Leo Trotzki

 

Geschichte der russischen Revolution

Band 1: Februarrevolution

 

Kapitel 6:
Die Agonie der Monarchie

Die Dynastie fiel bei der Erschütterung wie eine faule Frucht, noch bevor die Revolution Zeit gehabt hatte, an die Lösung ihrer nächsten Aufgaben heranzugehen. Das Bild der alten regierenden Klasse würde unvollendet bleiben, versuchten wir nicht zu zeigen, wie die Monarchie der Stunde ihres Sturzes begegnete.

Der Zar weilte im Hauptquartier, in Mohilew, wohin er sich zu begeben pflegte, nicht weil man seiner dort bedurfte, sondern um sich den Petrograder Behelligungen zu entziehen. Der Hofhistoriker, General Dubenski, der sich beim Zaren im Hauptquartier befand, trug in sein Tagebuch ein: „Ein stilles Leben hat hier begonnen. Alles wird beim alten bleiben. Von ihm (dem Zaren) wird nichts kommen. Es können nur zufällige äußere Ursachen sein, die eine Veränderung erzwingen.“ Am 24. schrieb die Zarin ins Hauptquartier wie stets auf Englisch: „Ich hoffe, daß man den Duma-Kedrinski (es handelt sich um Kerenski) aufhängen wird für seine schrecklichen Reden – das ist unbedingt notwendig. (Gesetz der Kriegszeit.) Und das wird ein Beispiel sein. Alle ersehnen und flehen Dich an, daß Du Deine Festigkeit zeigest.“ Am 25. Februar traf ein Telegramm des Kriegsministers ein, daß in der Hauptstadt Streiks und Arbeiterunruhen ausgebrochen, aber entsprechende Maßnahmen – getroffen seien; Ernstes wäre nicht zu befürchten. Mit einem Wort: Wieder einmal!

Die Zarin, die den Zaren stets lehrte, nicht nachzugehen, bemüht sich auch jetzt festzubleiben. Am 26. telegraphiert sie in offenkundiger Absicht, Nikolaus’ schwankenden Mut zu stärken: „In der Stadt herrscht Ruhe.“ Aber im Abendtelegramm ist sie schon gezwungen, einzugestehen: „In der Stadt sieht es gar nicht gut aus.“ Im Briefe schreibt sie: „Man muß den Arbeitern offen sagen, daß sie keine Streiks machen sollen, wenn sie es aber tun werden, dann muß man sie zur Strafe an die Front schicken. Es sind gar keine Schießereien nötig, man braucht nur Ordnung und darf die Arbeiter nicht über die Brücken lassen.“ Wahrhaftig, man braucht nicht viel: nur Ordnung! Und vor allem, die Arbeiter nicht ins Zentrum lassen, mögen sie in wütender Ohnmacht in ihren Stadtvierteln ersticken.

Am Morgen des 27. Februar rückte der General Iwanow mit einem Bataillon Georgier von der Front zur Hauptstadt ab; er war mit diktatorischen Vollmachten versehen, die er allerdings erst nach Besetzung von Zarskoje Selo bekanntgeben sollte. „Man kann sich kaum eine ungeeignetere Person vorstellen“, schreibt in seinen Erinnerungen General Denikin, der sich späterhin selbst in militärischer Diktatur betätigte, „ein altersschwacher Mann, der sich in einer politischen Situation kaum auskannte und weder Kräfte, noch Energie, noch Willen, noch Strenge besaß.“ Die Wahl war auf Iwanow gefallen, in Erinnerung an die erste Revolution: elf Jahre vorher hatte er Kronstadt „gebändigt“. Diese Jahre waren aber nicht spurlos vergangen: die Bändigen waren gebrechlich geworden, die Gebändigten erwachsen. Der Nord- und der Westfront wurde befohlen, Truppen zum Abmarsch nach Petrograd bereit zu halten. Es ist klar, man meinte, vorderhand sei noch Zeit genug. Iwanow selbst glaubte, alles werde schnell und gut enden, er hatte sogar nicht vergessen, seinen Adjutanten zu beauftragen, in Mohilew Lebensmittel für die Petrograder Bekannten einzukaufen.

Am 27. Februar, morgens, schickte Rodsjanko dem Zaren ein neues Telegramm, das mit den Worten schloß: „Die letzte Stunde ist gekommen, in der sich das Schicksal des Vaterlandes und der Dynastie entscheidet.“ Der Zar sagte zu seinem Hofminister Frederiks: „Schon wieder schreibt mir dieser dicke Rodsjanko allerhand Unsinn, auf den ich ihm nicht einmal antworten werde.“ Doch nein, es ist kein Unsinn! Und man wird antworten müssen.

Gegen Mittag des 27. trifft im Hauptquartier ein Bericht von Chabalow ein über Meutereien in den Pawlowski-, Wolynski-, Litowski- und Preobraschenski-Regimentern. Der Bericht ersucht um zuverlässige Truppen von der Front. Eine Stunde später kommt ein Beruhigungstelegramm vom Kriegsminister: „Die am Morgen entstandenen Unruhen werden von den ihrer Pflicht treugebliebenen Kompanien und Bataillonen energisch unterdrückt ... Bin von baldigem Eintritt der Ruhe fest überzeugt ...“ Nach 7 Uhr jedoch berichtet Belajew bereits: „Mit den wenigen ihrer Pflicht treugebliebenen Abteilungen die Meuterei der Truppen zu unterdrücken, gelingt nicht.“ Er bittet um eiligen Abtransport wirklich zuverlässiger Truppenteile, und zwar in ausreichender Stärke „für gleichzeitiges Vorgehen in verschiedenen Stadtteilen.“

Der Ministerrat hielt an diesem Tage die Zeit für gekommen, aus eigener Machtvollkommenheit die vermeintliche Ursache alles Unheils aus seiner Mitte hinauszudrängen: den halb irrsinnigen Minister des Innern, Protopopow. Gleichzeitig setzte General Chabalow das geheim von der Regierung vorbereitete Dekret in Kraft, wonach auf Allerhöchsten Befehl über Petrograd der Belagerungszustand verhängt sei. Auf diese Weise wurde auch hier der Versuch unternommen, das Heiße mit dem Kalten zu kombinieren, ein wohl kaum vorbedachter, jedenfalls aber aussichtsloser Versuch. Es gelang nicht einmal, die Plakate mit der Proklamierung des Belagerungszustandes in der Stadt anzukleben: der Stadthauptmann Balk besaß weder Kleister noch Pinsel. Diese Behörden konnten überhaupt nichts mehr zusammenkleistern, denn sie gehörten bereits dem Reiche der Schatten an.

Der Hauptschatten des letzten zaristischen Ministeriums war der siebzigjährige Fürst Golizyn, der früher irgendwelche wohltätigen Institutionen der Zarin verwaltet hatte und von ihr in der Periode des Krieges und der Revolution auf den Posten eines Regierungschefs erhoben worden war. Wenn die Freunde diesen, nach der Bezeichnung des liberalen Barons Nolde „gutmütigen russischen Herrn, den alten Schwächling“, fragten, weshalb er ein so mühevolles Amt auf sich genommen habe, erwiderte Golizyn: „Um eine angenehme Erinnerung mehr zu besitzen.“ Dieses Ziel hat er jedenfalls nicht erreicht. Über das Befinden der letzten russischen Regierung in jenen Stunden erzählt ein Bericht Rodsjankos: Bei der ersten Nachricht von dem Marsch der Massen zum Mariinski-Palais, wo die Sitzungen des Ministeriums stattfanden, wurden unverzüglich alle Lichter im Gebäude gelöscht. Die Staatslenker wollten nur eines: daß die Revolution sie unbeachtet lassen sollte. Das Gerücht erwies sich jedoch als erfunden, es kam zu keinem Überfall, und als man wieder Licht machte, hockte manch Mitglied der zaristischen Regierung „zu seiner eigenen Verwunderung“ unter dem Tisch. Welche Erinnerungen sie dort gesammelt haben mögen, ist nicht festgestellt worden.

Aber auch Rodsjankos Befinden war offenbar nicht auf der Höhe. Nach langwieriger und vergeblicher telephonischer Suche nach der Regierung klingelte der Dumavorsitzende wieder mal bei Fürst Golizyn an. Dieser meldet sich: „Bitte, sich in keinerlei Angelegenheiten mehr an mich zu wenden, ich habe demissioniert.“ Auf diesen Bescheid hin ließ sich Rodsjanko, wie sein ihm ergebener Sekretär erzählt, schwer in den Sessel fallen und bedeckte das Gesicht mit beiden Händen ... „Mein Gott, wie schrecklich! ... Keine Regierung ... Anarchie ... Blut ...“, und er weinte leise. Beim Versinken des altersschwachen Gespenstes der zaristischen Macht fühlte sich Rodsjanko unglücklich, verlassen, verwaist. Wie weit war er in dieser Stunde von dem Gedanken entfernt, daß er morgen die Revolution „vertreten“ würde!

Die telephonische Antwort Golizyns ist damit zu erklären, daß der Ministerrat am Abend des 27. endgültig seine Unfähigkeit, mit der entstandenen Lage fertigzuwerden, bekannt und dem Zaren empfohlen hatte, an die Spitze der Regierung eine Person zu stellen, die das allgemeine Vertrauen besitze. Der Zar antwortete Golizyn: „Betreffs Personenwechsel halte ich einen solchen unter den gegebenen Umständen für unzulässig. Nikolaus.“ Auf welche Umstände wartete er denn noch? Gleichzeitig forderte der Zar, „energischste Maßnahmen“ zur Unterdrückung der Meuterei zu treffen. Das war leichter gesagt als getan.

Am nächsten Tage, dem 28., sinkt schließlich auch der Mut der ungezähmten Zarin. „Zugeständnisse sind notwendig“, telegraphiert sie an Nikolaus, „die Streiks dauern an. Viele Truppen sind auf die Seite der Revolution übergegangen. Alice.“ Es bedurfte des Aufstandes der gesamten Garde, der gesamten Garnison, um die hessische Beschützerin des Selbstherrschertums zu der Einsicht zu bringen, „Zugeständnisse sind notwendig“. Jetzt dämmert es auch dem Zaren, daß der „dicke Rodsjanko“ ihm keinen Unsinn mitgeteilt hatte. Nikolaus beschließt, zu seiner Familie zu reisen. Möglich, daß die Generale des Hauptquartiers, denen es ein wenig ungemütlich wurde, ihn etwas schoben.

Der Zarenzug fuhr anfangs ohne Zwischenfall. Wie stets, empfingen ihn Polizeibeamte und Gouverneure. Weitab vom Wirbelsturm der Revolution, im gewohnten Waggon, umgeben vom gewohnten Gefolge, verlor der Zar offenbar wieder das Gefühl der dicht heranrückenden Lösung. Am 28., um 3 Uhr nachmittags, als sein Schicksal durch den Lauf der Ereignisse bereits besiegelt ist, schickt er der Zarin aus Wjasma ein Telegramm: „Herrliches Wetter. Ich hoffe, Ihr fühlt Euch gut und ruhig. Von der Front sind viele Truppen gesandt. Zärtlich liebend, Niki.“ Statt der Zugeständnisse, auf die nun die Zarin drängt, sendet der zärtlich liebende Zar Truppen von der Front. Aber trotz des „herrlichen Wetters“ muß der Zar einige Stunden später höchstpersönlich mit dem revolutionären Orkan zusammengeraten. Der Zug kam bis zur Station Wischera, weiter ließen ihn die Eisenbahner nicht: „Die Brücke ist zerstört.“ Wahrscheinlich hat das Gefolge selbst diese Ausrede erfunden, um die Situation zu beschönigen. Nikolaus versucht – oder man versucht ihn – über Bologoje zu fahren, mit der Nikolajewskaer Eisenbahn; doch auch hier ließ man den Zug nicht passieren. Das war anschaulicher als alle Telegramme aus Petrograd. Der Zar war vom Hauptquartier abgeschnitten und fand den Weg nicht in seine Hauptstadt. Mit den einfachen Eisenbahner-“Figuren“ erklärte die Revolution dem König Schach!

General Dubenski, der den Zaren auch im Zuge begleitete, vermerkt in seinem Tagebuch: „Alle sind sich dessen bewußt, daß diese nächtliche Wendung in Wischera eine historische Nacht bedeutet ... Mir ist es völlig klar, daß die Frage der Konstitution entschieden ist; sie wird bestimmt eingeführt werden ... Alle sprechen nur davon, daß man mit ihnen, mit den Mitgliedern der Provisorischen Regierung, handelseinig werden müsse.“ Vor dem heruntergelassenen Streckensignal, hinter dem die Todesgefahr lauert, sind jetzt Graf Frederiks, Fürst Dolgoruki, Herzog von Leuchtenberg, kurz, all die hohen Herrschaften, für die Konstitution. Sie denken nicht mehr an einen Kampf. Man müsse nur verhandeln, das heißt versuchen, wieder zu betrügen, wie im Jahre 1905.

Während so der Zug herumirrte, ohne einen Weg zu finden, schickte die Zarin ein Telegramm nach dem anderen an den Zaren, in denen sie auf seine eilige Rückkehr drang. Sie erhielt aber die Telegramme vom Telegraphenamt zurück mit dein Blaustiftvermerk: „Aufenthaltsort des Adressaten unbekannt.“ Die Telegraphenbeamten konnten den russischen Zaren nicht ausfindig machen.

Regimenter mit Musik und Fahnen marschierten zum Taurischen Palais. Die Gardebesatzung erschien unter dem Kommando des Großfürsten Kyrill Wladimirowitsch, der, wie die Gräfin Kleinmichel bezeugt, mit einem Male eine revolutionäre Haltung zeigte. Die Wachposten zogen sich zurück. Der Hofstaat verließ das Schloß: „Es rettete sich, wer konnte“, schreibt die Wyrubowa in ihren Erinnerungen. Im Schlosse wanderten Gruppen revolutionärer Soldaten umher und besahen alles mit heißhungriger Neugier. Bevor die oben sich noch über das „Was nun?“ klargeworden waren, hatten die unten das Zarenpalais schon in ein Museum umgewandelt.

Der Zar, dessen Aufenthalt unbekannt ist, wendet nach Pskow um, zum Stabe der Nordfront, die unter dem Kommando des alten Generals Russki steht. Im Gefolge des Zaren löst ein Vorschlag den anderen ab. Der Zar zögert. Er rechnet noch immer mit Tagen und Wochen, als die Revolution schon nach Minuten zählt.

Der Dichter Block charakterisierte den Zaren in den letzten Monaten der Monarchie folgendermaßen: „Eigensinnig, aber willenlos, nervös, aber gegen alles abgestumpft, um den Glauben an die Menschen gebracht, zerrüttet, aber überlegt in seinen Worten, war er seiner selbst nicht mehr Herr. Er hörte auf, die Lage zu begreifen, machte keinen klaren Schritt mehr und begab sich völlig in die Hände derer, die er selbst an die Macht gestellt hatte.“ Wie erst müssen sich die Züge der Willenlosigkeit und der Zerrüttung, der Ängstlichkeit und des Mißtrauens in den letzten Februar- und den ersten Märztagen verstärkt haben!

Nikolaus raffte sich nun endlich auf, an den ihm verhaßten Rodsjanko ein Telegramm zu senden – offenbar ist dies aber dann doch nicht abgeschickt worden –, in dem er ihn, um des Heiles der Heimat willen, mit der Bildung eines neuen Ministeriums betraute, unter dem Vorbehalt, Außen-, Kriegs- und Marineminister selbst zu ernennen. Der Zar möchte mit „ihnen“ noch handeln: marschieren doch „zahlreiche Truppen“ gegen Petrograd!

General Iwanow erreichte tatsächlich unbehindert Zarskoje Selo: die Eisenbahner hatten sich wahrscheinlich doch nicht entschließen können, es auf einen Zusammenstoß mit dem Bataillon Georgier ankommen zu lassen. Allerdings gestand der General später, er sei unterwegs drei- bis viermal gezwungen gewesen, gegen die sich auflehnenden Soldaten „väterlichen Zwang“ anzuwenden. Er ließ sie knien. Die Ortsbehörden erklärten dem „Diktator“ gleich nach dessen Ankunft in Zarskoje Selo, daß ein Zusammenstoß der Georgier mit den Truppen die Zarenfamilie gefährden würde. Man hatte einfach Angst um sich und empfahl dem „Exekutor“, ohne erst die Truppen auszuladen, die Rückreise anzutreten.

Der General Iwanow stellte an den anderen „Diktator“, Chabalow, zehn Fragen, die ihm präzis beantwortet wurden. Wir führen sie in vollem Wortlaut an, denn sie verdienen es:

Die Fragen Iwanows

Die Antworten Chabalows

1. Welche Truppenteile halten Ordnung, und welche erlauben sich Gemeinheiten?

1. Unter meinem Befehl stehen im Gebäude der Admiralität vier Kompanien der Garde, fünf Schwadronen und Hundertschaften, zwei Batterien; alle übrigen Truppen sind auf die Seite der Revolutionäre übergegangen oder bleiben nach Übereinkunft mit diesen neutral. Einzelne Soldaten und Banden treiben sich in der Stadt herum und entwaffnen Offiziere.

2. Welche Bahnhöfe werden bewacht?

2. Alle Bahnhöfe sind in den Händen der Revolutionäre und werden von diesen streng bewacht.

3. In welchen Stadtteilen wird die Ordnung aufrechterhalten?

3. Die ganze Stadt ist in der Gewalt der Revolutionäre, das Telephon arbeitet nicht, eine Verbindung mit den Stadtteilen gibt es nicht.

4. Welche Behörden üben in diesen Stadtteilen die Macht aus?

4. Kann ich nicht beantworten.

5. Arbeiten sämtliche Ministerien?

5. Die Minister sind von den Revolutionären verhaftet.

6. Welche Polizeibehörden stehen im Augenblick zu Ihrer Verfügung?

6. Keine.

7. Welche technischen und wirtschaftlichen Institutionen des Kriegsamtes unterstehen Ihrem Befehl?

7. Keine.

8. Welche Mengen von Proviant haben Sie zu ihrer Verfügung?

8. Ich habe keinen Proviant zu meiner Verfügung. Am 25. Februar war in der Stadt ein Vorrat von 5.600.000 Pud Mehl.

9. Sind viele Waffen, Artillerie- und Kriegsvorräte in die Hände der Rebellen gefallen?

9. Alle Artilleriewerke sind in den Händen der Revolutionäre.

10. Welche Militärbehörden und Stäbe stehen zu Ihrer Verfügung?

10. Zu meiner Verfügung steht der Chef des Kreisstabes persönlich; mit den übrigen Kreisverwaltungen fehlt die Verbindung.

Nach einer so unzweideutigen Beleuchtung der Situation war General Iwanow „einverstanden“, mit seiner unausgeladenen Staffel zur Station „Dno“ zurückzukehren. „Auf diese Weise“, schlußfolgert eine der leitenden Personen des Hauptquartiers, General Lukomski, „wurde aus der Kommandierung des Generals Iwanow mit diktatorischen Vollmachten nichts als ein Skandal.“

Übrigens trug der Skandal einen stillen Charakter, er ging unbemerkt in den Wogen der Ereignisse unter. Der Diktator schickte, wie wohl anzunehmen ist, die Lebensmittel an seine Bekannten in Petrograd und hatte eine längere Unterredung mit der Zarin: sie verwies auf ihre selbstaufopfernde Arbeit in den Lazaretten und beklagte sich über die Undankbarkeit der Armee und des Volkes.

Unterdessen laufen über Mohilew nach Pskow Nachrichten, eine schwärzer als die andere. Die in Petrograd verbliebene persönliche Wache Seiner Majestät, aus der jeder Soldat einzeln der Zarenfamilie mit Namen bekannt und von ihr verhätschelt war, erscheint in der Reichsduma und bittet um Erlaubnis, jene Offiziere zu verhaften, die sich geweigert, am Aufstand teilzunehmen. Der Vizeadmiral Kurosch berichtet, er sehe keine Möglichkeit, Maßnahmen zur Niederschlagung des Aufstandes in Kronstadt zu treffen, denn er könne für keinen einzigen Truppenteil garantieren. Admiral Nepenin telegraphiert, die Baltische Flotte anerkenne das Provisorische Komitee der Reichsduma. Der Moskauer Oberkommandierende, Mrosowski, berichtet: „Die Mehrzahl der Truppen ist mitsamt der Artillerie zu den Revolutionären übergegangen, in deren Gewalt sich somit die Stadt befindet. Der Stadthauptmann und dessen Gehilfen haben sich aus der Stadthauptmannschaft entfernt.“ Entfernt bedeutet: sie hatten Reißaus genommen.

Dem Zaren wurde all dies am Abend des 1. März gemeldet. Bis tief in die Nacht hinein wurde für und wider ein verantwortliches Ministerium geredet. Endlich, um 2 Uhr nachts, gab der Zar die Zustimmung. Seine Umgebung atmete erleichtert auf. Da man es als selbstverständlich ansah, daß damit das Problem der Revolution gelöst sei, gab man gleichzeitig Befehl, die Truppenteile, die gegen Petrograd marschierten, um dort den Aufstand niederzuschlagen, an die Front zurückzuführen. Russki beeilte sich, bei Morgengrauen Rodsjanko die frohe Kunde zu übermitteln. Doch die Uhr des Zaren ging stark nach. Rodsjanko, den im Taurischen Palais bereits Demokraten, Sozialisten, Soldaten und Arbeiterdeputierte bedrängten, antwortete Russki: „Was Sie vorschlagen, genügt nicht, die Frage der Dynastie steht auf dem Spiel ... Die Truppen gehen überall auf die Seite der Duma und des Volkes über und fordern den Thronverzicht zugunsten des Sohnes unter der Regentschaft Michail Alexandrowitschs.“ Die Truppen dachten allerdings weder daran den Sohn noch Michail Alexandrowitsch zu fordern. Rodsjanko schrieb hier einfach den Truppen und dem Volke die Losung zu, mit der die Duma noch immer hoffte, der Revolution Einhalt gebieten zu können. Wie dem auch sei, das Zugeständnis des Zaren kam zu spät: „Die Anarchie erreichte ein solches Maß, daß ich (Rodsjanko) gezwungen war, heute nacht eine Provisorische Regierung zu ernennen. Das Manifest kam leider zu spät ...“ Diese majestätischen Worte beweisen, daß der Dumavorsitzende inzwischen Zeit gefunden hatte, die über Golizyn vergossenen Tränen zu trocknen. Der Zar las die Unterhaltung Rodsjankos mit Russki und schwankte, las sie wieder und wartete ab. Jetzt aber schlugen die Heeresführer Alarm: die Sache betraf ein wenig auch sie!

General Alexejew veranstaltete in der Nacht gewissermaßen ein Plebiszit unter den Oberkommandierenden der Fronten. Es ist gut, daß moderne Revolutionen sich unter Teilnahme des Telegraphen vollziehen und so die ersten Regungen und der Widerhall der Machthaber auf Papierstreifen für die Geschichte erhalten bleiben. Die Verhandlungen der zaristischen Feldmarschälle in der Nacht vom 1. zum 2. März bilden ein unvergleichliches menschliches Dokument. Soll der Zar verzichten oder nicht? Der Oberkommandierende der Westfront, General Evert, wollte seine Entschließung erst treffen, nachdem die Generale Russki und Brussilow sich geäußert haben würden. Der Oberkommandierende der rumänischen Front, General Sacharow, verlangte, daß man ihm vorerst die Beschlüsse aller übrigen Oberkommandierenden mitteile. Nach langem Zögern erklärte dieser glorreiche Kämpe, seine heiße Liebe zum Monarchen erlaube es ihm nicht, sich mit einem so „niederträchtigen Vorschlag“ abzufinden; nichtsdestoweniger empfahl er dem Zaren „heulend“, „zur Vermeidung noch niederträchtigerer Zumutungen“ auf den Thron zu verzichten. Generaladjutant Evert setzte eindringlich die Notwendigkeit der Kapitulation auseinander: „Ich treffe alle Maßnahmen, damit die Nachrichten über die gegenwärtige Lage in den Hauptstädten nicht in die Armee dringen, um die sonst unvermeidlichen Unruhen zu unterbinden. Mittel, der Revolution in den Hauptstädten Einhalt zu gebieten, gibt es nicht.“ Der Großfürst Nikolai Nikolajewitsch flehte von der kaukasischen Front aus den Zaren kniefällig an, das „Übermaß“ auf sich zu nehmen und dem Thron zu entsagen; ein ähnliches Flehen kam von den Generälen Alexejew, Brussilow und vom Admiral Nepenin. Russki seinerseits befürwortete mündlich das gleiche. Ehrfurchtsvoll richteten die Generale sieben Revolverläufe gegen die Schläfe des vergötterten Monarchen. Aus Angst, den Augenblick eines Ausgleiches mit der neuen Macht zu verpassen, und nicht minder aus Angst vor ihren eigenen Truppen gaben die Heerführer, gewohnt, ihre Positionen zu räumen, dem Zaren und Obersten Kriegsherrn einmütig den Rat: kampflos von der Szene zu verschwinden. Das war nun nicht mehr das ferne Petrograd, gegen das man, wie es schien, Truppen schicken konnte, sondern es war die Front, von der man die Truppen entnehmen sollte.

Nachdem der Zar diesen mit solchem Nachdruck versehenen Bericht entgegengenommen hatte, entschloß er sich; auf den Thron zu verzichten, den er bereits nicht mehr besaß. Man verfertigte ein der Situation geziemendes Telegramm an Rodsjanko: „Es gibt kein Opfer, das ich zum wirklichen Wohle und zur Rettung des teuren Mütterchens Rußland nicht bringen würde. Deshalb bin ich bereit, auf den Thron zugunsten meines Sohnes zu verzichten, der bis zu seiner Volljährigkeit bei mir verbleibt, bei gleichzeitiger Regentschaft meines Bruders, des Großfürsten Michail Alexandrowitsch. Nikolaus.“ Aber auch dieses Telegramm wurde nicht abgesandt, da die Nachricht eintraf, die Deputierten Gutschkow und Schulgin seien von der Hauptstadt nach Pskow unterwegs. Das war eine neue Veranlassung, den Entschluß zu vertagen. Der Zar befahl, ihm das Telegramm zurückzugeben. Er hatte offenbar Angst, zuviel zu bieten, und wartete noch immer auf tröstliche Nachrichten, richtiger gesagt, er hoffte auf ein Wunder. Die beiden Deputierten empfing der Zar um 12 Uhr in der Nacht vom 2. zum 3. März. Kein Wunder geschah, und es war nicht mehr möglich, auszuweichen. Der Zar erklärte plötzlich, er könne sich von seinem Sohne nicht trennen – welche wirren Hoffnungen gingen dabei durch seinen Kopf? –, und unterschrieb den Thronverzicht zugunsten seines Bruders. Gleichzeitig wurden Dekrete an den Senat betreffs Ernennung des Fürsten Lwow zum Vorsitzenden des Ministerrats und Nikolai Nikolajewitschs zum Obersten Kriegsherrn unterzeichnet. Die Familienbefürchtungen der Zarin fanden damit gleichsam ihre Bestätigung: Der verhaßte „Nikolascha“ kehrte, zusammen mit den Verschwörern, zur Macht zurück. Gutschkow wähnte wohl ernsthaft, die Revolution würde sich mit dem Kaiserlichen Kriegsherrn abfinden. Dieser nahm die Ernennung ebenfalls für bare Münze. Er versuchte einige Tage hindurch sogar, irgendwelche Befehle zu erteilen und zur Erfüllung der patriotischen Pflicht zu ermahnen. Doch die Revolution hat ihn schmerzlos ausgeschieden.

Um den Schein eines freigefaßten Entschlusses zu wahren, wurde das Abdankungsmanifest mit 3 Uhr nachmittags gezeichnet, unter dem Vorwand, die Entscheidung des Zaren, dem Thron zu entsagen, sei ursprünglich um diese Stunde gefaßt worden. Aber den „Entschluß“ vom Tage, der den Thron an den Sohn, nicht an den Bruder übergab, war ja, in der Hoffnung auf eine günstige Wendung des Rades, faktisch zurückgenommen worden. Doch daran erinnerte niemand. Der Zar machte noch den letzten Versuch, Haltung zu zeigen vor den verhaßten Deputierten, die ihrerseits die Fälschung des historischen Aktes, das heißt den Volksbetrug, zuließen. Die Monarchie entfernte sich vom Schauplatz unter Wahrung ihres Stils. Aber auch ihre Nachfolger blieben sich treu. Ihre Nachsicht betrachteten sie wahrscheinlich als Großmut des Siegers gegen den Besiegten.

Von dem unpersönlichen Stil seines Tagebuches etwas abweichend, trägt Nikolaus am 2. März ein: „Am Morgen kam Russki und las mir ein ganz langes Telephongespräch mit Rodsjanko vor. Nach dessen Worten sei die Lage in Petrograd derart, daß ein Ministerium aus Mitgliedern der Reichsduma ohnmächtig wäre etwas zu tun, denn es würde von der Sozialdemokratischen Partei in der Gestalt des Arbeiterkomitees bekämpft werden. Mein Thronverzicht sei notwendig. Russki übermittelte dieses Gespräch ins Hauptquartier an Alexejew und an alle Oberkommandierenden. Um 12.30 Uhr trafen die Antworten ein. Um Rußland zu retten und die Truppen an der Front festzuhalten, habe ich mich zu diesem Schritt entschlossen. Ich willigte ein, und aus dem Hauptquartier wurde ein Entwurf des Manifestes geschickt. Abends trafen aus Petrograd Gutschkow und Schulgin ein, mit denen ich eine Unterredung hatte und denen ich das unterzeichnete, abgeänderte Manifest übergab. Um 1 Uhr reiste ich schweren Herzens aus Pskow ab; ringsherum Verrat, Feigheit, Betrug.“

Die Erbitterung Nikolaus’ war, wie man zugeben muß, nicht unbegründet. Noch am 28. Februar hatte General Alexejew allen Oberkommandierenden der Fronten telegraphiert: „Uns allen obliegt die heilige Pflicht vor Kaiser und Heimat, in den Truppen der aktiven Armee die Treue zu Pflicht und Eid aufrechtzuerhalten.“ Und zwei Tage später rief Alexejew die gleichen Oberkommandierenden der Armee auf, die Treue zu „Pflicht und Eid“ zu verletzen. Im Kommandostand fand sich nicht einer, der sich für seinen Zaren einsetzte. Alle sputeten sich, auf das Schiff der Revolution umzusteigen, in der festen Zuversicht, dort bequeme Kajüten vorzufinden. Generale und Admirale nahmen die zaristischen Abzeichen herunter und steckten sich rote Bänder an. Man erzählte später nur von einem Gerechten, irgendeinem Korpskommandanten, der beim Ablegen des neuen Eides an Herzschlag verschied. Es ist jedoch nicht erwiesen, daß sein Herz an verletztem Monarchismus brach und nicht aus anderen Gründen. Die zivilen Würdenträger brauchten, schon ihrer Stellung nach, nicht mehr Mut zu zeigen als die Militärs. Jeder rettete sich, wie er konnte.

Aber die Uhr der Monarchie ging entschieden nicht im gleichen Takt mit der Uhr der Revolution. Am 3. März, bei Sonnenaufgang, wird Russki wieder zum Apparat geholt. Rodsjanko und Fürst Lwow fordern, das Zarenmanifest zurückzuhalten, es habe sich wiederum als verspätet erwiesen. Mit der Thronbesteigung Alexejs – berichten die neuen Herren ausweichend – würde man sich vielleicht abfinden – wer? –, die Thronbesteigung Michails hingegen sei völlig unannehmbar. Nicht ohne Bosheit drückte Russki sein Bedauern darüber aus, daß die Deputierten der Duma, die gestern hier weilten, über Ziel und Aufgabe ihrer Reise nicht hinreichend informiert gewesen waren. Aber auch die Deputierten fanden eine Ausrede. „Es loderte für alle unerwartet eine solche Soldatenmeuterei auf, wie ich sie nie gesehen habe“, erklärte der Kammerherr dem General Russki, als habe er sein Lebtag nichts anderes getan, als Soldatenmeutereien beobachtet. „Die Proklamierung Michails zum Kaiser würde bedeuten, Öl ins Feuer zu gießen, und es würde eine erbarmungslose Vernichtung all dessen anheben, was nur zu vernichten möglich ist.“ Wie es sie alle doch gepackt hat, wie es sie schüttelt, rüttelt, herumwirbelt!

Die Generalität schluckt schweigend auch diese neue „niederträchtige Anmaßung“ der Revolution. Nur Alexejew erleichtert sich das Herz in einer telegraphischen Nachricht an die Oberkommandierenden: „Die linken Parteien und die Arbeiterdeputierten üben auf den Dumavorsitzenden einen gewaltigen Druck aus, in den Berichten Rodsjankos fehlt die nötige Offenheit und Aufrichtigkeit.“ Nur Aufrichtigkeit vermißten die Generale in jenen Stunden!

Aber da hat es sich der Zar nochmals überlegt. Bei seiner Ankunft aus Pskow in Mohilew händigt er seinem früheren Generalstabschef Alexejew zur Weiterbeförderung nach Petrograd ein Blatt Papier aus mit der Einwilligung, den Thron an den Sohn abzutreten. Diese Kombination erschien ihm doch wohl als die annehmbarste. Nach dem Bericht Denikins ging Alexekew mit dem Telegramm davon ... sandte es jedoch nicht ab. Er betrachtete anscheinend jene zwei Manifeste als ausreichend, die bereits an Armee und Volk bekanntgegeben waren. Der ungleiche Pendelschlag entstand dadurch, daß nicht nur der Zar und dessen Berater, sondern auch die Dumaliberalen langsamer dachten als die Revolution.

Am 8. März, vor seiner endgültigen Abreise aus Mohilew, schrieb der formell bereits verhaftete Zar einen Appell an die Truppen, der mit den Worten schloß: „Wer jetzt an Frieden denkt, wer ihn wünscht, verrät sein Vaterland, ist ein Hochverräter!“ Das war ein ihm von irgendwem eingegebener Versuch, die Beschuldigung des Germanophilentums den Händen der Liberalen zu entreißen. Der Versuch blieb ohne Folgen: man wagte nicht mehr, den Appell zu veröffentlichen.

So endete eine Regierung, die eine ununterbrochene Kette von Mißerfolgen, Unglück, Unheil und Verbrechen war, beginnend mit der Katastrophe auf Chodynka, während der Krönungsfeierlichkeiten, über Erschießungen Streikender und aufständischer Bauern, über den Russisch-Japanischen Krieg, über die schreckliche Niederschlagung der Revolution von 1905, über zahllose Hinrichtungen, Strafexpeditionen und nationale Pogrome hinweg, abschließend mit der wahnwitzigen und infamen Beteiligung Rußlands an dem wahnwitzigen und infamen Weltkrieg.

Nach seiner Ankunft in Zarskoje Selo, wo er zusammen mit seiner Familie im Schlosse gefangengehalten wurde, sagte, nach den Worten der Wyrubowa, der Zar leise vor sich hin „Es gibt unter Menschen keine Gerechtigkeit.“ Indes sind gerade diese Worte unwiderlegbares Zeugnis dafür, daß es eine historische Gerechtigkeit gibt, wenn sie sich auch manchmal verspätet.

Die Ähnlichkeit des letzten Zarenpaares der Romanows mit dem französischen Königspaar aus der Epoche der Großen Revolution drängt sich von selbst auf. In der Literatur wurde bereits darauf verwiesen, doch nur flüchtig und ohne aus dieser Ähnlichkeit Schlüsse zu ziehen. Diese Ähnlichkeit ist indes keinesfalls so zufällig, wie es auf den ersten Blick erscheint, und gibt wertvolles Material für Folgerungen.

Voneinander durch fünfviertel Jahrhunderte getrennt, stellen Zar und König in gewissen Augenblicken zwei Akteure dar, die die gleiche Rolle spielen. Passiver, lauernder, aber rachsüchtiger Treubruch bilden die hervorstechendste Eigenschaft beider, mit dem Unterschiede, daß sie sich bei Ludwig hinter einer zweifelhaften Gutmütigkeit verbarg, während sie bei Nikolaus Umgangsform war. Beide machten den Eindruck von Menschen, die ihr Gewerbe belastet, die aber gleichzeitig nicht gewillt sind, auch nur das kleinste Teilchen ihrer Rechte, von denen sie keinen Gebrauch machen können, abzutreten. Die Tagebücher beider, sogar im Stil oder im Fehlen des Stiles verwandt, enthüllen in gleicher Weise eine drückende seelische Leere.

Die Österreicherin und die Deutsche aus Hessen wiederum bilden ihrerseits eine Symmetrie. Die Königinnen erheben sich über die Könige nicht nur ihrem physischen, sondern auch ihrem moralischen Wuchse nach. Marie Antoinette ist weniger fromm als Alexandra Feodorowna und zum Unterschiede von dieser den Vergnügungen heiß ergeben Beide hassen in gleicher Weise das Volk, ertragen den Gedanken an Zugeständnisse nicht, mißtrauen in gleicher Weise dem Mut ihrer Männer und betrachten sie von oben herab, Antoinette mit einem Schatten von Verachtung, Alexandra mit Mitleid.

Wenn Autoren, die dem Petersburger Hof nähergekommen waren, uns in ihren Memoiren versichern, daß Nikolaus, wäre er eine Privatperson gewesen, in guter Erinnerung geblieben wäre, dann reproduzieren sie einfach das alte Klischee der wohlwollenden Gutachten über Ludwig XVI., wodurch sie uns aber weder in bezug auf die Geschichte noch in bezug auf die menschliche Natur sonderlich bereichern.

Wir haben bereits gehört, wie sich Fürst Lwow entrüstete, als er während der tragischen Ereignisse der ersten Revolution anstatt eines niedergeschlagenen Zaren ein „lustiges, munteres Kerlchen in himbeerroter Hemdbluse“ vorfand. Ohne es zu wissen, hatte der Fürst das Gutachten des Gouverneurs Morris reproduziert, der im Jahre 1790 in Washington über Ludwig schrieb: „Was kann man von einem Menschen erwarten, der in seiner Lage immer guten Mutes ißt, trinkt, schläft und lacht; von diesem netten Kerl, der lustiger ist als sonst einer?“

Wenn Alexandra Feodorowna drei Monate vor dem Sturz der Monarchie prophezeit: „Alles wendet sich zum Guten, die Träume unseres Freundes besagen so viel!“, wiederholt sie nur Marie Antoinette, die einen Monat vor dem Sturze des Königtums schreibt: „Ich fühle frischen Mut in mir, und etwas sagt mir, daß wir bald glücklich und gerettet sein werden.“ Untergehend sehen beide rosige Träume.

Einige Elemente der Ähnlichkeit tragen selbstverständlich zufälligen Charakter und besitzen nur das Interesse historischer Anekdoten. Unermeßlich wichtiger sind jene Züge, die durch die gewaltige Macht der Verhältnisse aufgepfropft oder geradezu aufgedrängt wurden und ein grelles Licht werfen auf das Verhältnis zwischen Persönlichkeit und objektiven Faktoren der Geschichte.

„Er konnte nicht wollen – das ist der hervorragende Zug seines Charakters“, sagte ein reaktionärer französischer Historiker von Ludwig. Diese Worte scheinen wie über Nikolaus geschrieben. Beide konnten nicht wollen. Dafür aber konnten beide nicht-wollen. Doch was hätten denn eigentlich diese letzten Vertreter einer hoffnungslos verlorenen historischen Sache noch „wollen“ können?

„Er hörte gewöhnlich zu, lächelte, aber nur selten entschloß er sich zu etwas. Sein erstes Wort war in der Regel nein.“ Über wen ist es? Wiederum über Capet. Aber dann war doch das ganze Verhalten Nikolaus’ ein durchgehendes Plagiat! Beide gehen dem Abgrunde zu „mit über die Augen geschobener Krone“. Ist es denn leichter, einem Abgrund, dem man doch nicht entrinnen kann, mit offenen Augen entgegenzugehen? Was würde sich in der Tat geändert haben, wenn sie die Krone in den Nacken geschoben hätten?

Man könnte den Berufspsychologen empfehlen, ein Lesebuch der parallelen Äußerungen von Nikolaus und von Ludwig, von Alexandra und von Antoinette und deren Nächsten über sie zusammenzustellen. An Material wäre kein Mangel, und das Ergebnis würde ein äußerst lehrreiches historisches Zeugnis zugunsten der materialistischen Psychologie sein: gleichartige (selbstverständlich nicht gleiche) Reize ergeben unter gleichartigen Bedingungen gleichartige Reflexe. Je mächtiger der Reizerreger ist, um so schneller überwindet er die individuellen Besonderheiten. Auf Kitzeln reagieren die Menschen verschieden, auf glühendes Eisen gleichartig. Wie der Dampfhammer eine Kugel und einen Würfel in gleicher Weise in eine Scheibe verwandelt, so platten unter dem Druck zu großer und unabwendbarer Ereignisse auch widerstrebende „Individualitäten“ ab, verlieren ihre Umrisse.

Ludwig und Nikolaus waren Letztgeborene von Dynastien, die stürmisch gelebt hatten. Eine gewisse Ausgeglichenheit des einen und des anderen, die Ruhe und die „Heiterkeit“ in schwierigen Augenblicken, waren anerzogene Äußerungen der Dürftigkeit ihrer inneren Kräfte, der Schwäche der nervösen Entladungen, der Armseligkeit der geistigen Ressourcen. Moralische Kastraten, waren beide jeglicher Phantasie und schöpferischer Fähigkeit bar, besaßen gerade noch so viel Geist, um ihre Trivialität zu fühlen, und hegten feindseligen Neid gegen alles Begabte und- Bedeutende. Beide hatten das Schicksal, ein Land zu regieren unter Bedingungen tiefer innerer Krisen und des revolutionären Erwachens des Volkes. Beide wehrten sich gegen das Eindringen neuer Ideen und den Ansturm feindlicher Mächte. Unentschlossenheit, Heuchelei und Verlogenheit waren bei beiden weniger der Ausdruck persönlicher Schwäche als vielmehr einer völligen Unmöglichkeit, sich auf den ererbten Positionen zu behaupten.

Und wie verhielt es sich mit den Frauen? In noch höherem Grade als Antoinette wurde Alexandra durch die Ehe mit dem unbeschränkten Herrscher eines mächtigen Landes auf die höchsten Gipfel der Träumereien einer Prinzessin, und noch dazu einer so provinziellen wie der hessischen, emporgehoben. Beide waren bis zum Rand vom Bewußtsein ihrer hohen Mission erfüllt. Antoinette mehr auf frivole Art, Alexandra im Geiste der protestantischen Heuchelei, übersetzt in die kirchlich-slawische Sprache. Mißerfolge der Regierung und wachsende Unzufriedenheit des Volkes erschütterten erbarmungslos jene phantastische Welt, welche diese fanatischen, aber letzten Endes doch nur hühnenhaft kleinen Gehirne sich aufgebaut hatten. Daher die wachsende Erbitterung, die nagende Feindseligkeit gegen ein fremdes Volk, das sich vor ihnen nicht gebeugt hatte; Haß gegen solche Minister, die auch nur im geringsten dieser feindlichen Welt, das heißt dem Lande Rechnung tragen wollten; Entfremdung sogar vom eigenen Hofe und ewiges Gekränktsein durch den Ehemann, der die in der Brautzeit erweckten Hoffnungen nicht erfüllt hat.

Historiker und Biographen psychologischer Richtung suchen und entdecken nicht selten Rein-Persönliches und Zufälliges dort, wo nur eine Brechung großer historischer Kräfte in einer Persönlichkeit stattfindet. Es ist dies derselbe Sehfehler wie bei den Hofleuten, die in dem letzten russischen Zaren einen geborenen „Pechvogel“ erblickten. Er selbst glaubte ebenfalls, daß er unter einem ungünstigen Stern geboren sei. In Wirklichkeit ergaben sich seine Mißerfolge aus den Widersprüchen zwischen den alten Zielen, die ihm seine Ahnen vererbt hatten, und den neuen historischen Bedingungen, in die er hineingestellt war. Wenn die Alten sagten, Jupiter raube dem den Verstand, den er vernichten wolle, sprachen sie in der Form des Aberglaubens nur das Ergebnis tiefer historischer Beobachtungen aus. Die Worte Goethes: „Vernunft wird Unsinn“ enthalten den gleichen Gedanken von dem unpersönlichen Jupiter der historischen Dialektik, der überlebten historischen Institutionen den Sinn raubt und deren Verteidiger zu Mißerfolg verurteilt. Die Rollentexte der Romanows und der Capets waren durch die Entwicklung des historischen Dramas vorgeschrieben. Den Akteuren blieben höchstens die Nuancen der Interpretation übrig. Das Mißgeschick Nikolaus’ wie Ludwigs wurzelte nicht in ihrem persönlichen Horoskop, sondern in dem historischen Horoskop der ständisch-bürokratischen Monarchie. Sie waren vor allem Letztgeborene des Absolutismus. Ihre moralische Nichtigkeit, die sich aus ihrem dynastischen Epigonentum ergab, verlieh diesem einen besonders unheilvollen Charakter.

Man könnte erwidern: hätte Alexander III. weniger getrunken, er hätte viel länger gelebt, die Revolution wäre mit einem völlig andersgearteten Zaren zusammengestoßen, und eine Parallele mit Ludwig XVI. wäre nicht gegeben. Ein solcher Einwand aber berührt das oben Dargestellte nicht im geringsten. Wir beabsichtigen ja nicht, die Bedeutung des Persönlichen in der Mechanik des historischen Prozesses oder die Bedeutung des Zufälligen im Persönlichen wegzuleugnen. Es ist nur nötig, daß man die historische Persönlichkeit mit all ihren Besonderheiten nicht als eine bloße Aufzählung psychologischer Züge nimmt, sondern als eine aus bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen entstandene und auf diese reagierende lebendige Realität. Wie eine Rose nicht aufhört zu duften, weil ein Naturwissenschaftler darauf hinweist, durch welche Ingredienzien des Bodens und der Atmosphäre sie sich ernährt, so beraubt auch die Aufdeckung der gesellschaftlichen Wurzeln einer Persönlichkeit diese nicht ihres Aromas oder ihres Gestankes.

Gerade die oben angestellte Erwägung über eine längere Lebensdauer Alexanders III. kann dazu beitragen, dasselbe Problem von der anderen Seite zu beleuchten. Wir wollen annehmen, daß ein Alexander III. sich im Jahre 1904 nicht in einen Krieg mit Japan eingelassen hätte. Damit allein wäre die erste Revolution hinausgeschoben worden. Bis zu welchem Zeitpunkt? Es ist möglich, daß die Revolution von 1905, das heißt die erste Kraftprobe, das erste Loch im System des Absolutismus, eine einfache Einleitung zu der zweiten, der republikanischen, und zu der dritten, der proletarischen Revolution gebildet haben würde. Aber darüber sind nur mehr oder weniger interessante Mutmaßungen möglich. Es ist jedenfalls unbestreitbar, daß die Revolution sich nicht aus dem Charakter Nikolaus’ II. ergeben hat und daß nicht Alexander III. ihre Aufgaben gelöst hätte. Es genügt, daran zu erinnern, daß sich nirgendwo und niemals der Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Regime ohne gewaltsame Erschütterungen vollzog. Erst sahen wir dies in China, dann beobachteten wir es in Indien. Das Äußerste, was man sagen kann, ist, daß die eine oder die andere Politik einer Monarchie, die eine oder die andere Persönlichkeit des Monarchen die Revolution zu beschleunigen oder zu verzögern und ihrem äußeren Verlauf einen gewissen Stempel aufzudrücken imstande ist.

Mit welch wütender und ohnmächtiger Beharrlichkeit versuchte der Zarismus noch in seinen allerletzten Monaten, Wochen und Tagen sich zu behaupten, während die Partie bereits hoffnungslos verloren war.

Fehlte es Nikolaus selbst an Willen, so ersetzte die Zarin den Mangel. Rasputin war das Werkzeug der Beeinflussung für eine Clique, die verzweifelt um ihre Selbsterhaltung kämpfte. Sogar in diesem engen Maßstabe wird die Person des Zaren von einer Gruppe absorbiert, die ein Stück Vergangenheit und deren letzte Konvulsionen darstellt. Die „Politik“ der Spitze in Zarskoje Selo bestand angesichts der Revolution aus Reflexen eines zu Tode gehetzten und ermatteten Raubtieres. Verfolgt man in der Steppe auf einem schnellen Automobil lange einen Wolf, dann bricht das Tier schließlich zusammen und bleibt entkräftet liegen. Probiert aber, ihm ein Halsband anzulegen, es wird versuchen, euch zu zerfleischen oder mindestens zu verletzen. Bleibt ihm in seiner Lage anderes übrig?

Ja, wähnten die Liberalen. Anstatt rechtzeitig mit der privilegierten Bourgeoisie ein Abkommen zu treffen und so die Revolution abzuwenden – also lautet die Anklageschrift des Liberalismus gegen den letzten Zaren –, verweigerte Nikolaus hartnäckig jedes Zugeständnis, zögerte sogar in den allerletzten Tagen, schon unter dem Messer, wo jede Minute zählte, feilschte mit dem Schicksal und versäumte so die letzte Möglichkeit. Das klingt alles sehr überzeugend. Wie schade nur, daß der Liberalismus, der so unfehlbare Mittel für die Errettung der Monarchie wußte, für sich solche Mittel nicht fand.

Es wäre unsinnig, zu behaupten, der Zarismus habe niemals und unter keinen Umständen Zugeständnisse gemacht. Er hat sie gemacht, soweit es seine Selbsterhaltung erforderte. Nach den Niederlagen auf der Krim führte Alexander II. eine halbe Befreiung der Bauernschaft durch und eine Reihe liberaler Reformen auf dem Gebiete des Semstwo, der Justiz, der Presse, der Lehranstalten und so weiter. Der Zar selbst erklärte damals den Leitgedanken seiner Reformen folgendermaßen: die Bauern von oben befreien, damit sie sich nicht von unten befreien. Unter dem Drucke der ersten Revolution gab Nikolaus II. eine halbe Konstitution. Stolypin machte dem bäuerlichen Gemeindebesitz den Garaus, um die Arena der kapitalistischen Kräfte zu erweitern. Alle diese Reformen hatten für den Zarismus jedoch nur insofern einen Sinn, als die Teilzugeständnisse das Ganze, das heißt die Grundlagen der ständischen Gesellschaft und der Monarchie selbst unversehrt ließen. Sobald die Folgen der Reformen diese Grenzen zu überschreiten drohten, wich die Monarchie unverzüglich zurück. Alexander II. verübte in der zweiten Hälfte seiner Regierung Diebstahl an den Reformen der ersten Hälfte. Alexander III. ging auf dem Wege der Konterreformen noch weiter. Nikolaus II. machte im Oktober 1905 vor der Revolution einen Rückzug, löste sodann die von ihm selbst geschaffene Duma wiederholt auf und vollzog, sobald die Revolution erlahmt war, einen Staatsstreich. Im Laufe von drei Vierteln eines Jahrhunderts – rechnet man seit den Reformen Alexander II. geht ein bald unterirdischer, bald offener Kampf der geschichtlichen Kräfte, der weit über die persönlichen Eigenschaften einzelner Zaren hinausragt und mit dem Sturz der Monarchie endet. Nur in dem geschichtlichen Rahmen dieses Prozesses kann man den Platz für einzelne Zaren, deren Charaktere und „Biographien“ finden.

Auch der selbstherrlichste aller Despoten ähnelt recht wenig einer „freien“ Individualität, die willkürlich den Ereignissen ihren Stempel aufdrückt. Er ist stets nur der gekrönte Agent der privilegierten Klassen, die die Gesellschaft nach ihrem Bilde formen. Haben diese Klassen ihre Mission nicht erschöpft, dann steht auch die Monarchie fest und ist selbstsicher. Dann verfügt sie über einen zuverlässigen Machtapparat und über eine unbeschränkte Auswahl an Exekutoren, weil die fähigsten Menschen noch nicht in das Lager des Feindes übergegangen sind. Dann kann der Monarch persönlich oder vermittels seiner Günstlinge zum Träger großer und fortschrittlicher historischer Aufgaben werden. Anders, wenn die Sonne der alten Gesellschaft sich endgültig dem Untergange zuneigt: aus Organisatoren des nationalen Lebens verwandeln sich die privilegierten Klassen in eine parasitäre Wucherung; mit dem Verlust ihrer führenden Funktion verlieren sie das Bewußtsein ihrer Mission und den Glauben an ihre Kräfte; die Unzufriedenheit mit sich selbst verwandeln sie in die Unzufriedenheit mit der Monarchie; die Dynastie wird isoliert; der Kreis der ihr bis zu Ende ergebenen Menschen verengt sich; ihr Niveau sinkt; die Gefahren aber nehmen unterdes zu; die neuen Kräfte bedrängen; die Monarchie büßt die Fähigkeit zu irgendeiner schöpferischen Initiative ein; sie verteidigt sich, kämpft, beginnt den Rückzug – ihre Handlungen bekommen den Automatismus primitiver Reflexe. Diesem Schicksal entging auch die halbasiatische Despotie der Romanows nicht.

Betrachtet man den in Agonie liegenden Zarismus sozusagen im vertikalen Querschnitt, dann erscheint Nikolaus als die Achse einer Clique, deren Wurzeln in die hoffnungslos verdammte Vergangenheit zurückgehen. Im horizontalen Querschnitt der historischen Monarchie gesehen, ist Nikolaus das letzte Glied einer dynastischen Kette. Seine nächsten Ahnen, die zu ihrer Zeit ebenfalls den Kollektiven der Sippe, der Stände, der Bürokratie angehörten, wenn auch größeren, haben verschiedene Mittel und Methoden der Verwaltung ausprobiert, um das alte soziale Regime vor dem drohenden Schicksal zu bewahren, und haben trotzdem Nikolaus ein chaotisches Reich vermacht, in dessen Leib die Revolution reifte. Wenn ihm eine Wahl gelassen war, so nur zwischen den verschiedenen Wegen des Unterganges.

Der Liberalismus träumte von einer Monarchie nach britischem Muster. Hat sich aber der Parlamentarismus an der Themse auf friedlich evolutionärem Wege entwickelt, oder ist er etwa die Frucht der „freien“ Einsicht eines einzelnen Monarchen? Nein, er hat sich als Abschluß eines Kampfes herausgebildet, der Jahrhunderte gedauert und in dem einer der Könige sein Haupt am Kreuzwege lassen mußte.

Die hier skizzierte historisch-psychologische Gegenüberstellung der Romanows und der Capets kann man mit vollem Erfolg auf das britische Königspaar aus der Epoche der ersten englischen Revolution ausdehnen. Karl 1. wies im wesentlichen die gleichen Züge auf, mit denen die Memoirenschreiber und Historiker mehr oder minder begründet Ludwig XVI. und Nikolaus II. bedenken. „Karl bleibt passiv“, schreibt Montague, „gab dort nach, wo er keinen Widerstand zu leisten vermocht hätte, griff, wenn auch unwillig, zur Täuschung und gewann weder Popularität noch Vertrauen.“ „Er war kein stumpfer Mensch“, sagt ein anderer Historiker über Karl Stuart, „doch fehlte ihm Charakterstärke ... Die Rolle des bösen Verhängnisses in seinem Leben spielte seine Frau, Henriette von Frankreich, die Schwester Ludwigs XIII., von den Ideen des Absolutismus noch tiefer durchdrungen als Karl ...“ Wir wollen die Charakteristik dieses dritten – in chronologischer Reihenfolge ersten – Königspaares, das von der nationalen Revolution zermalmt wurde, nicht detaillieren. Vermerkt sei nur, daß auch in England der Haß sich vor allem gegen die Königin als eine Französin und Papistin konzentrierte, die des Techtelmechtels mit Rom, der Verschwörung mit den aufrührerischen Irländern und der Intrigen am französischen Hof beschuldigt wurde.

England aber hatte immerhin Jahrhunderte zu seiner Verfügung. Es war der Pionier der bürgerlichen Zivilisation. Es stand nicht unter dem Joch anderer Nationen, im Gegenteil, hielt eher diese unter seinem Joch. Es beutete die ganze Welt aus. Das milderte die inneren Widersprüche, häufte Konservativismus an, sorgte für Überfluß und Stetigkeit der Fettablagerungen in Form der parasitären Schicht der Lords, der Monarchie, der Lordkammer und der Staatskirche. Infolge der historisch ganz besonders bevorzugten Entwicklung des bürgerlichen England ist der mit Elastizität verbundene Konservativismus aus den Institutionen in die Sitten übergegangen. Darüber sich zu begeistern haben manche kontinentalen Philister von der Art des russischen Professors Miljukow oder des Austromarxisten Otto Bauer bis auf den heutigen Tag nicht aufgehört. Aber gerade jetzt, wo England, in der ganzen Welt bedrängt, die letzten Hilfsquellen seiner ehemaligen Vorzugsstellung vergeudet, verliert sein Konservativismus die Elastizität und verwandelt sich, selbst in Gestalt der Labouristen, in die unbändigste Reaktion. Angesichts der indischen Revolution findet der „Sozialist“ Macdonald keine anderen Methoden als jene, die Nikolaus II. der russischen Revolution entgegenstellte.

Nur ein Blinder kann übersehen, daß Großbritannien gigantischen revolutionären Erschütterungen entgegengeht, wobei die Trümmer seines Konservativismus, seiner Weltherrschaft und seiner heutigen Staatsmaschinerie spurlos untergehen werden. Nicht im geringsten schlechter und nicht weniger von Blindheit geschlagen als seinerzeit Nikolaus, bereitet Macdonald diese Erschütterungen vor. Wie wir sehen, ist dies ebenfalls keine schlechte Illustration zur Frage nach der Rolle der „freien“ Persönlichkeit in der Geschichte!

Wie aber sollte Rußland mit seiner verspäteten Entwicklung, als Nachhut aller europäischen Nationen, mit dem dürftigen ökonomischen Fundament unter den Füßen, einen „elastischen Konservativismus“ der gesellschaftlichen Formen – offenbar den besonderen Bedürfnissen des professoralen Liberalismus und dessen linken Schattens, des reformistischen Sozialismus, entsprechend herausgebildet haben? Rußland war zu lange zurückgeblieben, – und als der Weltimperialismus es mit seiner Schraube erfaßte, war es gezwungen, seine politische Geschichte in einem sehr zusammengedrängten Lehrkursus durchzunehmen. Wenn Nikolaus dem Liberalismus entgegengekommen wäre und Stürmer durch Miljukow ersetzt hätte, die Entwicklung der Ereignisse wäre in der Form etwas anders geworden, aber nicht in ihrem Wesen. Hatte doch einst Ludwig gerade diesen Weg in der zweiten Etappe der Revolution beschritten, indem er die Gironde an die Regierung berief: das hat aber weder Ludwig selbst, noch später die Gironde vor der Guillotine bewahrt. Die angehäuften sozialen Widersprüche mußten nach außen explodieren und explodierend die Aufräumungsarbeit zu Ende führen. Vor dem Ansturm der Volksmassen, die ihre Unbill und Plagen, ihre Demütigungen, Leidenschaften, Hoffnungen, Illusionen und Ziele endlich in die offene Arena hinausgetragen hatten, konnten die Kombinationen der Spitzen der Monarchie und des Liberalismus nur von episodischer Bedeutung sein und allenfalls die Reihenfolge der Ereignisse, vielleicht auch deren Zahl beeinflussen, nicht aber die Gesamtentwicklung des Dramas und noch weniger dessen unerbittliche Lösung.

 


Zuletzt aktualisiert am 22.7.2008