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Entgegen allen offiziellen Theorien, Deklarationen und Aushängeschildern besaß die Provisorische Regierung die Macht nur auf dem Papier. Ungeachtet des Widerstandes der sogenannten Demokratie, schritt die Revolution vorwärts, hob neue Massen empor, stärkte die Sowjets, bewaffnete, wenn auch in beschränktem Maße, die Arbeiter. Die lokalen Regierungskommissare und die ihnen beigeordneten „öffentlichen Komitees“, in denen in der Regel Vertreter der bürgerlichen Organisationen vorherrschten, wurden naturnotwendig und mühelos von den Sowjets verdrängt. In den Fällen, wo die Agenten der Zentralmacht Widerstand zu leisten versuchten, entbrannten heftige Konflikte. Die Kommissare beschuldigten die lokalen Sowjets der Mißachtung der Zentralmacht. Die bürgerliche Presse heulte auf: Kronstadt, Schlüsselburg und Zarizyn seien von Rußland abgefallen, hätten sich in selbständige Republiken verwandelt. Die lokalen Sowjets protestierten gegen solchen Unsinn. Die Minister gerieten in Erregung. Regierungssozialisten reisten in die Provinz, versuchten zu überreden, drohten, rechtfertigten sich vor der Bourgeoisie. Doch all das änderte das Kräfteverhältnis nicht. Die Unabwendbarkeit der Prozesse, die die Doppelherrschaft untergruben, kam schon darin zum Ausdruck, daß sie, wenn auch nicht überall im gleichen Tempo, im ganzen Lande vor sich gingen. Aus Kontrollorganen verwandelten sich die Sowjets in Verwaltungsorgane. Sie wollten von keiner Theorie der Machtteilung etwas, wissen und mischten sich in die Verwaltung der Armee ein, in Wirtschaftskonflikte, Ernährungs- und Transportfragen und sogar Gerichtsangelegenheiten. Unter dem Druck der Arbeiter dekretierten die Sowjets den Achtstundentag, setzten übereifrige reaktionäre Administratoren ab, entließen die unerträglichsten Kommissare der Provisorischen Regierung, nahmen Verhaftungen und Haussuchungen vor, untersagten das Erscheinen feindlicher Zeitungen. Unter dem Einfluß der ständig anwachsenden Ernährungsschwierigkeiten und des Warenhungers griffen die Provinzsowjets zu Preisregulierungen, Ausfuhrverboten für bestimmte Gouvernements und zur Requisition von Vorräten. Dabei standen überall an der Spitze der Sowjets Sozialrevolutionäre und Menschewiki, die mit Entrüstung die bolschewistische Parole „Alle Macht den Sowjets“ ablehnten.
Sehr lehrreich war in dieser Beziehung die Tätigkeit des Sowjets in Tiflis, dem Herzen der menschewistischen Gironde, die der Februarrevolution Führer wie Zeretelli und Tschcheidse gegeben und später, nachdem sie sich in Petrograd rettungslos verbraucht, ihnen Asyl gewährt hat. Der von Jordania, dem späteren Haupt des unabhängigen Georgiens geleitete Tifliser Sowjet, mußte auf Schritt und Tritt die Prinzipien der darin herrschenden Menschewiki verletzen und wie eine Regierungsmacht handeln. Der Sowjet konfiszierte für seine Bedürfnisse eine Privatdruckerei, nahm Verhaftungen vor, leitete Untersuchung und Gerichtsverfahren in politischen Prozessen, setzte die Brotration fest, bestimmte Preise für Nahrungsmittel und unentbehrliche Bedarfsartikel. Der Widerspruch, der sich von den ersten Tagen an zwischen offizieller Doktrin und Leben ergab, fand erst im Laufe des März und April eine Steigerung.
In Petrograd wurde mindestens das Dekorum gewahrt, wenn auch, wie wir gesehen haben, nicht immer. Die Apriltage jedoch hatten zu eindeutig die Ohnmacht der Provisorischen Regierung entschleiert und gezeigt, daß sie auch in der Hauptstadt keine ernstliche Stütze besaß. Im letzten Drittel des April führte die Regierung nur noch ein qualvolles, im Erlöschen begriffenes Leben. „Mit Wehmut sprach Kerenski davon, daß es keine Regierung mehr gäbe, sie arbeite nicht, sondern bespräche nur noch ihre Lage“ (Stankewitsch). Von dieser Regierung kann man im allgemeinen sagen, daß sie bis zu den Oktobertagen in schwierigen Momenten Krisen durchmachte und in den Pausen zwischen den Krisen ... existierte. Indem sie fortwährend „ihre Lage besprach“, hatte sie ohnehin keine Zeit, sich der Arbeit zu widmen.
Aus der Krise, die durch die Aprilprobe der kommenden Kämpfe entstanden war, waren theoretisch drei Auswege denkbar. Entweder mußte die Macht gänzlich an die Bourgeoisie übergehen: das war nicht anders als durch Bürgerkrieg zu verwirklichen; Miljukow hatte es versucht, war aber gescheitert. Oder die Macht mußte völlig an die Sowjets abgetreten werden: das war ohne jeden Bürgerkrieg zu erreichen, durch eine Handbewegung, es hieß nur wollen. Doch die Versöhnler wollten nicht wollen, während die Massen noch immer den Glauben an die Versöhnler bewahrten – wenn er auch bereits einen Riß hatte. Auf diese Weise waren die beiden Hauptauswege – sowohl auf der bürgerlichen wie auf der proletarischen Linie – versperrt. Es blieb die dritte Möglichkeit: der verworrene, geteilte, ängstliche Halbausweg des Kompromisses, sein Name – Koalition.
Am Ausgang der Apriltage dachten die Sozialisten an eine Koalition nicht im entferntesten: diese Menschen vermochten überhaupt nie etwas vorauszusehen. Mit der Resolution vom 21. April verwandelte das Exekutivkomitee die Doppelherrschaft offiziell aus einer Tatsache in ein konstitutionelles Prinzip. Aber die Weisheitseule hatte auch diesmal ihren Flug zu spät unternommen: die juristische Weihe der Märzform der Doppelherrschaft – Zaren und Propheten – wurde in dem Augenblick vollzogen, als diese Form bereits durch das Auftreten der Massen gesprengt war. Die Sozialisten bemühten sich, vor dieser Tatsache die Augen zu schließen. Miljukow erzählt, daß Zeretelli, als seitens der Regierung die Frage der Koalition gestellt wurde, erklärt habe: „Welchen Nutzen habt ihr davon, wenn wir in eure Reihen eintreten? Wir würden ja ..., falls ihr euch unnachgiebig zeigen solltet, gezwungen sein, mit Lärm aus dem Ministerium auszutreten.“ Zeretelli versuchte, die Liberalen mit seinem künftigen „Lärm“ zu schrecken. Zur Begründung ihrer Haltung appellierten die Menschewiki, wie stets, an die Interessen der Bourgeoisie. Doch das Wasser stieg an die Kehle. Kerenski schreckte das Exekutivkomitee: „Die Regierung befindet sich augenblicklich in einer unerträglich schwierigen Situation; die Demissionsgerüchte sind kein politisches Spiel.“ Gleichzeitig setzte ein Druck seitens der bürgerlichen Kreise ein. Die Moskauer Stadtduma erklärte sich in einer Resolution für die Koalition. Am 26. April, als der Boden genügend vorbereitet war, verkündete die Provisorische Regierung in einem besonderen Aufruf die Notwendigkeit, „jene aktiven schöpferischen Kräfte des Landes, die sich bisher nicht daran beteiligt hatten“, zur Staatsarbeit heranzuziehen. Die Frage war in aller Schärfe gestellt.
Immerhin war die Stimmung gegen die Koalition noch recht stark. Gegen den Eintritt der Sozialisten in die Regierung äußerten sich Ende April die Sowjets von Moskau, Tiflis, Odessa, Jekaterinburg, Nishnij Nowgorod, Twer und anderen Orten. Ihre Beweggründe drückte ein menschewistischer Führer in Moskau kraß aus: wenn die Sozialisten in die Regierung eintreten, wird niemand vorhanden sein, die Massenbewegung „in bestimmte Fahrwasser“ zu leiten. Aber es war schwer, diese Erwägung den Arbeitern und Soldaten zu suggerieren, gegen die sie gerichtet war. Soweit die Massen noch nicht mit den Bolschewiki gingen, waren sie durchweg für den Eintritt der Sozialisten in die Regierung. Wenn es gut ist, daß Kerenski Minister ist, dann sind sechs Kerenski noch besser. Die Massen wußten nicht, daß dies Koalition mit der Bourgeoisie hieß und daß die Bourgeoisie sich durch die Sozialisten gegen das Volk decken wollte. Von der Kaserne aus betrachtet, sah die Koalition anders aus als vom Mariinski-Palais. Die Massen wollten durch die Sozialisten die Bourgeoisie aus der Regierung verdrängen. So verquickten sich zwei in entgegengesetzte Richtungen gehende Druckwirkungen für einen kurzen Augenblick in eins.
In Petrograd stimmte eine Reihe von Truppenteilen, darunter auch die den Bolschewiken freundliche Panzerdivision, für eine Koalitionsregierung. Desgleichen in überwiegender Mehrheit die Provinz. Bei den Sozialrevolutionären herrschte die Koalitionsstimmung vor, nur fürchteten sie sieh, ohne die Menschewiki in die Regierung zu gehen. Für die Koalition war schließlich auch die Armee. Später, auf dem Rätekongreß im Juni, hat ein Delegierter die Stellung der Front zur Frage der Macht recht gut wiedergegeben: „Wir glaubten, jener Seufzer, den die Armee ausstieß, als sie erfuhr, daß die Sozialisten nicht ins Ministerium wollten, zur Zusammenarbeit mit Menschen, denen sie nicht vertrauten, indes doch die gesamte Armee gezwungen war, weiter mit Menschen zu sterben, denen sie nicht traute – wir glaubten, jener Seufzer habe Petrograd erreicht.“
Von entscheidender Bedeutung war in dieser Frage, wie in allen anderen, der Krieg. Die Sozialisten hatten anfangs die Absicht, die Frage des Krieges wie die der Macht zu übergehen und zu warten. Doch der Krieg wartete nicht. Die Verbündeten warteten nicht. Und auch die Front wollte nicht länger warten. Gerade während der Regierungskrise kamen Frontdelegierte zum Exekutivkomitee und stellten den Führern die Frage: Führen wir Krieg oder nicht? Das hieß: übernehmt ihr die Verantwortung für den Krieg oder nicht? Nicht zu antworten war unmöglich. Die gleiche Frage stellte in der Sprache halber Drohungen die Entente.
Die Apriloffensive an der westeuropäischen Front kam die Alliierten teuer zu stehen und brachte keine Resultate. Die französische Armee geriet unter dem Einfluß der Russischen Revolution und des Mißerfolges der Offensive, von der man so viel erhofft hatte, ins Schwanken. Die Armee „wand sich unter den Händen“ – nach den Worten des Marschalls Pétain. Um diesen bedrohlichen Prozeß aufzuhalten, benötigte die französische Regierung unbedingt eine russische Offensive, und bis dahin – mindestens das feste Versprechen der Offensive. Außer der materiellen Erleichterung, die auf diese Weise geschaffen werden sollte, mußte man so schnell wie möglich von der russischen Revolution die Friedensaureole herunterreißen, die Hoffnung aus den Herzen der französischen Soldaten tilgen, die Revolution durch Beteiligung an den Ententeverbrechen kompromittieren, das Banner des Aufstandes der russischen Arbeiter und Soldaten durch Blut und Schmutz der imperialistischen Schlächterei zerren.
Um dieses hehre Ziel zu erreichen, wurden alle Hebel in Bewegung gesetzt. Nicht an letzter Stelle wirkten dabei die patriotischen Ententesozialisten mit. Die erprobtesten von ihnen kommandierte man in das revolutionäre Rußland ab. Sie trafen in der vollen Rüstung eines stabilen Gewissens und loser Zunge ein. „Die ausländischen Sozialpatrioten empfing man im Mariinski-Palais mit offenen Armen ...“, schreibt Suchanow. „Branting, Cachin, O’Grady, de Brouckère und andere mehr fühlten sich dort in heimischer Atmosphäre und bildeten mit unseren Ministern eine Einheitsfront gegen den Sowjet.“ Man muß gestehen, daß sogar dem Versöhnlersowjet mit diesen Herren nicht immer wohl zumute war.
Die alliierten Sozialisten bereisten die Fronten. „General Alexejew“, schrieb Vandervelde, „tat alles, um unsere Bemühungen jenen hinzuzufügen, die etwas früher von Delegierten der Schwarzmeerflotte, von Kerenski, Albert Thomas aufgewandt worden waren, um zu vollenden, was er moralische Vorbereitung der Offensive nannte.“ Der Vorsitzende der Zweiten Internationale und der ehemalige Generalstabschef Nikolaus II. fanden auf diese Weise eine gemeinsame Sprache im Kampfe um die erhabenen Ideale der Demokratie. Renaudel, einer der Führer des französischen Sozialismus, konnte erleichtert ausrufen: „Jetzt können wir, ohne zu erröten, vom Kriege ums Recht sprechen.“ Mit dreijähriger Verspätung erfuhr die Menschheit, daß diese Herren irgendeinen Grund gehabt hatten, zu erröten.
Am 1. Mai beschloß endlich das Exekutivkomitee, nachdem es alle nur denkbaren Stadien der Schwankung durchgemacht hatte, mit 41 gegen 18 Stimmen bei 3 Stimmenthaltungen, die Teilnahme an der Koalitionsregierung. Dagegen stimmten nur die Bolschewiki und ein Häuflein Menschewiki-Internationalisten.
Es ist nicht uninteressant, daß der anerkannte Führer der Bourgeoisie, Miljukow, als Opfer des engeren Anschlusses der Demokratie an das Bürgertum fiel. „Ich bin nicht gegangen, ich bin gegangen worden“, sagte er später. Gutschkow hatte sich schon am 30. April entfernt, nachdem er es abgelehnt hatte, die Deklaration der Rechte des Soldaten zu unterzeichnen. Wie düster es schon damals in den Herzen der Liberalen ausgesehen haben mag, läßt sich daraus folgern, daß das Zentralkomitee der Kadettenpartei zur Rettung der Koalition den Beschluß gefaßt hatte, nicht auf Miljukows Verbleiben in der Regierung zu bestehen. „Die Partei hat ihren Führer verraten“, schreibt der rechte Kadett Isgojew. Es war ihr allerdings keine große Wahl geblieben. Derselbe Isgojew erklärt vollkommen richtig: „Ende April war die Partei der Kadetten aufs Haupt getroffen. Sie erhielt einen moralischen Schlag, von dem sie sich nie mehr erholen konnte.“
Aber auch über das Schicksal Miljukows gebührte das letzte Wort der Entente. England war mit der Ablösung des Dardanellenpatrioten durch einen disziplinierteren „Demokraten“ völlig einverstanden. Henderson, der nach Petrograd mit Vollmachten gekommen war, nötigenfalls Buchanan auf dem Gesandtenposten abzulösen, betrachtete einen solchen Wechsel, nachdem er sich über die Lage orientiert hatte, für überflüssig. Tatsächlich war gerade Buchanan am rechten Platze, denn er erwies sich als ein entschiedener Gegner von Annexionen, sofern diese mit dem Appetit Großbritanniens nicht übereinstimmten: „Wenn Rußland Konstantinopel nicht braucht“, flüsterte er Tereschtschenko zart ein, „dann um so besser, je schneller es dies verkündet.“ Frankreich unterstützte anfangs Miljukow. Doch war hier die Rolle Albert Thomas’ von Bedeutung, der nach Buchanan und den Führern des Sowjets sich gleichfalls gegen Miljukow aussprach. So wurde der den Massen verhaßte Politiker von den Alliierten, Demokraten und schließlich von der eigenen Partei verlassen.
Miljukow hatte im Grunde genommen eine so grausame Hinrichtung nicht verdient, mindestens nicht von diesen Händen. Die Koalition aber forderte ein läuterndes Opfer. Miljukow wurde den Massen als der böse Geist hingestellt, der den allgemeinen Triumphzug zum demokratischen Frieden getrübt hatte. Indem sie Miljukow opferte, läuterte sich die Koalition mit einem Schlage von den Sünden des Imperialismus.
Der Petrograder Sowjet bestätigte am 5. Mai die Zusammensetzung der Koalitionsregierung und deren Programm. Die Bolschewiki brachten gegen die Koalition im ganzen 100 Stimmen auf. „Die Versammlung begrüßte stürmisch die Ministerreden ...“, berichtet Miljukow ironisch. „Mit den gleichen stürmischen Ovationen war jedoch erst am Vorabend der aus Amerika eingetroffene Trotzki, „der alte Führer der ersten Revolution“, empfangen worden, der den Eintritt der Sozialisten in das Ministerium in scharfen Worten verurteilt und behauptet hatte, die „Doppelherrschaft“ sei nicht aufgehoben, sondern nunmehr „lediglich ins Ministerium verlegt“ und die wahre Einzelherrschaft, die Rußland „retten“ solle, werde erst dann eintreten, wenn der „nächste Schritt – die Übergabe der Macht in die Hände der Arbeiter- und Soldatendeputierten“, getan sein würde. Dann werde eine „neue Epoche anbrechen – eine Epoche von Blut und Eisen, doch nicht mehr als Kampf der Nationen gegen Nationen, sondern der leidenden, unterdrückten Klasse gegen die herrschenden Klassen“.“ So die Darstellung Miljukows. Zum Schluß seiner Rede formulierte Trotzki drei Regeln für die Politik der Massen: „Drei revolutionäre Gebote: der Bourgeoisie mißtrauen; die Führer kontrollieren; nur auf die eigene Kraft bauen.“ Über dieses Auftreten bemerkt Suchanow: „Auf Zustimmung zu seiner Rede hatte er von vornherein nicht rechnen können.“ Und tatsächlich, der Redner wurde am Schluß seiner Ansprache viel kühler behandelt als zu Beginn. Suchanow, überaus feinfühlig für intellektuelle Couleurs, fügt hinzu: „Es kursierten über ihn, der sich der bolschewistischen Partei noch nicht angeschlossen hatte, bereits Gerüchte, er sei noch schlimmer als Lenin.“
Die Sozialisten nahmen sich von fünfzehn Ministerportefeuilles sechs. Sie wollten in der Minderheit sein. Selbst nachdem sie sich entschlossen hatten, offen der Regierung anzugehören, setzten sie das Schlagdamespiel fort. Fürst Lwow blieb Premier, Kerenski wurde Kriegs- und Marineminister, Tschernow Ackerbauminister. Miljukows Posten als Außenminister besetzte der Kenner des Balletts, Tereschtschenko, der gleichzeitig Kerenskis und Buchanans Vertrauensperson wurde. Alle drei einigten sich dahingehend, Rußland könne auch ohne Konstantinopel vorzüglich auskommen. An die Spitze des Justizministeriums geriet der unbedeutende Advokat Perewersew, der später im Zusammenhang mit dem Juliprozeß gegen die Bolschewiki zu vorübergehender Berühmtheit gelangte. Zeretelli begnügte sich, um seine Zeit dem Exekutivkomitee nicht zu entziehen, mit dem Ministerium für Post- und Telegraphenwesen, Skobeljew, der Arbeitsminister wurde, versprach im ersten Überschwang, die Gewinne der Kapitalisten um sämtliche hundert Prozent einzuschränken was bald zu einem geflügelten Wort wurde. Der Symmetrie halber ernannte man den Moskauer Großunternehmer Konowalow zum Minister für Handel und Industrie. Er führte einige Gestalten der Moskauer Börse ein, denen man wichtige Staatsposten anvertraute. Konowalow nahm allerdings bereits nach zwei Wochen seine Entlassung, um damit seinen Protest gegen die „Anarchie“ in der Wirtschaft auszudrücken, während Skobeljew schon vorher seinen Attentatsplan auf den Gewinn aufgegeben und sich dem Kampfe gegen die Anarchie gewidmet hatte: er würgte Streiks ab und rief die Arbeiter zur Selbsteinschränkung auf.
Die Regierungsdeklaration bestand, wie es sich für eine Koalition geziemt, aus Gemeinplätzen. Sie sprach von aktiver Außenpolitik zugunsten des Friedens, Lösung der Ernährungsfrage und Vorbereitung der Lösung der Bodenbesitzfrage. Das waren durchweg aufgeblasene Phrasen. Der einzige wenigstens den Absichten nach ernsthafte Punkt sprach von der Vorbereitung der Armee „für defensive und offensive Aktionen zur Abwendung einer etwaigen Niederlage Rußlands und seiner Verbündeten“. In dieser Aufgabe bestand im wesentlichen der tiefere Sinn der Koalition, die als letzter Einsatz der Entente in Rußland zustande gekommen war.
„Die Koalitionsregierung“, schrieb Buchanan, „ist unsere letzte und fast einzige Hoffnung auf Rettung der Kriegslage an dieser Front.“ So stand hinter den Grundsätzen, Reden, Abkommen und Abstimmungen der liberalen und demokratischen Führer der Februarrevolution der imperialistische Regisseur in Gestalt der Entente. Gezwungen, im Interesse der der Revolution kindlichen Ententefront eiligst in die Regierung einzutreten, nahmen die Sozialisten etwa ein Drittel der Macht und den ganzen Krieg auf sich.
Der neue Außenminister mußte zwei Wochen lang die Veröffentlichung der Antworten der alliierten Regierungen auf die Deklaration vom 27. März zurückhalten, um solche stilistische Änderungen zu erwirken, die die Polemik gegen die Deklaration des Koalitionskabinetts genügend verschleierten. Die „aktive Außenpolitik zugunsten des Friedens“ bestand nunmehr darin, daß Tereschtschenko eifrigst die Texte der diplomatischen Telegramme, die die alten Kanzleien für ihn aufsetzten, redigierte, „Ansprüche“ ausstrich, „Forderungen der Gerechtigkeit“ darüber schrieb oder für „Sicherung der Interessen“, „Wohl der Völker“ setzte. Mit leisem Zähneknirschen sagt Miljukow von seinem Nachfolger: „Die alliierten Diplomaten wußten, daß die „demokratische“ Terminologie seiner Depeschen eine unfreiwillige Konzession an die Forderungen des Augenblicks war, und übten Nachsicht mit ihr.“
Thomas und der kurz vorher eingetroffene Vandervelde legten unterdes die Hände nicht in den Schoß: eifrigst waren sie damit beschäftigt, dem „Wohl der Völker“ eine den Bedürfnissen der Entente angepaßte Deutung zu gehen und die Einfaltspinsel aus dem Exekutivkomitee erfolgreich zu bearbeiten. „Skobeljew und Tschernow“, meldete Vandervelde, „protestierten energisch gegen jeden Gedanken an einen vorzeitigen [prématurée] Frieden.“ Es ist nicht verwunderlich, wenn Ribot, auf solche Helfershelfer gestützt, schon am 9. Mai dem französischen Parlament erklären konnte, er beabsichtige, „ohne auf irgend etwas zu verzichten“, Tereschtschenko eine befriedigende Antwort zu erteilen.
Ja, die wahren Herren der Lage hatten nicht die Absicht, auf irgend etwas zu verzichten, was man erwischen konnte. Gerade in jenen Tagen hatte Italien die Unabhängigkeit Albaniens proklamiert und – es sogleich unter italienisches Protektorat gestellt. Das war kein schlechter Anschauungsunterricht. Die Provisorische Regierung plante einen Protest, weniger im Namen der Demokratie, als wegen des verletzten „Gleichgewichts“ auf dem Balkan, doch zwang ihre Ohnmacht sie rechtzeitig, sich auf die Zunge zu beißen.
Neu an der Außenpolitik der Koalition war nur die hastige Annäherung an Amerika. Diese frische Freundschaft bot drei nicht unwichtige Bequemlichkeiten: die Vereinigten Staaten waren weniger durch militärische Niederträchtigkeiten kompromittiert als Frankreich und England; die transatlantische Republik eröffnete vor Rußland weite Perspektiven in bezug auf Anleihen und militärische Ausrüstung; endlich kam Wilsons Diplomatie – eine Mischung von demokratischer Bigotterie und Gaunerei – den stilistischen Bedürfnissen der Provisorischen Regierung sehr gelegen. Wilson schickte die Mission des Senators Root nach Rußland und richtete eine seiner Pastorbotschaften an die Provisorische Regierung, wobei er erklärte: „Es darf kein Volk gewaltsam einer Herrschaft unterworfen werden, unter der es nicht leben will.“ Das Kriegsziel selbst bezeichnete der amerikanische Präsident zwar nicht sehr bestimmt, aber verlockend: „Der Welt dauerhaften Frieden und den Völkern künftigen Wohlstand und Glück zu sichern.“ Was konnte es Besseres geben? Gerade das hatten Tereschtschenko und Zeretelli nötig: frische Kredite und pazifistische Gemeinplätze. Mit Hilfe der ersteren und unter dem Schleier der anderen konnte man an die Vorbereitung der Offensive gehen, die der Shylock an der Seine, wie besessen mit allen seinen Wechseln fuchtelnd, forderte.
Schon am 11. Mai reiste Kerenski an die Front ab und begann die Agitationskampagne für die Offensive. „Die Welle des Enthusiasmus in der Armee wächst und verbreitert sich“, berichtete der neue Kriegsminister der Provisorischen Regierung, sich vor Enthusiasmus über die eigenen Reden verschluckend. Am 14. Mai erläßt Kerenski einen Armeebefehl: „Ihr werdet gehen, wohin eure Führer euch leiten werden“, und um diese dem Soldaten gut bekannte und wenig verlockende Perspektive auszuschmücken, fügt er hinzu: „Ihr werdet auf den Spitzen eurer Bajonette den Frieden tragen.“ Am 22. Mai wurde der vorsichtige, übrigens reichlich unbegabte General Alexejew seiner Eigenschaft als Oberkommandierender enthoben und durch den elastischeren und unternehmungslustigeren General Brussilow ersetzt. Die Demokraten bereiteten mit aller Kraft die Offensive, das heißt die große Katastrophe der Februarrevolution vor.
Der Sowjet war das Organ der Arbeiter und Soldaten, das heißt Bauern. Die Provisorische Regierung war das Organ der Bourgeoisie. Die Kontaktkommission war das Organ der Versöhnung. Die Koalition vereinfachte die Mechanik, indem sie die Provisorische Regierung selbst in eine Kontaktkommission verwandelte. Die Doppelherrschaft war damit aber keinesfalls beseitigt. Ob Zeretelli Mitglied der Kontaktkommission oder Postminister war – nicht diese Frage entschied. Im Lande existierten zwei nicht zu vereinbarende Staatsorganisationen: die Hierarchie der von oben herab ernannten alten und neuen Beamten, gekrönt durch die Provisorische Regierung, und das System der gewählten Sowjets, die bis zur fernsten Kompanie an der Front hinabreichten. Diese zwei Regierungssysteme stützten sich auf verschiedene Klassen, die sich erst anschickten, ihre historische Rechnung zu regeln. Indem sie auf die Koalition eingingen, wähnten die Versöhnler, das Rätesystem allmählich friedlich abschaffen zu können. Sie waren davon überzeugt, die Macht der in ihrer Person konzentrierten Sowjets werde nunmehr in die offizielle Regierung hinüberströmen. Kerenski versicherte Buchanan kategorisch, „die Sowjets werden eines natürlichen Todes sterben“. Diese Hoffnung wurde bald zur offiziellen Doktrin der Versöhnler. Ihr Gedanke war, das Schwergewicht des Lebens müsse sich überall von den Sowjets zu den neuen demokratischen Selbstverwaltungsorganen verschieben. Den Platz des Zentralexekutivkomitees sollte die Konstituierende Versammlung einnehmen. Die Koalitionsregierung schickte sich somit an, die Brücke zum Regime der bürgerlich parlamentarischen Republik zu bilden.
Die Revolution aber wollte und konnte diesen Weg nicht gehen. Das Schicksal der neuen Stadtdumas war in diesem Sinne eine unzweideutige Voraussage. Die Dumas waren auf der Basis des weitestgehenden Wahlrechtes entstanden. Soldaten hatten gleiches Wahlrecht wie Zivilbevölkerung, Frauen wie Männer. Am Kampfe nahmen vier Parteien teil. Die Nowoje Wremja (Neue Zeit), das alte offizielle Organ der zaristischen Regierung, eine der ehrlosesten Zeitungen der Welt – und das will was besagen! –, forderte die Rechten, Nationalisten, Oktobristen auf, für die Kadetten zu stimmen. Als aber die politische Ohnmacht der besitzenden Klassen klar zutage trat, stellte die Mehrzahl der bürgerlichen Zeitungen die Losung auf: „Wählt, wen ihr wollt, nur keine Bolschewiki!“ In allen Dumas und Semstwos bildeten die Kadetten den rechten Flügel, die Bolschewiki die wachsende linke Minderheit. Die Mehrheit, in der Regel eine überwiegende, gehörte den Sozialrevolutionären und Menschewiki.
Es könnte scheinen, die neuen Dumas, die sich von den Sowjets durch größere Vollständigkeit der Vertretung unterschieden, hätten die größere Autorität genießen müssen. Als öffentlich-rechtliche Institutionen besaßen die Dumas außerdem den gewaltigen Vorteil offizieller staatlicher Unterstützung. Miliz, Verpflegung, städtischer Transport, Volksbildung unterstanden offiziell den Dumas. Die Sowjets besaßen als „Privat“-Institutionen weder Budget noch Rechte. Und trotzdem blieb die Macht in den Händen der Sowjets. Die Dumas waren im wesentlichen nur Munizipalkommissionen der Sowjets. Der Wettstreit zwischen Sowjetsystem und formaler Demokratie war m seinem Endergebnis um so verblüffender, als er sich unter Leitung der gleichen Parteien, Sowjetrevolutionären und Menschewiki, vollzog, die, in Dumas wie Sowjets vorherrschend, tief davon überzeugt waren, daß die Sowjets den Dumas Platz zu machen hätten, und in dieser Richtung zu tun suchten, was sie nur konnten.
Die Erklärung für diese bemerkenswerte Erscheinung, über die man im Strudel der Ereignisse im allgemeinen wenig nachdachte, ist einfach: Munizipalitäten, wie jegliche Einrichtungen der Demokratie überhaupt, können ihre Tätigkeit nur auf der Grundlage stabiler gesellschaftlicher Beziehungen, das heißt eines bestimmten Eigentumssystems ausüben. Das Wesen der Revolution besteht aber darin, daß sie eben diese Grundlage aller Grundlagen in Frage stellt, die zu beantworten lediglich die offene revolutionäre Nachprüfung des Verhältnisses der Klassenkräfte imstande ist. Die Sowjets waren, entgegen der Politik ihrer Leiter, Kampforganisationen der unterdrückten Klassen, die sich teils bewußt, teils halbbewußt zusammenschlossen, um die Grundlagen der Gesellschaftsordnung zu ändern. Die Munizipalitäten dagegen gaben allen Bevölkerungsklassen, auf die Abstraktion Bürger gebracht, gleichmäßige Vertretung und ähnelten unter den Bedingungen der Revolution sehr einer diplomatischen Konferenz, die sich in konventioneller, heuchlerischer Sprache zu verständigen sucht, indes die in ihr vertretenen feindlichen Lager sich fieberhaft auf den Kampf vorbereiten. Im Alltagstrott der Revolution konnten die Munizipalitäten noch ihr Scheindasein fristen. Jedoch an Wendepunkten, wo das Eingreifen der Massen die weitere Richtung der Ereignisse bestimmte, mußten die Munizipalitäten auffliegen und ihre Bestandteile auf verschiedenen Seiten der Barrikade stehen. Es genügte, die parallelen Rollen der Sowjets und Munizipalitäten in der Zeit von Mai bis Oktober gegenüberzustellen, um das Schicksal der Konstituierenden Versammlung beizeiten vorauszusehen.
Mit der Einberufung der Konstituierenden Versammlung übereilte sich die Koalitionsregierung nicht. Die Liberalen, die, entgegen der demokratischen Arithmetik, in der Regierung in der Mehrzahl waren, hatten es gar nicht eilig, in der späteren Konstituierenden Versammlung, wie jetzt in den neuen Dumas, den ohnmächtigen rechten Flügel zu bilden. Die „Sonderberatung über die Einberufung der Konstituierenden Versammlung“ begann erst Ende Mai, drei Monate nach der Umwälzung, ihre Tätigkeit. Die liberalen Juristen spalteten jedes Haar in sechzehn Teile, rührten und schüttelten in Kolben den ganzen demokratischen Bodensatz, stritten endlos über das Wahlrecht der Armee, und darüber, ob Deserteure, die nach Millionen zählten und Mitglieder der früheren Zarenfamilie, die einige Dutzend ausmachten, Stimmrecht zu bekommen hätten oder nicht. Über den Termin der Einberufung wurde nach Möglichkeit geschwiegen. Diese Frage in der Beratungskommission aufzuwerfen, galt überhaupt als Taktlosigkeit, deren nur die Bolschewiki fähig waren.
Wochen vergingen, aber entgegen den Hoffnungen und Voraussagen der Versöhnler starben die Sowjets nicht ab. Durch ihre Führer eingeschläfert und verwirrt, verfielen allerdings auch sie zeitweilig hochgradiger Erschöpfung, doch das erste Gefahrensignal stellte sie wieder auf die Beine und erwies damit für alle unbestreitbar die Sowjets als die Herren der Lage. Obgleich sie dauernd versuchten, die Sowjets zu sabotieren, waren die Sozialrevolutionäre und Menschewiki in allen wichtigen Fällen doch gezwungen, deren Priorität anzuerkennen. Das fand seinen Ausdruck unter anderem darin, daß die besten Kräfte beider Parteien in den Sowjets konzentriert waren. Die Munizipalitäten und Semstwos überließen sie zweitrangigen Männern, Technikern, Administratoren. Das gleiche konnte man auch bei den Bolschewiki beobachten. Nur die Kadetten, die zu den Sowjets keinen Zutritt hatten, konzentrierten ihre besten Kräfte in den Organen der Selbstverwaltung. Aber die hoffnungslose bürgerliche Minderheit vermochte nicht, sie zu ihrem Stützpunkt zu machen.
Die Munizipalitäten betrachtete somit niemand als sein Organ. Über den wachsenden Antagonismus zwischen Arbeitern und Fabrikanten, Soldaten und Offizieren, Bauern und Gutsbesitzern konnte in den Munizipalitäten und Semstwos nicht so offen diskutiert werden wie im eigenen Kreise, im Sowjet einerseits und in den Privatsitzungen der Reichsduma und sonstigen Beratungen der bürgerlichen Politiker andererseits. Man kann sich mit dem Gegner wohl über Kleinigkeiten, nicht aber über Leben und Tod verständigen.
Nimmt man die Marx’sche Formel, daß die Regierung das Komitee der herrschenden Klasse ist, so muß man sagen, die wahren „Komitees“ der um die Macht ringenden Klassen befanden sich außerhalb der Koalitionsregierung. In bezug auf den Sowjet, der in der Regierung als Minderheit vertreten war, wurde das besonders offensichtlich. Doch traf das nicht weniger auf die bürgerliche Mehrheit zu. Die Liberalen hatten keine Möglichkeit, in Gegenwart der Sozialisten ernst und sachlich jene Fragen zu besprechen, die die Bourgeoisie am meisten berührten. Die Verdrängung Miljukows, des anerkannten und unbestrittenen Führers der Bourgeoisie, um den sich der Stab der Besitzenden scharte, hatte symbolischen Charakter, indem sie vollends offenbarte, daß die Regierung exzentrisch in jedem Sinne dieses Wortes war. Das Leben drehte sich um zwei Brennpunkte, von denen der eine rechts, der andere links vom Mariinski-Palais lag.
Ohne zu wagen, innerhalb der Regierung auszusprechen, was sie dachten, lebten die Minister in einer Atmosphäre selbstgeschaffener Konventionen. Die durch die Koalition verhüllte Doppelherrschaft wurde zur Schule für Doppelsinn, Doppelmoral und jegliche Zweideutigkeit überhaupt. Die Koalitionsregierung machte in den nächsten sechs Monaten eine Reihe von Krisen, Umgestaltungen und Umschichtungen durch, doch ihre Wesenszüge der Ohnmacht und Falschheit bewahrte sie bis zu ihrem Todestage.
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Zuletzt aktualisiert am 15.10.2003