Leo Trotzki

 

Geschichte der russischen Revolution

Band 1: Februarrevolution

 

Kapitel 19:
Die Offensive

In der Armee wie im Lande vollzog sich eine ununterbrochene Umgruppierung der Kräfte: die unteren Schichten verschoben sich nach links, die oberen nach rechts. In dem Maße, wie das Exekutivkomitee ein Werkzeug der Entente zur Zähmung der Revolution wurde, verwandelten sich die Armeekomitees, geschaffen als Vertretung der Soldaten gegen den Kommandobestand, in Helfershelfer des Kommandobestandes gegen die Soldaten.

Die Zusammensetzung der Komitees war sehr bunt. Es gab da nicht wenig patriotische Elemente, die aufrichtig den Krieg mit der Revolution identifizierten, mutig in die ihnen von oben aufgedrängte Offensive gingen und ihr Leben für eine fremde Sache ließen. In einer Reihe mit ihnen standen die Phrasenhelden, die Divisions- und Regiments-Kerenskis. Schließlich gab es auch nicht wenig Schlaumeier und Kriecher, die, nach Privilegien haschend, sich in die Komitees vor dem Schützengraben retteten. Jede Massenbewegung trägt, besonders in ihrem ersten Stadium, all diese menschlichen Spielarten an die Oberfläche. Nur war die Versöhnlerperiode an Schwätzern und Chamäleons besonders reich. Wenn Menschen das Programm formen, so formt das Programm auch die Menschen. Die Schule des Kontaktes wird in einer Revolution die Schule der Kniffe und Intrigen.

Das Regime der Doppelherrschaft schloß die Möglichkeit der Schaffung einer Militärmacht aus. Die Kadetten hatten sich den Haß der Volksmassen zugezogen und waren gezwungen, sich in der Armee als Sozialrevolutionäre auszugeben. Die Demokratie dagegen konnte die Armee aus dem gleichen Grunde nicht erneuern, aus dem sie die Macht nicht zu übernehmen vermochte: das eine ist vom anderen untrennbar. Als Kuriosität, die jedoch die Lage grell beleuchtet, vermerkt Suchanow, daß die Provisorische Regierung in Petrograd nicht eine Truppenparade abgehalten hat: die Liberalen und die Generale wollten die Beteiligung des, Sowjets an einer Parade nicht, waren sich aber dessen bewußt, daß ohne den Sowjet eine Parade undenkbar war.

Die höheren Offiziere schlossen sich immer enger den Kadetten an – und warteten, bis wieder reaktionärere Parteien das Haupt erheben würden. Die kleinbürgerliche Intelligenz vermochte in bedeutender Zahl den unteren Offiziersbestand der Armee zu stellen, wie früher unter dem Zarismus. Aber sie war unfähig, ein Kommandokorps nach ihrem Ebenbilde zu schaffen, denn sie besaß kein eigenes Gesicht. Wie der ganze weitere Verlauf der Revolution gezeigt hat, konnte man das Kommandokorps entweder fertig von Adel und Bourgeoisie übernehmen, wie das die Weißen taten, oder aber es auf der Grundlage proletarischer Auslese schaffen und erziehen, wie es später die Bolschewiki vollbrachten. Den kleinbürgerlichen Demokraten war die eine wie die andere Möglichkeit versagt. Sie waren gezwungen, alle zu überreden, anzuflehen, zu betrügen, und als dabei nichts herauskam, übergaben sie verzweifelt die Macht den reaktionären Offizieren, damit diese dem Volk die richtigen revolutionären Ideen einflößen sollten.

Die Wunden der alten Gesellschaft brachen eine nach der anderen auf und zerstörten den Organismus der Armee. Die nationale Frage in all ihren Variationen – und Rußland war an ihnen reich – erfaßte immer tiefer die Soldatenmasse, die mehr als zur Hälfte aus Nichtgroßrussen bestand. Auf verschiedenen Linien verflochten und kreuzten sich die nationalen Gegensätze mit den Klassen-Antagonismen. Die Regierungspolitik war auf dem nationalen Gebiet wie auf allen anderen schwankend und wirr und wirkte deshalb doppelt verräterisch. Einzelne Generale spielten mit nationalen Formationen in der Art des „muselmännischen Korps mit französischer Disziplin“ an der rumänischen Front. Und tatsächlich bewiesen die neuen nationalen Truppenteile in der Regel größere Widerstandsfähigkeit als die der alten Armee, denn sie wurden um eine neue Idee und uni ein neues Banner formiert. Diese nationale Lösung hielt jedoch nicht lange: sie wurde bald durch die Entwicklung des Klassenkampfes gesprengt. Schon der Prozeß der nationalen Formierungen, der die Hälfte der Armee zu erfassen drohte, brachte diese in einen flüssigen Zustand, zersetzte ihre alten Teile, noch bevor die neuen sich heranbilden konnten. So kam das Unheil von allen Seiten.

Miljukow schreibt in seiner Geschichte, die Armee sei durch den „Ideenkonflikt zwischen „revolutionärer“ und normal-militärischer Disziplin, zwischen „Demokratisierung“ der Armee und Erhaltung ihrer Kampffähigkeit“ zerstört worden, wobei unter „normaler“ Disziplin jene zu verstehen ist, die unter dem Zarismus bestand. Man sollte meinen, ein Historiker müßte es wissen, daß noch jede große Revolution die Vernichtung der alten Armee mit sich brachte, nicht als Folge des Zusammenpralls abstrakter Prinzipien der Disziplin, sondern lebendiger Klassen. Die Revolution läßt nicht nur strenge Disziplin in der Armee zu, sie schafft sie auch. Aber diese Disziplin können nicht Vertreter der Klasse herstellen, die durch die Revolution gestürzt wurde.

„Es ist eine evidente Tatsache“, schrieb am 26. September 1851 ein kluger Deutscher dem anderen, „daß die Desorganisierung der Armeen und die gänzliche Lösung der Disziplin sowohl Bedingung wie Resultat jeder bisher siegreichen Revolution war.“ Die gesamte Geschichte der Menschheit hat dieses einfache und unbestreitbare Gesetz festgestellt. Aber mit den Liberalen haben dies auch die russischen Sozialisten, die das Jahr 1905 im Rücken hatten, nicht begriffen, obwohl sie wiederholt als ihre Lehrer jene beiden Deutschen nannten, von denen der eine Friedrich Engels hieß, der andere Karl Marx. Die Menschewiki glaubten allen Ernstes, daß die Armee, die eine Umwälzung vollbracht hatte, den alten Krieg unter dem alten Kommando fortsetzen werde. Und diese Menschen verschrien die Bolschewiki als Utopisten.

General Brussilow hatte Anfang Mai in einer Konferenz des Hauptquartiers den Zustand des Kommandobestandes sehr genau charakterisiert: 15-20 Prozent paßten sich der neuen Ordnung aus Überzeugung an; ein Teil der Offiziere begann, mit den Soldaten zu liebäugeln und hetzte sie gegen den Kommandobestand auf, die Mehrzahl dagegen, etwa 75 Prozent, vermochte sich nicht anzupassen, fühlte sich beleidigt, hatte sich in ihre Schale verkrochen und wußte nicht, was zu beginnen. Die erdrückende Mehrheit der Offiziere war überdies auch vom rein militärischen Standpunkt aus gesehen vollständig unfähig.

Bei der Beratung mit den Generalen entschuldigten sich Kerenski und Skobeljew aus allen Kräften, der Revolution wegen, die – ach – „fortdauert“ und der man Rechnung tragen müsse. Darauf erwidert der Schwarzhundertgeneral Gurko, die Minister Moral lehrend: „Ihr sagt, die Revolution „dauert fort“. Hört auf uns ... Stellt die Revolution ein und laßt uns, Militärs, unsere Pflicht bis ans Ende erfüllen.“ Kerenski war mit allem Eifer bemüht, den Generalen entgegenzukommen, – bis einer von ihnen, der wackere Kornilow, ihn mit seinen Umarmungen beinahe erdrückte.

Während der Revolution bedeutet das Versöhnlertum die Politik fieberhaften Pendelns zwischen den Klassen. Kerenski war das verkörperte Pendeln. An die Spitze der Armee gestellt, die ohne klares und eindeutiges Regime überhaupt undenkbar ist, wurde Kerenski zum unmittelbaren Werkzeug ihrer Zersetzung. Denikin führt eine interessante Liste von Personen des höheren Kommandobestandes an, deren Absetzung das Ziel verfehlt hätte, obwohl eigentlich niemand und am wenigsten Kerenski wußte, wo dieses Ziel sich befand. Alexejew entließ den Hauptkommandierenden der Front, Russki, und den Armeekommandeur Radko-Dmitrjew wegen Schwäche und Nachgiebigkeit den Komitees gegenüber. Brussilow entfernte aus dem gleichen Grunde den verängstigten Judenitsch. Kerenski entließ Alexejew selbst und die Hauptkommandierenden der Fronten, Gurko und Dragomirow, wegen Widerstand gegen die Demokratisierung der Armee. Aus dem gleichen Grunde entfernte Brussilow General Kaledin und wurde in der Folge selbst wegen übermäßiger Nachsicht mit den Komitees abgesetzt. Kornilow legte wegen seiner Unfähigkeit, sich mit der Demokratie zu vertragen, das Kommando des Petrograder Militärkreises nieder. Das verhinderte nicht seine Ernennung zum Kommandierenden der Front und später zum Höchstkommandierenden. Denikin wurde seines Postens als Chef beim Stabe Alexejews wegen offener Leibeigenschaftstendenzen enthoben, bald darauf aber zum Oberkommandierenden der Westfront ernannt. Dieses Bockspringen, das bewies, daß man oben nicht wußte, was man wollte, ging stufenweise abwärts bis zur Kompanie und beschleunigte den Zerfall der Armee.

Während die Kommissare von den Soldaten Gehorsam für die Offiziere forderten, mißtrauten sie diesen selbst. Auf der Höhe der Offensive erklärte in der Sowjetsitzung in Mohilew, der Hauptstadt des Hauptquartiers, in Gegenwart Kerenskis und Brussilows ein Mitglied des Sowjets: „88 Prozent der Offiziere des Hauptquartiers schaffen durch ihre Handlungen die Gefahr konterrevolutionärer Vorgänge.“ Für die Soldaten war das kein Geheimnis. Sie hatten vor der Umwälzung Zeit genug gehabt, ihre Offiziere kennenzulernen.

Im Laufe des ganzen Mai variierten die Berichte der oberen wie der unteren Kommandobestandes den gleichen Gedanken: „Das Verhalten zur Offensive ist im allgemeinen ablehnend, besonders bei der Infanterie.“ Manchmal wird hinzugefügt: „etwas besser bei der Kavallerie und recht lebhaft bei der Artillerie.“

Ende Mai, als die Truppen sich bereits zur Offensive aufstellten, telegraphierte der Kommissar der 7. Armee an Kerenski „Bei der 12. Division sind das 48. Regiment in ganzer, das 45. und 46. Regiment in halber Frontstärke ausgerückt, das 47. Regiment weigert sich, auszurücken. Von den Regimentern der 13. Division ist das 50. Regiment annähernd in voller Stärke ausgerückt. Das 51. Regiment verspricht, morgen auszurücken, das 49. ist nicht vorschriftsmäßig ausgerückt, das 52. weigert sich, auszurücken und hat alle seine Offiziere verhaftet.“ Ein solches Bild war fast überall zu beobachten. Auf die Meldung des Kommissars hin erfolgte die Antwort der Regierung: „Das 45., 46., 47. und 52. Regiment auflösen. Offiziere und Soldaten, die zum Ungehorsam aufreizten, vor Gericht stellen.“ Das klang bedrohlich, schreckte aber nicht. Die Soldaten, die nicht mehr Krieg führen wollten, hatten weder vor der Auflösung noch vor dem Gericht Furcht. Bei der Aufstellung der Truppen war man nicht selten gezwungen, einen Truppenteil gegen den anderen zu verwenden. Als Werkzeug der Repression dienten am häufigsten, wie unter dem Zaren, die Kosaken, jetzt aber wurden sie von Sozialisten geleitet: ging es doch um die Verteidigung der Revolution.

Am 4. Juni, weniger als vierzehn Tage vor Beginn der Offensive, meldete der Stabschef des Hauptquartiers: „Die Nordfront befindet sich noch immer im Zustand der Gärung, die Verbrüderung geht weiter, das Verhalten der Infanterie zur Offensive ist ablehnend ... An der Westfront ist die Lage ungewiß. An der Südwestfront ist eine gewisse Besserung der Stimmung zu verzeichnen ... Von der rumänischen Front ist keine besondere Besserung zu melden, die Infanterie will nicht angreifen ...“

Am 11. Juni 1917 schreibt der Kommandeur des 61. Regiments: „Mir und den Offizieren bleibt nur noch übrig, uns zu retten, da aus Petrograd ein Soldat der 5. Kompanie angekommen ist, ein Leninist ... Viele der besten Soldaten und Offiziere sind bereits davongelaufen.“ Das Erscheinen eines einzigen Leninisten im Regiment genügte, die Offiziere zum Davonlaufen zu bringen. Es ist klar, daß der betreffende Soldat die Rolle des ersten Kristalls in gesättigter Lösung spielte. Man braucht übrigens nicht zu glauben, daß es sich unbedingt um einen Bolschewiken handelte. Zu jener Zeit nannte der Kommandobestand jeden Soldaten, der kühner als die anderen die Stimme gegen die Offensive erhob, einen Leninisten. Viele dieser „Leninisten“ glaubten noch aufrichtig, Lenin sei von Wilhelm geschickt worden. Der Kommandeur des 61. Regiments versuchte, seine Soldaten mit Strafen seitens der Regierung zu schrecken. Ein Soldat gab ihm zur Antwort: „Wir haben die alte Regierung gestürzt, wir werden auch Kerenski hinausstochern.“ Das waren neue Töne. Sie nährten sich von der Agitation der Bolschewiki, liefen ihr aber weit voraus.

Von der Schwarzmeerflotte, die unter Leitung der Sozialrevolutionäre stand und, im Gegensatz zu den Kronstädtern, als Stütze des Patriotismus galt, wurde bereits Ende April eine Delegation von 300 Mann, mit dem flinken Studenten Batkin an der Spitze, der sich als Matrose verkleidet hatte, ins Land geschickt. An dieser Delegation roch vieles nach Maskerade; doch gab es auch aufrichtige Begeisterung. Die Delegation trug die Idee des Krieges bis zum Siege ins Land, doch benahmen sich die Zuhörer von Woche zu Woche feindseliger. Während die Schwarzmeerler den Ton ihrer Offensive-Predigt immer leiser stimmten, kam eine baltische Delegation nach Sewastopol, den Frieden zu propagieren. Die Nordländer hatten im Süden einen größeren Erfolg als die Südländer im Norden. Unter dem Einfluß der Kronstädter entwaffneten die Sewastopoler Matrosen am 8. Juni den Kommandobestand und verhafteten die verhaßtesten Offiziere.

In der Sitzung des Rätekongresses vom 9. Juni fragte Trotzki, wie es geschehen konnte, daß „in dieser mustergültigen Schwarzmeerflotte, die über das ganze Land patriotische Deputationen geschickt hat, in diesem Nest des organisierten Patriotismus zu einem so kritischen Moment ein derartiger Ausbruch erfolgen konnte? Was beweist das?“ Eine Antwort wurde ihm nicht zuteil.

Unordnung und Kopflosigkeit in der Armee rieben alle auf, Mannschaft, Kommandeure und Komiteevertreter. Alle brauchten unverzüglich irgendeinen Ausweg. Die Spitzen wähnten, die Offensive würde die Unordnung überwinden und Klarheit schaffen. In gewissem Sinne war diese Annahme berechtigt. Wenn Zeretelli und Tschernow in Petrograd, unter Verwendung aller Modulationen der demokratischen Rhetorik, für die Offensive plädierten, so mußten die Komitees an der Front Hand in Hand mit den Offizieren den Kampf gegen das neue Regime in der Armee aufnehmen, ohne das die Revolution zwar undenkbar, das aber mit dem Krieg nicht zu vereinbaren war. Die Folgen der Wendung stellten sich bald ein. „Mit jedem Tage wurden die Komitees immer rechter“, berichtet ein Seeoffizier, „gleichzeitig jedoch machte sich das Sinken ihrer Autorität unter den Soldaten und Matrosen immer mehr bemerkbar.“ Für den Krieg aber waren gerade Soldaten und Matrosen notwendig.

Mit Zustimmung Kerenskis ging Brussilow daran, Stoßbataillone aus Freiwilligen zu bilden, womit er die Kampfunfähigkeit der Armee offen eingestand. Diesem Werk schlossen sich unverzüglich die verschiedensten, meist recht abenteuerlichen Elemente an, wie Kapitän Murawjew, der später, nach dem Oktoberumsturz, zu den linken Sozialrevolutionären überlief, um dann, nach stürmischen und in ihrer Art glänzenden Taten, die Sowjetmacht zu verraten und von bolschewistischer oder eigener Kugel zu fallen. Es ist überflüssig zu sagen, daß die konterrevolutionären Offiziere gierig zu den Stoßbataillonen, als der legalen Form zur Sammlung ihrer Kräfte, Zuflucht nahmen. Die Idee fand jedoch bei der Soldatenmasse fast keinen Widerhall. Abenteuerlustige Mädchen schufen Frauenbataillone, „schwarze Todeshusaren“. Eines dieser Bataillone bildete im Oktober Kerenskis letzte bewaffnete Stütze bei der Verteidigung des Winterpalais. Doch all dies konnte der Sache der Vernichtung des deutschen Militarismus wenig dienen.

Die Offensive, die das Hauptquartier den Alliierten für die ersten Frühlingstage versprochen hatte, wurde von Woche zu Woche verschoben. Nun aber lehnte die Entente weitere Vertagungen energisch ab. Die Alliierten waren in den Mitteln, den sofortigen Angriff zu erpressen, nicht wählerisch. Neben den pathetischen Beschwörungen Vanderveldes wurden auch Drohungen, die Lieferung von Munition einzustellen, angewandt. Der italienische Generalkonsul in Moskau erklärte, und zwar nicht in der italienischen, sondern in der russischen Presse, die Alliierten würden im Falle eines Separatfriedens seitens Rußlands Japan volle Aktionsfreiheit in Sibirien gewähren. In patriotischer Begeisterung druckten liberale Zeitungen, nicht etwa in Rom, sondern in Moskau, diese frechen Drohungen ab, wobei sie den Schwerpunkt der Frage vom Separatfrieden auf die Verzögerung der Offensive verschoben. Die Alliierten legten sich auch in anderer Hinsicht keinen Zwang auf; so sandten sie zum Beispiel der Artillerie bewußt Ausschußmaterial: 35% der Geschütze, die das Ausland geliefert hatte, waren nach einem zweiwöchigen, mäßigen Schießen unbrauchbar. England machte Schwierigkeiten mit den Anleihen. Dagegen eröffnete der neue Gönner, Amerika, ohne Wissen Englands, der Provisorischen Regierung für die kommende Offensive einen Kredit von 75 Millionen Dollar.

Während die russische Bourgeoisie die Erpressungen der Alliierten unterstützte und eine wilde Agitation für die Offensive führte, schenkte sie selbst dieser Offensive kein Vertrauen; sie zeichnete nicht einmal die Freiheitsanleihe. Die gestürzte Monarchie benutzte inzwischen die Gelegenheit, um sich in Erinnerung zu bringen: in einer Erklärung an die Provisorische Regierung äußerten die Romanows den Wunsch, die Anleihe zu zeichnen, wobei sie hinzufügten: „Die Höhe der Zeichnung wird davon abhängen, ob die Staatskasse den Mitgliedern der Zarenfamilie Unterhaltungsgelder geben wird.“ All das las die Armee, der bekannt war, daß die Mehrheit der Provisorischen Regierung wie auch die Mehrheit des höheren Offiziersstandes wie bisher auf die Wiedererrichtung der Monarchie hoffte.

Die Gerechtigkeit erfordert, zu verzeichnen, daß nicht alle im Lager der Alliierten mit den Vandervelde, Thomas und Cachin, die die russische Armee in den Abgrund stießen, einverstanden waren. Es gab auch warnende Stimmen. „Die russische Armee ist nur eine Fassade“, sagte General Pétain, „sie wird zerfallen, sobald sie sich vom Platz rührt.“ Im gleichen Sinne äußerte sich ferner die amerikanische Mission. Es siegten jedoch andere Erwägungen. Man mußte der Revolution die Seele herausprügeln. „Die deutsch-russische Verbrüderung“, erklärte später Painlevé, „schuf solche Verwüstungen (faisait de tels ravages), daß es das Risiko ihrer schnellsten Auflösung bedeutete, wollte man die russische Armee ohne Bewegung lassen.“

Die Vorbereitung der Offensive auf der politischen Linie führten Kerenski und Zeretelli, anfangs in Heimlichkeit sogar vor den nächsten Gesinnungsgenossen. Während die halb eingeweihten Führer noch weiterhin von der Verteidigung der Revolution faselten, betonte Zeretelli immer entschiedener die Notwendigkeit, die Armee für aktive Handlungen bereitzuhalten. Länger als die anderen widersetzte sich, das heißt kokettierte Tschernow. In der Sitzung der Provisorischen Regierung vom 17. Mai unterwarf man den „Bauernminister“, wie er sich nannte, einem hochnotpeinlichen Verhör, ob es wahr sei, daß er in einer Versammlung von der Offensive ohne die nötige Sympathie gesprochen habe. Es ergab sich, daß Tschernow sich so ausgedrückt hatte: Die Offensive gehe ihn, den Politiker, nichts an, das sei Sache der Strategen an der Front. Diese Menschen spielten Versteck sowohl mit dem Krieg wie mit der Revolution. Allerdings nur bis zu einem bestimmten Zeitpunkt.

Die Vorbereitung der Offensive war selbstverständlich vom gesteigerten Kampf gegen die Bolschewiki begleitet. Immer häufiger wurden diese der Bestrebungen für Separatfrieden beschuldigt. Die Erkenntnis, daß der Separatfrieden der Ausweg sein werde, war in der Situation von selbst gegeben, das heißt in der Schwäche und Erschöpfung Rußlands im Vergleich mit den übrigen kriegführenden Ländern. Doch hatte noch niemand die Kraft des neuen Faktors, der Revolution, zu ermessen vermocht. Die Bolschewiki meinten, daß man der Perspektive des Separatfriedens nur dann ausweichen könne, wenn man mutig und restlos die Kraft und Autorität der Revolution dem Kriege entgegenstelle. Dazu war vor allem notwendig, das Bündnis mit der eigenen Bourgeoisie zu zerreißen. Am 9. Juni erklärte Lenin auf dem Rätekongreß: „Wenn man behauptet, daß wir den Separatfrieden anstreben, so ist das unwahr. Wir sagen: keinen Separatfrieden, mit keinen Kapitalisten, vor allem nicht mit den russischen. In der Provisorischen Regierung dagegen herrscht Separatfrieden mit den russischen Kapitalisten. Nieder mit diesem Separatfrieden!.“ „Beifall“, vermerkt das Protokoll. Das war der Beifall einer kleinen Kongreßminderheit, und gerade deshalb ein besonders heißer.

Im Exekutivkomitee fehlte den einen noch die Entschlossenheit, die anderen wollten sich zuvor mit einem autoritativsten Organ decken. Im letzten Moment wurde beschlossen, Kerenski zur Kenntnis zu bringen, daß es unerwünscht sei, den Befehl zur Offensive zu erteilen, bevor der Rätekongreß die Frage gelöst hätte. Die von der Fraktion der Bolschewiki in der ersten Sitzung des Kongresses eingebrachte Erklärung lautete, „die Offensive kann die Armee nur endgültig desorganisieren, da sie ihre Teile gegeneinander stellen wird“, der „Kongreß muß dem gegenrevolutionären Druck Widerstand leisten, oder aber die Verantwortung für diese Politik offen und restlos übernehmen“.

Der Beschluß des Rätekongresses zugunsten der Offensive war nur eine demokratische Formalität. Alles war schon bereit. Die Artilleristen hielten die feindlichen Positionen längst unter Visier. In dem Befehl an Armee und Flotte vom 16. Juni setzte Kerenski unter Berufung auf den höchstkommandierenden, „von Siegen umwobenen Führer“ die Notwendigkeit eines „sofortigen und entschlossenen Hiebes“ auseinander und endete mit den Worten: „Ich befehle euch – vorwärts!“

In dem am Vorabend der Offensive geschriebenen und die Erklärung der bolschewistischen Fraktion auf dem Rätekongreß kommentierenden Artikel schrieb Trotzki: „Die Regierungspolitik untergräbt die Möglichkeit erfolgreicher militärischer Aktionen in der Wurzel ... Die materiellen Voraussetzungen der Offensive sind äußerst ungünstig. Die Ernährungsorganisation der Armee spiegelt den allgemeinen Wirtschaftszerfall wider, gegen den auch nur eine radikale Maßnahme zu treffen die Regierung in ihrer heutigen Zusammensetzung außerstande ist. Die geistigen Voraussetzungen der Offensive sind in noch höherem Maße ungünstig ... Die Regierung ... hat ihre Unfähigkeit, Rußlands Politik unabhängig von den imperialistischen Alliierten zu bestimmen, ... vor der Armee entblößt. Die Massendesertion ... hört unter den heutigen Bedingungen auf, einfach das Resultat bösen Einzelwillens zu sein, und wird der Ausdruck der völligen Unfähigkeit der Regierung, die revolutionäre Armee durch innere Einheitlichkeit der Ziele zusammenzuschweißen ...“ Indem er weiter darauf verwies, daß die Regierung die „sofortige Abschaffung des gutsherrlichen Bodenbesitzes, das heißt die einzige Maßnahme, die den rückständigsten Bauern überzeugen könnte, daß diese Revolution seine Revolution“ ist, nicht zu beschließen wage, endet der Artikel mit den Worten: „Unter solchen materiellen und geistigen Bedingungen muß die Offensive unvermeidlich den Charakter eines Abenteuers erhalten.“

Der Kommandobestand glaubte fast durchweg, daß die in militärischer Hinsicht hoffnungslose Offensive ausschließlich aus politischen Erwägungen erforderlich sei. Nachdem Denikin seine Front bereits hatte, meldete er Brussilow: „Ich glaube an keinen Erfolg der Offensive.“ Das letzte Element der Hoffnungslosigkeit brachte die Untauglichkeit des Kommandobestandes selbst hinein. Der Offizier und Patriot Stankewitsch bezeugt, daß ein Sieg vom Standpunkt der technischen Vorbereitung ausgeschlossen war, unabhängig von der moralischen Verfassung der Truppen: „Die Offensive war unter aller Kritik organisiert.“ Eine Offiziersdelegation mit dem Vorsitzenden des Offiziersverbandes, dem Kadetten Nowosilzew, an der Spitze, suchte die Führer der Kadettenpartei auf und warnte sie, die Offensive werde zu einem Mißerfolg verurteilt sein und zur Vernichtung der besten Truppenteile führen. Die höheren Stellen entledigten sich der Warnungen mit allgemeinen Phrasen: „Es glimmte die Hoffnung“, sagte der Stabschef des Hauptquartiers, der reaktionäre General Lukomski, „daß der Beginn der erfolgreichen Kämpfe die Massenpsychologie vielleicht verändern und den Vorgesetzten die Möglichkeit geben werde, die ihren Händen entfallenen Zügel wieder straffzuziehen“ Darin eben bestand das eigentliche Ziel: die Zügel straffzuziehen.

Entsprechend einem längst ausgearbeiteten Plane bestand ursprünglich die Absicht, mit den Kräften der Südwestfront den Hauptschlag in der Richtung auf Lemberg zu führen; der Nord- und Westfront waren Hilfsaufgaben zugedacht. Der Angriff sollte gleichzeitig an allen Fronten beginnen. Bald aber wurde offenbar, daß dieser Plan die Kräfte des Kommandos weit überstieg. Es wurde deshalb beschlossen, an den einzelnen Fronten, beginnend mit den weniger wichtigen, der Reihe nach loszuschlagen. Aber auch dies erwies sich als undurchführbar. „Nunmehr beschloß das Oberste Kommando“, sagte Denikin, „auf jede strategische Planmäßigkeit zu verzichten und gezwungenermaßen den Fronten zu überlassen, die Operationen nach Maßgabe ihrer Bereitschaft zu beginnen.“ Alles wurde der Vorsehung anheimgestellt. Es fehlten nur noch die Heiligenbilder der Zarin. Man versuchte sie durch die Heiligenbilder der Demokratie zu ersetzen. Kerenski reiste umher, beschwor, segnete. Die Offensive begann: am 16. Juni an der Südwestfront; am 7. Juli an der Westfront; am 8. an der Nordfront, am 9. an der rumänischen Front. Das Losschlagen der letzten drei Fronten, im Wesen fiktiv, traf bereits zusammen mit dem Beginn des Zusammenbruches der wichtigsten, das heißt der Südwestfront.

Kerenski meldete der Provisorischen Regierung: „Heute ist das große Fest der Revolution. Am 18. Juni ist die russische revolutionäre Armee mit höchster Begeisterung zum Angriff übergegangen.“ „Das langersehnte Ereignis ist eingetreten“, schrieb die Rjetsch, das Blatt der Kadetten, „das die guten Tage der russischen Revolution mit einem Schlage zurückbrachte.“ Am 19. Juni deklamierte der Greis Plechanow bei einer patriotischen Kundgebung: „Bürger! Wenn ich euch frage, welcher Tag heute ist, werdet ihr mir sagen: Montag. Aber das ist ein Irrtum: heute ist Sonntag, ein Sonntag für unser Land und für die Demokratie der ganzen Welt. Rußland, das das Joch des Zarismus abgeschüttelt hat, hat beschlossen, auch das Joch des Feindes abzuschütteln.“ Zeretelli erklärte am selben Tage auf dem Rätekongreß: „Es beginnt eine neue Seite in der Geschichte der großen Russischen Revolution ...“ „Nicht allein die russische Demokratie muß die Erfolge unserer revolutionären Armee begrüßen, sondern auch ... alle jene, die einen Kampf gegen den Imperialismus wirklich anstreben.“ Die patriotische Demokratie hatte alle ihre Schleusen geöffnet.

Die Zeitungen brachten inzwischen die freudige Nachricht: „Die Pariser Börse begrüßt die russische Offensive mit dem Steigen aller russischen Wertpapiere.“ Die Sozialisten versuchten, die Festigkeit der Revolution am Kurszettel zu prüfen. Die Geschichte aber lehrt, daß die Börse sich um so besser fühlt, je schlechter es der Revolution geht.

Die Arbeiter und die Garnison der Hauptstadt waren keinen Augenblick von der Welle des künstlich aufgewärmten Patriotismus erfaßt. Sein Schauplatz blieb der Newskij-Prospekt „Wir gingen auf den Newskij“, erzählt der Soldat Tschinenow in seinen Erinnerungen, „und versuchten gegen die Offensive zu agitieren. Da stürzten sich die Bourgeois mit Schirmen auf uns ... Wir ergriffen die Bourgeois, schleppten sie in die Kasernen ... und sagten ihnen, sie würden morgen an die Front geschickt werden.“ Das waren schon Zeichen des heranziehenden Ausbruches des Bürgerkrieges: es nahten die Julitage.

Am 21. Juni beschloß das Maschinengewehrregiment in Petrograd in allgemeiner Versammlung: „Wir werden in der Zukunft nur dann Kommandos an die Front schicken, wenn der Krieg einen revolutionären Charakter tragen wird“ ... Auf die Drohung mit Auflösung antwortete das Regiment, es werde vor der Auflösung „der Provisorischen Regierung und der sie unterstützenden Organisationen“ nicht haltmachen. Wir vernehmen hier wiederum eine Note der Drohung, die der Agitation der Bolschewiki weit vorauslief.

Die Chronik der Ereignisse vermerkt unter dem 23. Juni: „Teile der II. Armee erobern die erste und die zweite Schützengrabenlinie des Feindes“ ... Und gleich danach: „In der Fabrik von Baranowski (6.000 Arbeiter) sind Neuwahlen für den Petrograder Sowjet vorgenommen worden. An Stelle der drei Sozialrevolutionäre wurden drei Bolschewiki gewählt.“

Gegen Ende des Monats war die Physiognomie des Petrograder Sowjets bereits bedeutend verändert. Allerdings nahm er am 20. Juni noch eine Begrüßungsdelegation für die im Vormarsch begriffene Armee an. Aber mit welcher Mehrheit? 472 gegen 271 Stimmen bei 39 Stimmenthaltungen. Das ist ein völlig neues Kräfteverhältnis, dem wir bisher nicht begegneten. Zusammen mit den linken Grüppchen der Menschewiki und Sozialrevolutionäre bilden die Bolschewiki bereits zwei Fünftel des Sowjets. Das bedeutet, in Betrieben und Kasernen sind die Gegner der Offensive eine unbestrittene Mehrheit.

Der Wyborger Bezirkssowjet nahm am 24. Juni eine Resolution an, in der jedes Wort ein Hammerschlag ist: „Wir ... protestieren gegen die Abenteuer der Provisorischen Regierung, die für alte Raubverträge die Offensive führt ... und wir schieben der Provisorischen Regierung und den sie unterstützenden Parteien der Menschewiki und Sozialrevolutionäre die ganze Verantwortung für diese Politik der Offensive zu.“ Der nach der Februarumwälzung zurückgedrängte Wyborger Bezirk rückte jetzt zuversichtlich auf den ersten Platz vor. Im Wyborger Sowjet herrschten die Bolschewiki bereits völlig.

Jetzt hing alles vom Schicksal der Offensive ab, das heißt von den Schützengrabensoldaten. Welche Veränderungen rief die Offensive im Bewußtsein jener hervor, die sie zu vollziehen hatten? Unbewußt strebten sie nach Frieden. Doch gelang es den Regierenden, gerade dieses Streben bis zu einem gewissen Grade, mindestens bei einem Teil der Soldaten und für ganz kurze Zeit, in die Bereitschaft zum Angriff umzuwandeln.

Die Soldaten hatten nach der Umwälzung von der neuen Macht den baldigen Friedensschluß erwartet und bis dahin sich bereit gefunden, die Front zu halten. Der Frieden jedoch kam nicht. Teils unter dem Einfluß der Bolschewiki, hauptsächlich aber auf der Suche nach eigenen Wegen zum Frieden, begannen die Soldaten Verbrüderungsversuche mit den Deutschen und Österreichern. Nun setzte jedoch gegen die Verbrüderung eine Hetze von allen Seiten ein. Außerdem ergab sich, daß die deutschen Soldaten ihren Offizieren noch lange nicht den Gehorsam verweigerten. So wurde die Verbrüderung, die zu keinem Frieden geführt hatte, stark eingedämmt.

An der Front herrschte inzwischen faktisch Waffenstillstand, den die Deutschen zu riesigen Truppenverschiebungen an die Westfront benutzten. Die russischen Soldaten beobachteten, wie die feindlichen Schützengräben sich leerten, die Maschinengewehre entfernt, die Kanonen abtransportiert wurden. Darauf eben baute man den Plan der moralischen Vorbereitung der Offensive auf. Man flößte den Soldaten systematisch den Gedanken ein, der Feind sei völlig geschwächt, seine Kraft reiche nicht mehr aus, im Westen werde er von Amerika bedrängt, und es genüge unsererseits ein leichter Stoß, damit die feindliche Front auseinanderfalle und wir Frieden bekämen. Die Regierenden glaubten daran nicht eine einzige Stunde. Aber sie verließen sich darauf, daß die Armee, die Hand erst einmal in die Kriegsmaschine hineingesteckt, nicht mehr imstande sein würde, sie zurückzuziehen.

Da weder die Diplomatie der Provisorischen Regierung noch die Verbrüderung zum Ziele geführt hatten, neigte ein Teil der Soldaten zweifellos zum dritten Weg: den Stoß zu geben, durch den der Krieg in Asche zerfallen müsse. Auf dem Rätekongreß gab ein Frontdelegierter die Stimmung der Soldaten gerade so wieder: „Vor uns liegt die jetzt stark gelichtete deutsche Front, vor uns stehen jetzt keine Kanonen; gehen wir los und werfen den Feind um, dann sind wir dem ersehnten Frieden nähergekommen.“

Der Feind erwies sich anfangs tatsächlich als sehr schwach und zog sich zurück, ohne den Kampf anzunehmen, den zu liefern die Angreifer allerdings auch nicht imstande gewesen wären. Der Feind zerfiel aber durchaus nicht, sondern gruppierte sich um und zog seine Kräfte zusammen. Nachdem sie 20-30 Kilometer vorgegangen waren, eröffnete sich den russischen Soldaten ein Bild, das ihnen aus der Erfahrung der vergangenen Jahre nur zu gut bekannt war: der Feind erwartete sie auf neuen, befestigten Positionen. Und da offenbarte sich auch, daß, wenn die Soldaten auch noch einverstanden gewesen waren, einen Stoß zugunsten des Friedens zu führen, sie keinesfalls den Krieg wollten. Durch Gewalt, moralischen Druck und hauptsächlich Täuschung in diesen hineingezogen, machten sie um so entrüsteter kehrt.

„Nach einer artilleristischen Vorbereitung, wie man sie ihrer Stärke und Größe nach russischerseits noch nie gesehen hatte“, schreibt der russische Geschichtsschreiber des Weltkrieges, General Sajontschkowski, „besetzten die Truppen fast ohne Verluste die feindlichen Positionen und wollten nicht weiter vorgehen. Es begann eine Massendesertion, ganze Truppenteile verließen die Stellungen.“

Der ukrainische Politiker Doroschenko, ehemaliger Kommissar der Provisorischen Regierung in Galizien, erzählt, nach der Einnahme der Städte Galitsch und Kalusch „erfolgte in Kalusch sofort ein furchtbarer Pogrom gegen die Bevölkerung, ausschließlich Ukrainer und Juden, – die Polen tastete man nicht an. Den Pogrom leitete irgendeine erfahrene Hand, die besonders auf die ukrainischen kulturell aufklärenden Institutionen in der Stadt hinwies.“ Am Pogrom beteiligten sich „die besten, durch die Revolution am wenigsten demoralisierten“ Truppenteile, die für die Offensive sorgfältigst ausgesucht worden waren. Aber noch offener enthüllten dabei ihr Antlitz die Führer der Offensive, die alten zaristischen Kommandeure, erprobte Pogromorganisatoren.

Am 9. Juli telegraphierten Komitees und Kommissare der II. Armee an die Regierung: „Die am 6. Juli an der Front der II. Armee begonnene deutsche Offensive wächst sich zu einem unermeßlichen Unglück aus ... In der Stimmung der Truppenteile, die vor kurzem mit heroischer Anstrengung der Minderheit in Bewegung gebracht wurden, vollzieht sich ein schroffer und katastrophaler Umschwung. Der Angriffselan hat sich schnell erschöpft. Die Mehrzahl der Truppenteile befindet sich im Zustande stetig wachsender Auflösung. Von Vorgesetzten und Gehorsam kann nicht mehr die Rede sein, Überredungen und Ermahnungen haben ihre Kraft verloren, – sie werden mit Bedrohungen oder auch mit Erschießung beantwortet.“

Der Oberkommandierende der Südwestfront erließ mit Zustimmung der Kommissare und Komitees einen Befehl, auf Fliehende zu schießen.

Am 12. Juni kehrte der Oberkommandierende der Westfront, Denikin, zu seinem Stab zurück „mit Verzweiflung im Herzen und mit dem klaren Bewußtsein des völligen Zusammenbruchs der letzten noch glimmenden Hoffnung auf ... ein Wunder“.

Die Soldaten wollten nicht kämpfen. Die Truppen in der Etappe, an die sich die geschwächten Truppenteile nach Besetzung der feindlichen Schützengräben um Ersatz wandten, antworteten: „Weshalb seid ihr zum Angriff übergegangen? Wer hat es euch befohlen? Beenden soll man den Krieg, aber nicht angreifen.“ Der Kommandeur des 1. Sibirischen Korps, das als eines der besten galt, meldete, daß die Soldaten mit Einbruch der Nacht in Scharen, kompanieweise, die nicht attackierte erste Linie zu verlassen begannen. „Ich begriff daß wir Vorgesetzten ohnmächtig waren, die elementare Psychologie der Soldatenmasse zu ändern – und habe bitter, bitter und lange geweint.“

Eine Kompanie weigerte sich sogar, dem Gegner ein Flugblatt über die Einnahme Galitschs zuzuwerfen, solange nicht ein Soldat da sei, der zuvor den deutschen Text ins Russische übersetzen könnte. Diese Tatsache zeigt den ganzen Umfang des Mißtrauens der Soldatenmasse zur Führung, sei es jetzt die alte, sei es die neue vom Februar. Die jahrhundertelang erduldeten Verhöhnungen und Mißhandlungen drangen vulkanisch nach außen. Die Soldaten fühlten sich wiederum betrogen. Die Offensive führte nicht zum Frieden, sondern zum Krieg. Die Soldaten aber wollten keinen Krieg. Und sie hatten recht. Die im Hinterlande verkrochenen Patrioten hetzten und brandmarkten die Soldaten als Drückeberger. Doch die Soldaten hatten recht. Es leitete sie ein richtiger nationaler Instinkt, hervorgebrochen aus dem Bewußtsein unterjochter, betrogener, geschundener, von revolutionärer Hoffnung aufgerichteter und wieder in den blutigen Trog hinabgestürzter Menschen. Die Soldaten hatten recht. Die Fortsetzung des Krieges konnte dem russischen Volke nichts bringen als neue Opfer, Erniedrigungen, Nöte, nichts als Verschärfung der inneren und äußeren Knechtschaft.

Die patriotische Presse, nicht nur die kadettische, sondern auch die sozialistische, war im Jahre 1917 darin unermüdlich, den russischen Soldaten, den Deserteuren und Feiglingen die heroischen Bataillone der Großen Französischen Revolution gegenüberzustellen. Diese Gegenüberstellungen verraten nicht nur Unverständnis für die Dialektik des revolutionären Prozesses, sondern auch völlige historische Unbildung.

Die hervorragenden Feldherren der Französischen Revolution und des Imperiums begannen stets als Disziplinbrecher und Desorganisatoren; Miljukow würde sagen, als Bolschewiki. Der spätere Marschall Davout zersetzte als Leutnant d’Avoust in den Jahren 1789-1790 monatelang die „normale“ Disziplin in der Garnison Aisdenne, indem er die Vorgesetzten verjagte. In ganz Frankreich vollzog sich bis Mitte des Jahres 1790 der Prozeß des völligen Verfalls der alten Armee. Die Soldaten des Vincenner Regiments zwangen die Offiziere, gemeinsam mit ihnen zu speisen. Die Flotte jagte ihre Offiziere davon. In 20 Regimentern wurden Gewaltakte gegen den Kommandobestand verübt. In Nancy sperrten drei Regimenter ihre Offiziere ins Gefängnis. Seit 1790 wurden die Führer der Französischen Revolution nicht müde, anläßlich der militärischen Exzesse zu wiederholen: „Die Exekutivmacht trägt die Schuld, da sie die Offiziere, die der Revolution feindlich sind, nicht absetzt.“ Es ist bemerkenswert, daß für die Auflösung des alten Offizierskorps sowohl Mirabeau wie Robespierre plädierten. Der eine beabsichtigte, so schnell wie möglich die feste Disziplin aufzurichten. Der andere wollte die Konterrevolution entwaffnen. Beide aber hatten begriffen: das Leben der alten Armee war zu Ende.

Allerdings vollzog sich die Russische Revolution zum Unterschiede von der Französischen während des Krieges. Daraus aber ergibt sich keineswegs eine Ausnahme für das von Engels abgeleitete historische Gesetz. Im Gegenteil, die Bedingungen des langwierigen und unglücklichen Krieges vermochten den Prozeß der revolutionären Auflösung der Armee nur zu beschleunigen und zu verschärfen. Die mißglückte und verbrecherische Offensive der Demokratie tat das übrige. Jetzt sagten die Soldaten bereits allgemein: „Genug des Blutvergießens! Wozu Freiheit und Boden, wenn wir nicht da sein werden?“ Wenn die erleuchteten Pazifisten den Versuch unternehmen, den Krieg mittels rationalistischer Argumente abzuschaffen, wirken sie einfach lächerlich. Wenn aber die bewaffneten Massen beginnen, Argumente der Vernunft gegen den Krieg anzuführen, dann bedeutet dies das Ende des Krieges.

 


Zuletzt aktualisiert am 15.10.2003