig gegenüber der Basis und kriecherisch vor dem Kreml. Aber auch noch in den ersten Jahren nach der Machteroberung, als die Partei bereits vom administrativen Rost befallen war, hätte jeder Bolschewik, Stalin nicht ausgenommen. denjenigen einen bösartigen Verleumder geziehen, der ihm das Bild, das die Partei in zehn bis fünfzehn Jahren bieten sollte, an die Wand gemalt hätte!
Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit Lenins und seiner Mitarbeiter stand unablässig die Sorge um die Bewahrung der bolschewistischen Reihen vor den mit der Machtausübung verbundenen Übeln. Jedoch das dichte Nebeneinander, teilweise direkte Verschmelzen von Partei- und Staatsapparat fügte bereits in den ersten Jahren der Freiheit und Elastizität des Parteiregimes sichtlichen Schaden zu. Die Demokratie schrumpfte in dem Masse, wie die Schwierigkeiten wuchsen. Ursprünglich wünschte und hoffte die Partei, im Rahmen der Sowjets die Freiheit des politischen Kampfes beizuhalten. Der Bürgerkrieg nahm an diesen Absichten eine harte Korrektur vor. Die Oppositionsparteien wurden eine nach der anderen verboten. In dieser Maßnahme, die deutlich dem Geist der Sowjetdemokratie widersprach, sahen die Führer des Bolschewismus nicht ein Prinzip, sondern einen episodischen Akt der Selbstverteidigung.
Das schnelle Wachstum der regierenden Partei, bei der Neuheit und Grandiosität der Aufgaben, erzeugte unvermeidlich innere Meinungsverschiedenheiten. Die verborgenen oppositionellen Strömungen im Lande übten über verschiedene Kanäle ihren Druck aus auf die einzige legale politische Organisation und verschärften den Fraktionskampf. Gegen Ende des Bürgerkriegs nahm er so scharfe Formen an, dass er die Staatsmacht zu erschüttern drohte, Im März 1921, in den Tagen des Kronstädter Aufstands, der eine nicht geringe Anzahl Bolschewiki mit sich gerissen hatte, sah sich der 15. Parteikongress gezwungen, zum Verbot der Fraktionen zu greifen, d.h. zur Übertragung des politischen Regimes im Staat auf das innere Leben der regierenden Partei. Das Fraktionsverbot war ebenfalls nur als außerordentliche Maßregel gedacht, die bei erster ernstlicher Besserung der Lage hinfällig werden sollte. Gleichzeitig wandte das Zentralkomitee das neue Gesetz mit größter Vorsicht an, vor allen Dingen darum besorgt, dass es nicht zur Erstickung des inneren Lebens der Partei führe.
Allein, was anfänglich nur als erzwungener Tribut an die schwierigen Umstände gegolten hatte, war ganz nach dem Geschmack der Bürokratie, die das innere Leben der Partei ausschließlich vorn Standpunkt der Bequemlichkeit für die Leitung zu betrachten begann. Bereits 1922, während einer kurzen Besserung seines Gesundheitszustands, erschrak Lenin über das bedrohliche Anwachsen des Bürokratismus und bereitete einen Kampf gegen die Stalinfraktion vor, die zur Achse des Parteiapparats geworden war, bevor sie auch den Staatsapparat beherrschte. Ein zweiter Schlaganfall und der Tod erlaubten ihm nicht mehr, sich mit der inneren Reaktion zu messen.
Alle Bemühungen Stalins, mit dem in dieser Periode Sinowjew und Kamenjew noch Arm in Arm gingen, sind von nun an darauf gerichtet, den Parteiapparat der Kontrolle durch die einfachen Parteimitglieder zu entziehen. In diesem Kampf um die „Standhaftigkeit“ des Zentralkomitees erwies sich Stalin konsequenter und selbstsicherer als seine Verbündeten. Er brauchte sich nicht von den internationalen Problemen abkehren: er hat sich mit ihnen nie befasst. Der kleinbürgerliche Gesichtskreis der neuen herrschenden Schicht war auch der seine. Er war zutiefst überzeugt, dass die Aufgabe der Erbauung des Sozialismus nationaler und administrativer Natur sei. Zur Komintern verhielt er sich wie zu einem unvermeidlichen Übel, dass nach Möglichkeit zu den Zwecken der Außenpolitik auszunutzen ist. Die eigene Partei hatte in seinen Augen lediglich als gehorsame Stütze für den Apparat einen Wert.
Gleichzeitig mit der Theorie vom Sozialismus in einem Lande wurde für die Bürokratie die Theorie in Umlauf gesetzt, dass im Bolschewismus das Zentralkomitee alles, und die Partei nichts sei. Die zweite Theorie wurde jedenfalls mit mehr Erfolg verwirklicht als die erste. Sich Lenins Tod zunutze machend, rief die regierende Gruppe zum „Lenin-Aufgebot“. Die Tore der Partei, sonst so sorgfältig gehütet, wurden jetzt sperrangelweit geöffnet: Arbeiter, Angestellte, Beamte strömten in Massen herein. Die politische Absicht war, die revolutionäre Vorhut aufzulösen in menschliches Rohmaterial ohne Erfahrung, ohne Selbständigkeit, aber von altersher gewohnt, sich der Obrigkeit zu unterwerfen. Das Vorhaben gelang. Indem das „Lenin-Aufgebot“ die Bürokratie von der Kontrolle durch die proletarische Vorhut befreite, versetzte es Lenins Partei den Todesstoß. Der Apparat hatte sich die notwendige Unabhängigkeit erkämpft. Der demokratische Zentralismus machte bürokratischem Zentralismus Platz. Der Parteiapparat selbst wird nunmehr von oben bis unten radikal umgekrempelt. Als Haupttugend des Bolschewiken gilt der Gehorsam. Unter der Fahne des Kampfes gegen die Opposition findet eine Ersetzung der Revolutionäre durch Beamte statt. Die Geschichte der bolschewistischen Partei wird zur Geschichte ihrer raschen Entartung.
Der politische Sinn des sich abspielenden Kampfes wurde für viele durch den Umstand verdunkelt, dass die Führer aller drei Gruppierungen, der linken, des Zentrums und der rechten, ein und demselben Kremlstab, dem Politbüro angehörten: oberflächlichen Geistern schien es sich bloß um persönliche Nebenbuhlerschaft, um einen Kampf um die „Nachfolge“ Lenins zu handeln. Aber unter den Verhältnissen einer eisernen Diktatur konnten die sozialen Gegensätze in der ersten Zeit im Wesen gar nicht anders in Erscheinung treten als durch die Institutionen der regierenden Partei. Viele Thermidorianer waren zu ihrer Zeit aus den Jakobinern hervorgegangen, denen sich auch Bonaparte in seinen Jugendjahren angeschlossen hatte: unter den ehemaligen Jakobinern warb der erste Konsul und Kaiser der Franzosen in der Folgezeit seine treuesten Diener. Die Zeiten ändern sich, und mit ihnen die Jakobiner, die Jakobiner des 20. Jahrhunderts nicht ausgenommen.
Von dem Politbüro zu Lenins Zeiten ist heute nur Stalin allein übrig: zwei Mitglieder, Sinowjew und Kamenjew, engste Mitarbeiter Lenins in langen Emigrationsjahren, büßen mit zehn Jahren Kerker Verbrechen, die sie nie begangen haben; drei andere Mitglieder, Rykow. Bucharin und Tomski sind vollständig von der Führung ausgeschaltet, bekleiden aber zur Belohnung für ihr demütiges Verhalten zweitrangige Posten: der Verfasser dieser Zeilen schließlich befindet sich in der Emigration. In Acht steht auch Lenins Witwe Krupskaja, die es trotz aller Bemühungen nicht fertig gebracht hat, sich restlos dem Thermidor anzupassen.
Die Mitglieder des heutigen Politbüros nahmen in der Geschichte der bolschewistischen Partei zweitrangige Stellen ein. Wenn in den ersten Jahren der Revolution jemand ihren künftigen Aufstieg vorhergesagt hätte, sie selbst würden sich darüber als erste gewundert haben, und in dieser Verwunderung hätte keine falsche Bescheidenheit gelegen. Um so unerbittlicher waltet heute die Regel, dass das Politbüro immer recht hat, und jedenfalls niemand gegen das Politbüro recht haben kann. Aber auch das Politbüro selber kann nicht recht haben gegen Stalin, der sich nicht irren und folglich nicht gegen sich selbst recht haben kann.
Die Forderung nach Parteidemokratie war allzeit eine ebenso beharrliche wie hoffnungslose Losung aller oppositionellen Gruppierungen. Die uns bekannte Plattform der linken Opposition forderte 1927, in das Strafgesetzbuch einen besonderen Paragraphen einzufügen, der „jede direkte oder indirekte, offene oder verdeckte Verfolgung eines Arbeiters wegen Äußerung von Kritik ... als schweres Staatsverbrechen bestraft“ Statt dessen fand man im Strafgesetzbuch einen Paragraphen gegen die linke Opposition selbst.
Von der Parteidemokratie blieben nur die Erinnerungen im Gedächtnis der älteren Generation. Mit ihr versank die Demokratie der Sowjets, Gewerkschaften, Genossenschaften, Kultur- und Sportorganisationen in die Vergangenheit. Über alles und alle herrscht uneingeschränkt die Hierarchie der Parteisekretäre. Das Regime wurde „totalitär“ schon mehrere Jahre, bevor dies Wort aus Deutschland überkam, „Mit Hilfe demoralisierender Methoden, die denkende Kommunisten in Maschinen verwandeln, Willen, Charakter, menschliche Würde ertöten“, schrieb Rakowski 1928 „konnte die Spitze sich in eine unabsetzbare und unantastbare Oligarchie zu verwandeln und sich selbst an die Stelle der Klasse und der Partei zu setzen“. Seitdem diese entrüsteten Zeilen geschrieben wurden, ist die Entartung noch unsäglich weiter fortgeschritten. Die GPU wurde der ausschlaggebende Faktor im inneren Leben der Partei. Wenn Molotow im März 1936 sich vor einem französischen Journalisten rühmen konnte, dass die herrschende Partei keine Fraktionskämpfe mehr kennt, so nur dank der Tatsache, dass die Meinungsverschiedenheiten heutzutage durch automatisches Eingreifen der politischen Polizei entschieden werden. Die alte bolschewistische Partei ist tot, und keine Kraft wird sie wieder zum Leben erwecken.
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Parallel zur politischen Entartung der Partei verlief eine moralische Verfaulung des unkontrollierten Apparats. Das Wort „Sowbur“ – Sowjetbourgeois – als Bezeichnung für den privilegierten Würdenträger ging schon sehr früh in den Wortschatz der Arbeiter ein. Seit dem Übergang zur NEP gewannen die bürgerlichen Tendenzen stark an Boden. Auf dem 11. Parteikongress im März 1922 warnte Lenin vor der Gefahr der Entartung der regierenden Schicht. Es geschah nicht selten in der Geschichte, sagte er, dass der Sieger die Kultur des Besiegten übernahm, wenn dieser auf einem höheren Niveau stand. Die Kultur der russischen Bourgeoisie und Bürokratie war freilich armselig. Aber ach, die neue herrschende Schicht steht selbst dieser Kultur oft nach. „...4.700 verantwortliche Kommunisten“ lenken in Moskau die Staatsmaschine. „...wer leitet da und wer wird geleitet? Ich bezweifle sehr, ob man sagen könnte, die Kommunisten ... leiten...“ Auf den weiteren Kongressen konnte Lenin schon nicht mehr auftreten. Doch all sein Denken in den letzten Monaten seines aktiven Lebens war darauf gerichtet, die Arbeiter gegen die Bedrückung, Willkür und Verfaulung der Bürokratie zu warnen und zu wappnen. Dabei war es ihm nur gegeben, die ersten Krankheitserscheinungen zu beobachten.
Ch. Rakowski, ehemaliger Vorsitzender des Rats der Volkskommissare in der Ukraine, später Sowjetgesandter in London und Paris, sandte 1928, als er sich bereits in Verbannung befand, den Freunden eine kleine Untersuchung über die Sowjetbürokratie, die wir weiter oben einige Male zitiert haben, weil sie jetzt noch das beste bleibt, was zu dieser Frage geschrieben wurde.
„In Lenins und unser aller Vorstellungen“, schreibt Rakowski, „bestand die Aufgabe der Parteiführung gerade darin, die Partei sowohl wie die Arbeiterklasse vor der zersetzenden Wirkung der Privilegien, der Vorteile und Vergünstigungen zu bewahren, die die Macht durch ihre Berührung mit den Resten des alten Adels und des Bürgertums, durch den zersetzenden Einfluss der NEP und die Verführungen durch bourgeoise Sitten und ihre Ideologie mit sich bringt ... Man muss offen, laut und deutlich sagen, dass der Parteiapparat diese seine Aufgabe nicht erfüllt hat, dass er sich für diese seine zweifache Schutz- und Erzieherrolle völlig unfähig gezeigt hat, dass er durchgefallen, Bankrott ist.“
Es ist wahr, gebrochen durch die bürokratischen Repressalien, hat Rakowski selbst sein kritisches Urteil in der Folge verleugnet. Aber auch der siebzig jährige Galilei sah sich in den Krallen der Heiligen Inquisition gezwungen, das kopernikanische System abzuschwören. was die Erde jedoch nicht hinderte, sich auch weiter um ihre Achse zu drehen. Wir glauben den Reueerklärungen des sechzigjährigen Rakowski nicht, denn er selbst hat uns mehr als einmal vernichtende Analysen solcher Reuekundgebungen gegeben. Was seine politische Kritik betrifft, so fand sie in den Tatsachen der objektiven Entwicklung eine viel sicherere Stütze als in der subjektiven Standhaftigkeit ihres Autors.
Die Machteroberung verändert nicht nur das Verhältnis des Proletariats zu den anderen Klassen, sondern auch seine eigene innere Struktur. Die Machtausübung wird Spezialität einer bestimmten sozialen Gruppierung, die mit um so größerer Ungeduld ihre eigene „soziale Frage“ zu lösen bestrebt ist, je höher ihre Meinung von ihrer Mission ist.
„Im proletarischen Staat, in dem wo kapitalistische Akkumulation den Mitgliedern der herrschenden Partei untersagt ist, erscheint die genannte Differenzierung zunächst eine funktionale, verwandelt sich aber dann in eine soziale. Ich sage nicht: klassenmäßige, sondern soziale Differenzierung“ Rakowski erklärt: „...die soziale Lage eines Kommunisten, der über ein Automobil, eine schöne Wohnung verfügt, geregelten Urlaub hat, und das Parteimaximum erhält, sich von der Lage dessen unterscheidet, der ebenso Kommunist ist, aber in den Kohlengruben arbeitet, wo er monatlich 50-60 Rubel verdient“.
Rakowski zählt die Ursachen für die Zersetzung der Jakobiner an der Macht auf: Jagd nach Reichtum, Beteiligung an Lieferungen. Aufträgen usw., und führt dabei eine interessante Bemerkung Babeufs an, dass zur Entartung der neuen herrschenden Schicht nicht wenig die ehemaligen Adelsfrauen beitrugen. auf die die Jakobiner sehr versessen waren. „Was tut ihr, kleinmütige Plebejer?“ – ruft Babeuf aus – „heute umarmen sie euch, morgen werden sie euch erwürgen“. Eine Statistik der Ehefrauen der herrschenden Schicht in der Sowjetunion würde ein ähnliches Bild ergeben. Der bekannte Sowjetjournalist Sosnowski wies auf die besondere Rolle des „Auto-Harem-Faktors“ in der Sittengestaltung der Sowjetbürokratie hin. Freilich hat nach Rakowski auch Sosnowski seither bereut und ist aus Sibirien zurückgekehrt. Aber die Sitten der Bürokratie sind davon nicht besser geworden. Im Gegenteil, seine Reue ist selber ein Zeichen für die fortschreitende Demoralisierung.
Gerade die alten Artikel Sosnowskis, die in Manuskriptform von Hand zu Hand gingen, sind voll von unvergesslichen Episoden aus dem Leben der neuen herrschenden Schicht, die anschaulich zeigen, in wie hohem Masse die Sieger sich die Sitten der Besiegten zu eigen gemacht haben. Um jedoch nicht in vergangene Jahre zurückzugreifen – Sosnowski hat 1934 die Peitsche endgültig mit der Leier vertauscht – beschränken wir uns auf ganz frische Beispiele aus der Sowjetpresse und wählen dabei nicht Missbräuche und sogenannte „Exzesse“, sondern vielmehr alltägliche, von der offiziellen öffentlichen Meinung legalisierte Erscheinungen.
Der Direktor einer Moskauer Fabrik, ein angesehener Kommunist, rühmt sich in der Prawda des kulturellen Hochstands in dem von ihm geleiteten Betrieb. Ein Maschinist ruft bei ihm an: „Wie befehlen Sie, soll ich den Martinofen abstellen oder noch warten?“ ... Ich antworte: „Warte...“. Der Maschinist wendet sich an den Direktor äußerst ehrerbietig: „Wie befehlen Sie?“, während der Direktor ihm mit Du antwortet. Und diesen unanständigen Dialog, der in keinem kapitalistischen Kulturland möglich wäre, erzählt der Direktor selbst in den Spalten der Prawda als etwas durchaus Normales! Der Redakteur wendet nichts ein, denn er bemerkt es nicht; die Leser protestieren nicht, da sie es gewohnt sind. Wundern wir uns darum nicht: auf den feierlichen Tagungen im Kreml reden die „Führer“ und die Volkskommissare die ihnen unterstellten Fabrikdirektoren, Kolchosvorsitzenden, Meister und Arbeiterinnen, die zur Ordensverleihung speziell vorgeladen sind, mit Du an. Wie sollte man da nicht daran erinnern, dass eine der populärsten revolutionären Losungen im zaristischen Russland lautete: Abschaffung des Duzens der Untergebenen durch die Vorgesetzten!
Die in ihrer herrschaftlichen Ungeniertheit verblüffenden Dialoge der Kremlmachthaber mit dem „Volk“ bezeugen fehlerlos, dass trotz Oktoberumsturz, trotz Nationalisierung der Produktionsmittel, trotz Kollektivierung und „Vernichtung des Kulakentums als Klasse“ die Beziehungen zwischen den Menschen, selbst an der Spitze der Sowjetpyramide, nicht nur noch nicht die Höhen des Sozialismus erreicht haben, sondern in vielem noch dem kultivierten Kapitalismus nachstehen. In den letzten Jahren wurde auf diesem überaus wichtigen Gebiet ein gewaltiger Schritt rückwärts getan. Die Quelle dieser Rückfälle in die echt russische Barbarei ist ohne Zweifel der Sowjetthermidor. der dem wenig kultivierten Bürokraten völlige Unabhängigkeit und Kontrolllosigkeit brachte, den Massen aber das nur zu gut bekannte Gebot: gehorchen und schweigen.
Uns liegt der Gedanke fern, die Abstraktion der Diktatur der Abstraktion der Demokratie gegenüberzustellen und ihre Eigenschaften auf der Wage der reinen Vernunft zu wägen. Alles ist relativ auf dieser Welt, wo nur Veränderung beständig ist. Die Diktatur der bolschewistischen Partei war eines der mächtigsten Werkzeuge des Fortschritts in der Geschichte. Allein, auch hier gelten die Worte des Dichters: „Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage“. Das Verbot der Oppositionsparteien zog das Verbot der Fraktionen nach sich; das Fraktionsverbot endete mit dem Verbot, anders zu denken als der unfehlbare Führer. Der Polizeimonolithismus der Partei brachte die bürokratische Straflosigkeit mit sich, die zur Quelle aller Formen der Zügellosigkeit und Zersetzung wurde.
Den Sowjetthermidor definierten wir als Sieg der Bürokratie über die Massen. Wir haben die historischen Bedingungen dieses Sieges aufzudecken versucht. Die revolutionäre Vorhut des Proletariats war teils vom Verwaltungsapparat aufgesogen und langsam demoralisiert worden, teils im Bürgerkrieg umgekommen, teils beiseitegeschleudert und zermalmt. Die müden und enttäuschten Massen verhielten sich gleichgültig zu dem, was an der Spitze geschah. Diese Umstände, wie bedeutungsvoll sie an sich auch sein mögen, sind jedoch ganz unzulänglich, um zu erklären, warum es der Bürokratie gelang. sich über die Gesellschaft aufzuschwingen und auf solange Zeit deren Schicksal in die Hand zu nehmen: ihr eigener Wille würde jedenfalls dafür nicht ausreichen; das Entstehen einer neuen herrschenden Schicht muss tieferliegende soziale Ursachen haben.
Zum Sieg der Thermidorianer über die Jakobiner im 18. Jahrhundert trugen ebenfalls Ermüdung der Massen und Demoralisierung der leitenden Kader bei. Doch hinter diesen eigentlich konjunkturellen Erscheinungen vollzog sich ein tieferer organischer Prozess. Die Jakobiner stützten sich auf die von der großen Welle empor getragenen unteren Schichten des Kleinbürgertums; indessen musste die Revolution des 18. Jahrhunderts, entsprechend dem Entwicklungsgang der Produktivkräfte, letzten Endes zur politischen Herrschaft der Großbourgeoisie führen. Der Thermidor war nur eine der Etappen dieses unabwendbaren Prozesses. Welche soziale Notwendigkeit aber kommt im Sowjetthermidor zum Ausdruck?
In einem der vorhergehenden Kapitel versuchten wir bereits, eine vorläufige Antwort auf die Frage zu geben, warum der Gendarm wieder triumphierte. Wir müssen nunmehr in der Analyse der Bedingungen des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus und der Rolle des Staates in diesem Prozess fortfahren. Stellen wir nochmals die theoretischen Voraussichten der Wirklichkeit gegenüber. „Es ist immer noch notwendig die der Bourgeoisie und ihren Widerstand niederzuhalten“, schrieb Lenin 1917 bezüglich der Periode, die sogleich nach der Machtergreifung einsetzen soll, „...Aber das unterdrückende Organ ist hier schon die Mehrheit und nicht, wie dies bisher immer ... der Fall war, eine Minderheit der Bevölkerung ... In diesem Sinne beginnt der Staat abzusterben.“ Worin äußert sich das Absterben? Vor allem darin, dass die Unterdrückungsfunktionen statt durch „besondere Institutionen einer bevorzugten Minderheit (privilegiertes Beamtentum, Offizierskorps des stehenden Heeres)“ von der „Mehrheit selbst unmittelbar“ ausgeübt werden können. Weiter folgt bei Lenin eine in ihrer logischen Ableitung unbestreitbare These: „Je mehr die Funktionen der Staatsmacht vom gesamten Volk ausgeübt werden, um so geringer wird das Bedürfnis nach dieser Macht.“ Die Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln beseitigt die Hauptaufgabe des Staates, wie er geschichtlich entstand: den Schutz der Besitzvorrechte der Minderheit gegen die überwiegende Mehrheit.
Das Absterben des Staates beginnt nach Lenin bereits am Tage nach der Expropriierung der Expropriateure, d.h. noch bevor das neue Regime an seine wirtschaftlichen und kulturellen Aufgaben würde herangehen können. Jeder Fortschritt auf dem Wege der Lösung dieser Aufgaben bedeutet somit eine neue Etappe in der Liquidierung des Staates, seiner Auflösung in der sozialistischen Gesellschaft. Der Grad dieser Auflösung ist das beste Merkmal für die Tiefe und das Gelingen des sozialistischen Aufbaus. Man kann etwa folgendes soziologische Theorem aufstellen: die Stärke des von den Massen im Arbeiterstaat ausgeübten Zwangs ist direkt proportional zur Stärke der Ausbeutertendenzen oder der Gefahr einer Wiederherstellung des Kapitalismus und umgekehrt proportional zur Stärke der gesellschaftlichen Solidarität und der gemeinsamen Hingebung an das neue Regime. In der Bürokratie aber, d.h. dem „privilegierten Beamtentum, den Befehlshabern des stehenden Heeres“ äußert sich eine besondere Art Zwang, wie sie die Massen nicht ausüben können oder wollen, d.h. ein Zwang, der so oder so gegen sie selbst gerichtet ist.
Wenn die demokratischen Sowjets bis auf diesen Tag ihre ursprüngliche Kraft und Unabhängigkeit bewahrt hätten, aber gezwungen gewesen wären, gleichzeitig zu Repressalien und Zwang in demselben Masse Zuflucht zu nehmen wie in den ersten Jahren, dieser Umstand würde an sich allein schon ernste Unruhe hervorrufen können. Wie groß muss da erst die Besorgnis sein angesichts der Tatsache, dass die Massensowjets endgültig von der Bildfläche verschwanden, und die Zwangsfunktionen an Stalin, Jagoda & Co. übergingen. Und was für ein Zwang! Vor allen Dingen müssen wir uns fragen: welche soziale Ursache steht hinter dieser Zählebigkeit des Staats und insbesondere hinter seiner Verwandlung in einen Polizeistaat? Die Bedeutung dieser Frage ist nur zu klar ersichtlich: je nachdem wie die Antwort ausfällt, müssen wir entweder unsere traditionellen Anschauungen von der sozialistischen Gesellschaft überhaupt radikal ändern, oder ebenso radikal die offizielle Beurteilung der UdSSR ablehnen.
Greifen wir aus einer der letzten Nummern einer Moskauer Zeitung die stereotype Charakteristik des heutigen Sowjetregimes heraus, eine von denen, die im Lande tagaus tagein nachgebetet und von den Schulkindern auswendig gelernt werden:
„In der UdSSR sind die Schmarotzerklassen der Kapitalisten, Großgrundbesitzer, Kulaken endgültig liquidiert, und damit ist es mit der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen auf immerdar und ein für alle Mal aus. Die gesamte Volkswirtschaft ist eine sozialistische geworden, und die wachsende Stachanowbewegung bereitet die Bedingungen für den Übergang vom Sozialismus zum Kommunismus vor“. (Prawda, 4. April 1936).
Die Weltpresse der Komintern sagt in dieser Beziehung selbstverständlich nichts anderes. Wenn es aber mit der Ausbeutung „auf immerdar aus“ ist, wenn das Land wirklich sich auf dem Weg vom Sozialismus, d.h. vom unteren Stadium des Kommunismus, zu seinem höheren Stadium befindet, so bleibt der Gesellschaft nichts anderes mehr zu tun, als endlich die Zwangsjacke des Staats abzustreifen. Staat dessen – der Gedanke dieses Kontrastes ist kaum zu fassen! – wurde der Staat der Sowjets ein totalitär-bürokratischer Staat.
Derselbe verhängnisvolle Widerspruch lässt sich am Schicksal der Partei veranschaulichen. Hier ist die Frage etwa so zu formulieren: Warum es in den Jahren 1917-1921, als die alten herrschenden Klassen noch mit der Waffe in der Hand kämpften, als die Imperialisten der ganzen Welt sie aktiv unterstützten, als das bewaffnete Kulakentum die Armee und die Versorgung des Landes sabotierte, warum war es damals möglich, in der Partei offen und ohne Furcht die brennendsten Fragen der Politik zu debattieren? Warum ist jetzt. nach Beendigung der Intervention, nach der Vernichtung der Ausbeuterklassen, nach den unbestreitbaren Erfolgen der Industrialisierung, nach der Kollektivierung der überwältigenden Mehrheit der Bauernschaft, nicht das geringste Wort der Kritik an der unabsetzbaren Führung erlaubt? Warum wird jeder beliebige Bolschewik, der im Einklang mit den Statuten die Einberufung eines Parteikongresses forderte, unverzüglich ausgeschlossen, jeder beliebige Bürger, der laut seinen Zweifel an Stalins Unfehlbarkeit äußerte, fast ebenso wie ein Teilnehmer an einer terroristischen Verschwörung verurteilt? Weshalb diese furchtbare, ungeheuerliche, unerträgliche Gewalt der Repression und des Polizeiapparats?
Die Theorie ist kein Wechsel, den man der Wirklichkeit in jedem beliebigen Moment zur Einlösung präsentieren könnte. Wenn die Theorie sich geirrt hat, muss man sie ändern oder ihre Lücken ausfüllen. Man muss die realen gesellschaftlichen Kräfte bloßlegen, die den Widerspruch zwischen der Sowjetwirklichkeit und der traditionellen marxistischen Konzeption erzeugten. Auf jeden Fall darf man nicht im Finstern tappen und rituelle Phrasen leiern, die vielleicht dem Prestige der Führer nützlich sind, der lebendigen Wirklichkeit aber ins Gesicht schlagen. Wir werden das sogleich an einem überzeugenden Beispiel sehen.
In seinem Bericht auf der Tagung des Zentralexekutivkomitees vom Januar 1936 erklärte der Vorsitzende des Rats der Volkskommissare, Molotow: „Die Volkswirtschaft des Landes ist sozialistisch geworden (Beifall). In diesem Sinne (?) haben wir die Aufgabe der Liquidierung der Klassen gelöst (Beifall)“. Jedoch, aus der Vergangenheit blieben noch „uns ihrer Natur gemäß feindliche Elemente“ übrig, Splitter der früher herrschenden Klassen. Außerdem entdeckt man unter den Kolchosmitgliedern, Staatsangestellten und zuweilen auch den Arbeitern „Schieberchen“, „Raffer von Kolchosen- und Staatsgut“, „sowjetfeindliche Klatschbasen“ usw. Woraus sich denn die Notwendigkeit weiterer Festigung der Diktatur ergebe. Engels zum Trotz soll der Arbeiterstaat nicht „einschlafen“, sondern im Gegenteil immer wachsamer werden.
Das Bild, welches das Oberhaupt der Sowjetregierung entwirft, wäre im höchsten Grade beruhigend, wenn es nicht so mörderisch widerspruchsvoll wäre. Im Lande hat der Sozialismus endgültig die Herrschaft angetreten: „In diesem Sinne“ sind die Klassen vernichtet (wenn sie „in diesem Sinne“ vernichtet sind, sind sie es folglich auch in jedem anderen). Freilich wird die soziale Harmonie hie und da durch Trümmer und Splitter der Vergangenheit gestört. Man kann doch aber nicht annehmen, dass vereinzelte Schwärmer, die, der Macht und des Eigentums beraubt, von der Wiederherstellung des Kapitalismus träumen, zusammen mit „Schieberchen“ (nicht einmal richtige Schieber!) und „Klatschbasen“ imstande seien, die klassenlose Gesellschaft zu stürzen. Alles steht scheinbar zum Besten. Wozu dann aber trotz alledem die eiserne Diktatur der Bürokratie?
Die reaktionären Schwärmer, sollte man meinen, sterben allmählich aus. Mit „Schieberchen“ und „Klatschbasen“ könnten auch erzdemokratische Sowjets spielend fertig werden.
„Wir sind keine Utopisten“, entgegnete Lenin 1917 den bürgerlichen und reformistischen Theoretikern des bürokratischen Staates, „und leugnen durchaus nicht die Möglichkeit und Unvermeidlichkeit von Ausschreitungen einzelner Personen und ebenso wenig die Notwendigkeit, solche Ausschreitungen zu unterdrücken. Aber ... bedarf es dazu keiner besonderen Maschine, keines besonderen Unterdrückungsapparates; das wird das bewaffnete Volk selber tun mit der gleichen Selbstverständlichkeit bewerkstelligen, mit der eine beliebige Gruppe zivilisierter Menschen sogar in der heutigen Gesellschaft Raufende auseinander bringt oder eine Frau vor Gewalt schützt“.
Diese Worte klingen, als hätte ihr Schreiber speziell die Einwände eines seiner Nachfolger auf dem Posten des Regierungschefs vor-ausgesehen. Lenin wird in den Volksschulen der UdSSR gelehrt, aber offenbar nicht im Sowjet der Volkskommissare. Anders lässt sich Molotows Entschiedenheit, mit der er unbedenklich just zu den Argumenten greift, gegen die Lenin seine scharf geschliffene Waffe richtete, nicht erklären. Welch schreiender Widerspruch zwischen dem Gründer und den Epigonen! Wo Lenin meinte, selbst die Liquidierung der Ausbeuterklassen könne ohne bürokratischen Apparat geschehen, findet Molotow zur Erklärung, warum nach der Liquidierung der Klassen eine bürokratische Maschine die Selbsttätigkeit des Volkes erstickt, keinen besseren Hinweis als den auf die „Überreste“ der liquidierten Klassen.
Sich von den „Überresten“ zu nähren, wird jedoch um so schwieriger, als dem Geständnis berufener Vertreter derselben Bürokratie zufolge die gestrigen Klassenfeinde sich erfolgreich der Sowjetgesellschaft anpassen .So sagte Postyschew, einer der Sekretäre des Parteizentralkomitees, im April 1936 auf dem Komsomolkongress: „Viele Schädlinge ... haben aufrichtig bereut und sich zu den Reihen des Sowjetvolks gesellt ...“ Angesichts der erfolgreichen Durchführung der Kollektivierung „sollen die Kulakenkinder nicht für ihre Eltern haften“. Nicht genug damit: „heute glaubt auch der Kulak kaum noch an die Möglichkeit einer Wiederkehr seiner ehemaligen Ausbeuterstellung auf dem Lande“. Nicht von ungefähr ging ja die Regierung dazu über, die mit der sozialen Herkunft verbundenen Beschränkungen aufzuheben! Wenn aber Postyschews Behauptungen, die auch Molotow voll und ganz teilt, einen Sinn haben, so nur diesen: die Bürokratie ist nicht bloß ein anachronistisches Ungeheuer geworden, sondern auch staatlicher Zwang überhaupt hat auf Sowjetboden nichts mehr zu suchen. Allein, mit dieser unabweisbaren Schlussfolgerung sind weder Molotow noch Postyschew einverstanden. Sie ziehen es vor, die Macht zu behalten, und sei es um den Preis eines Widerspruches.
In Wirklichkeit können sie auch nicht auf die Macht verzichten. Oder in objektive Sprache übersetzt: die heutige Sowjetgesellschaft kann den Staat nicht entbehren, nicht mal – in gewissen Grenzen – die Bürokratie. Aber die Ursache dafür sind durchaus nicht die kläglichen Überreste der Vergangenheit, sondern die machtvollen Tendenzen und Kräfte der Gegenwart. Die Rechtfertigung der Existenz des Sowjetstaats als Zwangsapparat liegt darin, dass die heutige Übergangsordnung noch voller sozialer Gegensätze steckt, die auf dem Gebiet des Verbrauchs – das alle am nächsten und fühlbarsten angeht – furchtbar gespannt sind und stets drohen, von .hier aus auf das Gebiet der Produktion überzugreifen. Der Sieg des Sozialismus kann daher bislang weder endgültig noch unwiderruflich genannt werden.
Grundlage des bürokratischen Kommandos ist die Armut der Gesellschaft an Verbrauchsgegenständen mit dem daraus entstehenden Kampf aller gegen alle. Wenn genug Waren im Laden sind, können die Käufer kommen, wann sie wollen. Wenn die Waren knapp sind, müssen die Käufer Schlange stehen. Wenn die Schlange sehr lang wird, muss ein Polizist für Ordnung sorgen. Das ist der Ausgangspunkt für die Macht der Sowjetbürokratie. Sie „weiß“, wem sie zu geben, und wer zu warten hat.
Die Erhöhung des materiellen und kulturellen Niveaus müsste auf den ersten Blick die Notwendigkeit von Privilegien verringern, das Anwendungsgebiet des „bürgerlichen Rechts“ verengern und damit seiner Schützerin, der Bürokratie, den Boden entziehen. In Wirklichkeit geschah das Umgekehrte: das Wachstum der Produktivkräfte verursachte bisher eine extreme Entwicklung aller Formen der Ungleichheit, Privilegien und Vorteile, und damit auch des Bürokratismus. Und auch das nicht zufällig.
In seiner ersten Periode war das Sowjetregime zweifellos viel gleichmacherischer und viel weniger bürokratisch als heute. Doch das war das Gleichmachertum der allgemeinen Not. Die Mittel des Landes waren so dürftig, dass für die Absonderung irgendwie breiterer privilegierter Schichten aus der Masse keine Möglichkeit vorhanden war. Gleichzeitig damit ertötete der „gleichmacherische“ Charakter des Arbeitslohns die persönliche Interessiertheit und wurde so zu einer Bremse für die Entwicklung der Produktivkräfte. Die Sowjetwirtschaft musste aus ihrer Armut herauskommen und eine etwas höhere Stufe erklimmen, damit der Fettansatz, – die Privilegien – möglich wurde. Der heutige Stand der Produktion ist noch sehr weit davon entfernt, alle mit allem Notwendigen versehen zu können. Aber er reicht schon aus, um einer Minderheit erhebliche Privilegien zu gewähren und die Ungleichheit in eine Knute zur Anpeitschung der Mehrheit zu verwandeln. Das ist der erste Grund, warum das Wachsen der Produktion bisher nicht die sozialistischen, sondern bürgerlichen Züge des Staates stärkte.
Es ist dies aber nicht der einzige Grund. Neben dem ökonomischen Faktor, der im gegenwärtigen Stadium kapitalistische Arbeitsentgeltsmethoden vorschreibt, wirkt parallel ein politischer Faktor in Gestalt der Bürokratie selbst. Ihrem eigentlichen Wesen nach ist sie Stifterin und Erhalterin der Ungleichheit. Sie entsteht von Anfang an als bürgerliches Organ des Arbeiterstaats. Während sie die Vorteile der Minderheit einführt und beschützt, schöpft sie selbstredend den Rahm für sich selber ab. Wer Güter verteilt, ist noch nie zu kurz gekommen. So erwächst aus dem sozialen Bedürfnis ein Organ, das die gesellschaftlich notwendige Funktion weit überragt, zu einem selbständigen Faktor und damit zur Quelle großer Gefahren für den gesamten Organismus der Gesellschaft wird.
Der soziale Sinn des Sowjetthermidor beginnt uns jetzt klar zu werden. Armut und kulturelle Rückständigkeit der Massen verkörperten sich noch einmal in der Schreckensgestalt des Gebieters mit großem Knüttel in der Hand. Die abgesetzte und geschmähte Bürokratie wurde aus dem Diener der Gesellschaft wieder ihr Herr. Auf diesem Wege hat sie eine solche soziale und moralische Entfremdung von den Volksmassen erreicht, dass sie bereits keine Kontrolle weder ihrer Taten noch ihrer Einkünfte mehr dulden kann.
Die auf den ersten Blick mystische Furcht der Bürokratie vor den „Schieberchen, Raffern und Klatschbasen“ findet auf diese Weise ihre ganz natürliche Erklärung. Noch nicht imstande, die elementaren Bedürfnisse der Massen zu befriedigen, weckt und erzeugt die Sowjetwirtschaft auf Schritt und Tritt Schieber- und Raffertendenzen. Andererseits machen die Privilegien der neuen Aristokratie die Bevölkerungsmassen geneigt, auf die „sowjetfeindlichen Klatschbasen“ zu horchen, d.h. auf jeden, der sei es auch nur im Flüsterton, die willkürliche und gefräßige Obrigkeit kritisiert. Es handelt sich somit nicht um Gespenster der Vergangenheit, nicht um Überbleibsel von etwas nicht mehr Existierendem, mit einem Wort nicht um Schnee vom vorigen Jahr, sondern um neue, mächtige und ständig wiederauferstehende Tendenzen zur privaten Akkumulation. Das erste bislang noch sehr armselige Anströmen von Wohlstand hat im Lande gerade infolge seiner Armseligkeit diese zentrifugalen Tendenzen nicht geschwächt, sondern verstärkt. Andererseits wuchs bei den Nichtprivilegierten das Bestreben, dem Neuadel die Faust unter die Nase zu reiben. Der soziale Kampf verschärft sich aufs neue. Das sind die Quellen für die Machtfülle der Bürokratie. Doch aus denselben Quellen entspringt auch die Bedrohung dieser ihrer Machtfülle.
Kapitel VI:
Wachsen der Ungleichheit und der sozialen Gegensätze
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Zuletzt aktualisiert am 5.1.2004