Leo Trotzki

 

Geschichte der russischen Revolution

Band 1: Februarrevolution

 

Kapitel 5:
Die Idee der Palastrevolution

Weshalb denn haben die herrschenden Klassen, als sie Rettung vor der Revolution suchten, nichts unternommen, um sich vom Zaren und dessen Umgebung zu befreien? Sie haben wohl daran gedacht, doch sie wagten es nicht. Es fehlte ihnen der Glaube an ihre Sache und die Entschlossenheit. Die Idee einer Palastrevolution lag in der Luft, bis sie in der Staatsumwälzung unterging. Man muß bei diesem Punkte verweilen, um sich ein klares Bild von den gegenseitigen Beziehungen zwischen der Monarchie und den Spitzen des Adels, der Bürokratie und der Bourgeoisie am Vorabend der Explosion machen zu können.

Die besitzenden Klassen waren durch und durch monarchistisch: kraft ihrer Interessen, ihrer Traditionen und ihrer Feigheit. Aber sie wollten eine Monarchie ohne Rasputin. Die Monarchie gab ihnen zur Antwort: Nehmt mich, wie ich bin. Der Forderung nach einem anständigen Ministerium begegnete die Zarin damit, daß sie dem Zaren einen Apfel aus Rasputins Hand ins Hauptquartier sandte und verlangte, der Zar möge ihn zur Festigung seines Willens verzehren. „Erinnere Dich“, beschwor sie ihn, „daß sogar Monsieur Philippe (ein französischer Scharlatan und Hypnotiseur) gesagt hat, man dürfe keine Konstitution geben, denn das wäre Dein und Rußlands Untergang ...“ „Sei Peter der Große, Iwan der Schreckliche, Kaiser Paul – zerdrücke alles unter Dir!“

Welch ekliges Gemisch aus Angst, Aberglauben und feindseliger Fremdheit gegen das Land! Es könnte allerdings scheinen, daß mindestens in den oberen Schichten die Zarenfamilie nicht gar so einsam war: Ist doch Rasputin stets von einem Gestirn vornehmer Damen umringt, und beherrscht doch das Schamanentum überhaupt die Aristokratie. Aber diese Mystik der Angst verbindet nicht, im Gegenteil, sie trennt. Jeder versucht, sich auf seine Art zu retten. Viele aristokratische Häuser haben ihre rivalisierenden Heiligen. Sogar auf den Petrograder Gipfeln ist die Zarenfamilie, wie verpestet, von einer Quarantäne des Mißtrauens und der Feindschaft umgeben. Das Hoffräulein Wyrubowa schreibt in ihren Erinnerungen: „Ich ahnte tief und fühlte eine Feindseligkeit der ganzen Umgebung gegen die, die ich vergötterte, und ich fühlte, daß diese Feindseligkeit erschreckende Dimensionen annahm ...“

Auf purpurrotem Hintergrund des Krieges, unter vernehmbarem Getöse unterirdischer Stöße verzichteten die Privilegierten nicht eine Stunde auf die Freuden des Lebens, im Gegenteil, sie genossen sie wie im Rausch. Aber auf ihren Festgelagen erschien immer häufiger ein Skelett und drohte ihnen mit den Knöcheln seiner Finger. Dann wähnten sie, das ganze Unglück käme von dem abscheulichen Charakter der Alice, von der treubrüchigen Willenlosigkeit des Zaren, von der habgierigen Närrin Wyrubowa, vom sibirischen Christus mit den Schrammen auf dem Schädel. Wellen unerträglicher Ahnungen überliefen die herrschenden Klassen, krampfartige Zuckungen gingen von der Peripherie zum Zentrum, die verhaßte Spitze in Zarskoje Selo immer stärker isolierend. In ihren im allgemeinen äußerst verlogenen Erinnerungen hat die Wyrubowa recht kraß den Ausdruck für den Zustand dieser Spitze gefunden: „... zum hundertsten Male fragte ich mich: was ist mit der Petrograder Gesellschaft geschehen? Sind sie alle seelisch erkrankt oder von einer in Kriegszeiten wütenden Epidemie befallen? Es ist schwer, sich auszukennen, die Tatsache aber bleibt bestehen: alle waren in einem anormal erregten Zustande.“

Zu denen, die die Besinnung verloren hatten, gehörte auch die umfangreiche Familie der Romanows, die ganze habgierige, schamlose, von allen gehaßte Meute der Großfürsten und Großfürstinnen. Auf den Tod erschrocken, trachteten sie, sich aus dem sie umklammernden Ring zu befreien, versuchten, sich bei der frondierenden Aristokratie einzuschmeicheln, klatschten über das Zarenpaar, hetzten einander und ihre Umgebung auf Die allerdurchlauchtigsten Onkel wandten sich an den Zaren mit ermahnenden Briefen, in denen hinter Ehrfurcht das Zähneknirschen zu spüren war.

Nach der Oktoberrevolution charakterisierte Protopopow zwar ziemlich plump aber malerisch die Stimmung der obersten Schichten: „Selbst die höchsten Klassen frondierten vor der Revolution. In den Klubs und Salons der großen Welt übte man scharfe und mißgünstige Kritik an der Politik der Regierung; man analysierte und begutachtete die Beziehungen, die sich in der Zarenfamilie herausgebildet hatten; verbreitete anekdotische Erzählungen über das Oberhaupt des Staates; schrieb Verse; viele Großfürsten besuchten offen solche Zusammenkünfte, und ihre Anwesenheit verlieh den karikaturenhaften Erfindungen und bösartigen Übertreibungen in den Augen des Publikums besondere Zuverlässigkeit. Das Bewußtsein der Gefährlichkeit dieses Spieles erwachte bis zum letzten Augenblick nicht.“

Besondere Schärfe verlieh den Gerüchten über eine Palastkamarilla die Beschuldigung der Deutschfreundlichkeit und sogar der direkten Verbindung mit dem Feinde. Der vorlaute und nicht sehr gründliche Rodsjanko erklärt direkt: „Die Verbindung und die Analogie der Bestrebungen sind derart logisch klar, daß es mindestens für mich keine Zweifel geben kann an dem Zusammenwirken des deutschen Stabes und des Rasputinschen Kreises. Das unterliegt keinem Zweifel.“ Der bloße Hinweis auf die „logische“ Klarheit schwächt den kategorischen Ton dieses Zeugnisses sehr ab. Für die Verbindung der Rasputinleute mit dem deutschen Stab waren auch nach der Revolution keinerlei Beweise zu entdecken. Anders verhält es sich mit dem sogenannten „Germanophilentum“. Es handelte sich natürlich nicht um nationale Sympathien oder Antipathien der deutschstämmigen Zarin, des Premiers Stürmer, der Gräfin Kleinmichel, des Hofministers, Graf Frederiks, und anderer Herren mit deutschen Namen. Die zynischen Memoiren der alten Intrigantin Kleinmichel zeigen mit bemerkenswerter Kraßheit, welch übernationaler Charakter die Spitzen der Aristokratie aller Länder Europas auszeichnete, die miteinander durch Bande der Verwandtschaft, Erbschaften, Verachtung gegen alles unter ihnen Stehende und, last but not least, durch kosmopolitische Libertinagen in alten Schlössern, fashionablen Bädern und an europäischen Höfen verknüpft waren. Bedeutend realer waren die organischen Antipathien des Hofgesindels gegen die katzbuckelnden Advokaten der Französischen Republik und die Sympathien der Reaktionäre teutonischen wie slawischen Namens für den echt preußischen Geist des Berliner Regimes, der ihnen so lange Zeit mit seinem gewichsten Schnurrbart, seinen Feldwebelmanieren und seiner selbstbewußten Dummheit imponiert hatte.

Aber auch das war nicht für die Frage entscheidend. Die Gefahr ergab sich aus der Logik der Situation selbst, denn der Hof konnte nichts anderes tun, als in einem Separatfrieden Rettung suchen, und zwar um so dringlicher, je bedrohlicher die Lage wurde. Der Liberalismus war, wie wir später noch sehen werden, in der Person seiner Führer bestrebt, die Chance des Separatfriedens für sich zu reservieren, in Verbindung mit der Perspektive, an die Macht zu gelangen. Und gerade deshalb führte er eine wilde chauvinistische Agitation, das Volk betrügend und den Hof terrorisierend. Die Kamarilla wagte nicht, in einer so heiklen Frage vorzeitig ihr wahres Antlitz zu zeigen, und war sogar gezwungen, den allgemeinen patriotischen Ton nachzuahmen, während sie gleichzeitig den Boden für einen Separatfrieden abtastete.

Das Oberhaupt der Polizei, General Kurlow, der zur Rasputinschen Kamarilla gehörte, bestreitet natürlich in seinen Erinnerungen die deutschen Verbindungen und Sympathien seiner Gönner, aber er fügt gleich hinzu: „Man kann Stürmer keinen Vorwurf daraus machen, daß er der Meinung war, der Krieg mit Deutschland sei das größte Unglück für Rußland gewesen und habe keine ernsten politischen Grundlagen für sich gehabt.“ Man darf nur nicht vergessen, daß der Mann, der diese interessante „Meinung“ gehabt hat, das Oberhaupt einer Regierung war, die gegen Deutschland Krieg führte. Der letzte zaristische Innenminister, Protopopow, hatte am Vorabend seines Eintritts in die Regierung in Stockholm Verhandlungen mit einem deutschen Diplomaten geführt und darüber dem Zaren Bericht erstattet. Rasputin selbst hat nach den Worten desselben Kurlow „den Krieg mit Deutschland als ein großes Unglück für Rußland betrachtet“. Schließlich schrieb die Kaiserin am 5. April 1916 an den Zaren: „... sie dürfen es nicht wagen zu behaupten, daß Er irgend etwas Gemeinsames mit den Deutschen hat, Er ist gut und großherzig gegen alle, wie Christus, gleichviel zu welcher Religion ein Mensch gehört; so muß ein wahrer Christ sein.“

Gewiß konnten sich an diesen wahren Christen, der aus dem Zustand der Betrunkenheit nie herauskam, neben Falschspielern, Wucherern und aristokratischen Kupplern auch ausgesprochene Spione herangemacht haben. „Verbindungen“ solcher Art sind nicht ausgeschlossen. Die oppositionellen Patrioten aber stellten die Frage breiter und präziser: sie beschuldigten die Zarin direkt des Verrates. In seinen viel später geschriebenen Erinnerungen bekundet der General Denikin: „In der Armee sprach man laut, ohne Rücksicht auf Ort und Zeit, von der beharrlichen Forderung der Zarin nach einem Separatfrieden, von ihrem Verrat an dem Feldmarschall Kitchener, über dessen Reise sie angeblich den Deutschen Mitteilung gemacht hätte, und so weiter. Dieser Umstand war von größter Bedeutung für die Stimmung in der Armee, in bezug auf deren Haltung gegenüber Dynastie und Revolution.“ Der gleiche Denikin erzählt, daß General Alexejew nach der Umwälzung auf die direkte Frage betreffs des Verrates der Kaiserin „unbestimmt und unwillig“ geantwortet habe, man hätte bei der Sichtung der Papiere der Zarin eine Karte mit genauer Aufzeichnung der Truppen der gesamten Front vorgefunden, und dies hätte auf ihn, Alexejew, einen sehr deprimierenden Eindruck gemacht ... „Nicht ein Wort mehr“, fügt Denikin vielsagend hinzu, „er wechselte das Gesprächsthema.“ Ob die Zarin die geheimnisvolle Karte wirklich besessen hat, läßt sich nicht feststellen, jedenfalls waren die unbeholfenen Generale offensichtlich nicht abgeneigt, einen Teil der Verantwortung für ihre Niederlagen auf die Zarin abzuwälzen. Die Gerüchte über Verrat des Hofes schlichen durch die Armee zweifellos hauptsächlich von oben nach unten, von den schwachköpfigen Stäben aus.

Wenn aber die Zarin, der sich der Zar in allem unterwirft, an Wilhelm Kriegsgeheimnisse und sogar die Häupter der verbündeten Heeresführer verrät, was bleibt dann anderes als ein Strafgericht über das Zarenpaar? Und da andererseits der Großfürst Nikolai Nikolajewitsch als das Haupt der Armee und der antideutschen Partei galt, war er gleichsam von Amts wegen für die Rolle des obersten Gönners der Palastrevolution vorbestimmt. Das war auch der Grund, weshalb der Zar auf Drängen Rasputins und der Zarin den Großfürsten absetzte und das Oberkommando selbst in die Hand nahm. Aber die Zarin hatte sogar vor einer Zusammenkunft des Neffen mit dem Onkel bei Übergabe der Geschäfte Angst: „Seelchen, sei vorsichtig“, schreibt sie dem Zaren ins Hauptquartier, „laß Dich nicht von Nikolascha durch irgendwelche Versprechungen oder sonst was fangen, denk daran, daß Grigorij Dich vor ihm und seinen bösen Leuten gerettet hat ... erinnere Dich im Namen Rußlands, was sie vorhatten: Dich zu verjagen (das ist kein Klatsch, Orlow hatte schon alle Papiere fertig) und mich ins Kloster ...“

Der Bruder des Zaren, Michail, sagte zu Rodsjanko: „Die ganze Familie ist sich dessen bewußt, wie schädlich Alexandra Feodorowna ist. Den Bruder und sie umgeben ausschließlich Verräter. Alle anständigen Menschen haben sich entfernt. Aber was ist in diesem Falle zu tun?“ Freilich, was war in diesem Falle zu tun?

Die Großfürstin Maria Pawlowna bestand in Gegenwart ihrer Söhne darauf, daß Rodsjanko die Initiative der „Beseitigung“ der Zarin auf sich nähme. Rodsjanko schlug vor, dies Gespräch als nicht stattgefunden zu betrachten, sonst müßte er aus Eidespflicht dem Zaren melden, daß die Großfürstin dem Dumavorsitzenden den Vorschlag gemacht habe, die Kaiserin zu beseitigen. So verwandelte der schlagfertige Kammerherr die ganze Frage nach der Ermordung der Zarin in einen netten Salonscherz.

Das Ministerium selbst stand zeitweise in scharfer Opposition zum Zaren. Schon im Jahre 1915, anderthalb Jahre vor der Umwälzung, wurden bei den Regierungssitzungen Reden geführt, die noch heute unglaublich erscheinen. Der Kriegsminister Poliwanow sagt: „Die Situation retten kann nur eine der Gesellschaft gegenüber versöhnliche Politik. Die gegenwärtigen schwachen Dämme können die Katastrophe nicht abwenden.“ Der Marineminister Grigorowitsch: „Es ist kein Geheimnis, daß die Armee uns mißtraut und auf eine Änderung wartet.“ Der Minister des Auswärtigen, Sasonow: „Die Popularität des Zaren und seine Autorität in den Augen der Volksmassen ist stark erschüttert.“ Der Minister des Inneren, Fürst Schtscherbatow: „Wir sind alle zusammen ungeeignet, Rußland in dieser sich herausbildenden Situation zu verwalten ... Es ist entweder eine Diktatur oder eine versöhnliche Politik notwendig“ (Sitzung vom 21. August 1915). Schon konnte weder das eine noch das andere helfen, weder das eine noch das andere war durchführbar. Der Zar entschloß sich nicht zu einer Diktatur, lehnte eine versöhnliche Politik ab und nahm die Demission der Minister, die sich als ungeeignet bezeichneten, nicht an. Ein höherer Beamter gibt in seinen Aufzeichnungen zu den Reden der Minister folgenden kurzen Kommentar: Man wird wohl an der Laterne hängen müssen.

Bei einer solchen Stimmung ist es nicht weiter verwunderlich, daß man sogar in den bürokratischen Kreisen von der Notwendigkeit einer Palastrevolution sprach, als dem einzigen Mittel, der heraufziehenden Revolution vorzubeugen. „Hätte ich die Augen verbunden gehabt“, erinnert sich ein Teilnehmer dieser Debatten, „ich hätte glauben können, mich in Gesellschaft eingefleischter Revolutionäre zu befinden.“

Ein Gendarmerieoberst, der mit der besonderen Aufgabe betraut war, im Süden Rußlands die Armee zu inspizieren, entwarf in seinem Bericht ein düsteres Bild: Durch Propaganda, insbesondere mit dem Argument der Deutschfreundlichkeit der Kaiserin und des Zaren, sei die Armee für eine Palastrevolution vorbereitet. „Derartige Gespräche wurden in Offizierskasinos offen geführt und fanden seitens des höheren Kommandos keine Zurückweisung.“ Protopopow gibt seinerseits folgendes Zeugnis ab: „Eine beträchtliche Anzahl von Personen aus dem höheren Kommandobestand sympathisierte mit der Umwälzung; einzelne Personen standen in Verbindung und unter Einfluß des sogenannten progressiven Blocks.“

Der später zur Berühmtheit gelangte Admiral Koltschak sagte nach Zertrümmerung seiner Truppen durch die Rote Armee vor der Untersuchungskommission der Sowjets aus, daß er mit zahlreichen oppositionellen Mitgliedern der Duma in Verbindung gestanden und deren Hervortreten begrüßt habe, da er sich „gegen die Macht, die vor der Revolution existierte, ablehnend verhielt“. In die Pläne der Palastrevolution war Koltschak jedoch nicht eingeweiht.

Nach der Ermordung Rasputins und den in Verbindung damit erfolgten Ausweisungen von Großfürsten begann die vornehme Gesellschaft besonders laut von der Notwendigkeit der Palastrevolution zu sprechen. Fürst Jussupow erzählt, zu dem im Palaste inhaftierten Großfürsten Dmitrij seien Offiziere einiger Regimenter gekommen und hätten ihm verschiedene Pläne für eine entscheidende Aktion unterbreitet, „auf die er natürlich nicht eingehen konnte“.

Auch die verbündete Diplomatie galt als an der Verschwörung beteiligt, zumindest in der Person des britischen Botschafters. Dieser unternahm, zweifellos auf Initiative der russischen Liberalen, im Januar 1917, nachdem er sich der Sanktion seiner Regierung versichert hatte, den Versuch, Nikolaus zu beeinflussen. Der Zar hörte ihn aufmerksam und höflich an, dankte ihm und – begann von anderen Dingen zu sprechen. Protopopow unterrichtete Nikolaus über die Beziehungen Buchanans zu den Hauptführern des progressiven Blocks und schlug vor, die Überwachung der englischen Botschaft einzurichten. Nikolaus soll diesen Vorschlag nicht gebilligt haben mit der Begründung, die Überwachung eines Botschafters sei „den internationalen Traditionen widersprechend“. Indessen berichtet Kurlow ohne Umschweife, daß „die polizeilichen Überwachungsorgane täglich Verbindungen zwischen der Kadettenpartei Miljukows und der englischen Botschaft registrierten“. Die internationalen Traditionen haben also nichts verhindert. Aber auch deren Verletzung hat nicht viel geholfen: die Palastverschwörung wurde dennoch nicht aufgedeckt.

Hat sie in der Tat existiert? Das ist durch nichts bewiesen. Sie war zu ausgedehnt, diese „Verschwörung“, erfaßte zu zahlreiche und allzu verschiedenartige Kreise, um eine Verschwörung zu sein. Sie hing in der Luft als Stimmung der Spitzen der Petersburger Gesellschaft, als wirre Vorstellung einer Rettung, als Losung der Verzweiflung. Aber sie verdichtete sich nicht bis zu einem praktischen Plan.

Der höhere Adel hatte im achtzehnten Jahrhundert nicht nur einmal praktische Korrekturen an der Thronfolge vorgenommen, indem er unbequeme Kaiser hinter Schloß und Riegel setzte oder erdrosselte: zuletzt wurde eine solche Operation im Jahre 1801 an Paul vorgenommen. Man kann folglich nicht sagen, daß eine Palastrevolution der Tradition der russischen Monarchie widersprochen hätte: Im Gegenteil, sie bildete ein unentbehrliches Element dieser Tradition. Doch die Aristokratie fühlte sich schon längst nicht mehr sicher im Sattel. Die Ehre, den Zaren und die Zarin zu erdrosseln, trat sie an die liberale Bourgeoisie ab. Deren Führer aber bewiesen nicht viel größere Entschlossenheit.

Nach der Revolution hat man wiederholt auf die liberalen Kapitalisten Gutschkow und Tereschtschenko und auf den ihnen nahestehenden General Krymow verwiesen, als auf den Herd der Verschwörung. Gutschkow und Tereschtschenko haben das selbst bestätigt, wenn auch unbestimmt. Der ehemalige Freiwillige der Burenarmee gegen England, Duellant Gutschkow, der Liberale mit den Sporen, mußte der „öffentlichen Meinung“ als die für eine Verschwörung geeignetste Person erscheinen. Beileibe doch nicht der wortreiche Professor Miljukow! Gutschkow kehrte zweifellos in Gedanken wiederholt zu einem guten und kurzen Schlag zurück, bei dem ein Garderegiment die Revolution ersetzt und ihr vorbeugt. Schon Witte hatte in seinen „Erinnerungen“ Gutschkow, den er haßte, als einen Anhänger der jungtürkischen Methoden zur Erledigung eines unbequemen Sultans denunziert. Aber Gutschkow, der auch in seinen jungen Jahren jungtürkischen Mut zu beweisen versäumt hatte, war inzwischen stark gealtert. Und was die Hauptsache ist: Der Gesinnungsgenosse Stolypins konnte den Unterschied zwischen den russischen Verhältnissen und den alttürkischen unmöglich übersehen und mußte sich fragen, ob ein Palastumsturz, statt der Revolution vorzubeugen, nicht zu jenem letzten Stoß werden könnte, der die Lawine ins Rollen bringt, und ob das Heilmittel sich nicht verderbenbringender erweisen würde als die Krankheit selbst?

In der Literatur, die der Februarrevolution gewidmet ist, wird von der Vorbereitung des Palastumsturzes wie von einer feststehenden Tatsache gesprochen. Miljukow äußert sich folgendermaßen: „Im Februar sollte es schon zu seiner Verwirklichung kommen.“ Denikin verlegt die Verwirklichung auf den März. Beide erwähnen den „Plan“, den Zarenzug unterwegs anzuhalten, die Thronentsagung zu fordern und im Falle einer Weigerung, die man für unvermeidlich hielt, die „physische Beseitigung“ des Zaren vorzunehmen. Miljukow fügt ergänzend hinzu, daß die Führer des progressiven Blocks, die an der Verschwörung unbeteiligt und über deren Vorbereitungen nicht „genau“ informiert gewesen wären, in Voraussicht eines wahrscheinlichen Umsturzes im engeren Kreise darüber diskutiert hätten, wie die Umwälzung im Falle eines Erfolges am besten auszunutzen wäre. Einige marxistische Untersuchungen der letzten Jahre nehmen ebenfalls die Version von der praktischen Vorbereitung einer Umwälzung gutgläubig hin. An diesem Beispiel kann man, nebenbei bemerkt, beobachten, wie leicht und fest Legenden sich einen Platz in der historischen Wissenschaft erobern.

Als wichtigster Beweis für die Verschwörung wird nicht selten die farbige Erzählung Rodsjankos angeführt, die aber gerade ein Beweis dafür ist, daß es keine Verschwörung gegeben hat. Im Januar 1917 kam General Krymow von der Front in die Hauptstadt und klagte Dumamitgliedern gegenüber, daß es so nicht weitergehen könne. „Falls ihr euch zu diesem äußersten Mittel (einem Zarenwechsel) entschließt, werden wir euch unterstützen.“ Falls ihr euch entschließt! ... Der Oktobrist Schidlowski rief wütend aus: „Man kann ihn nicht schonen und bemitleiden, wenn er Rußland zugrunde richtet.“ Im lärmenden Streit wurden die tatsächlichen oder vermeintlichen Worte Brussilows angeführt: „Falls man gezwungen sein sollte, zwischen dem Zaren und Rußland zu wählen – gehe ich mit Rußland.“ Falls man gezwungen sein sollte! Der junge Millionär Tereschtschenko trat als unbeugsamer Zarenmörder auf Der Kadett Schingarew sagte: „Der General hat recht. Ein Umsturz ist notwendig ... Wer aber wird sich dazu entschließen?„ Darum handelt es sich eben: Wer wird sich dazu entschließen? Das ist der Kern der Angaben Rodsjankos, der selbst gegen den Umsturz aufgetreten war. Während der wenigen weiteren Wochen ist der Plan offenbar nicht fortgeschritten. Davon, den Zarenzug aufzuhalten, wurde gesprochen; es ist aber nicht zu entdecken, wer die Operation durchführen sollte.

Der russische Liberalismus unterstützte, als er noch jünger war, durch Geld und Sympathien die Terroristen in der Hoffnung, sie würden mit ihren Bomben die Monarchie in die Arme des Liberalismus treiben. Den eigenen Kopf zu riskieren war keiner dieser würdigen Herren gewohnt. Die Hauptrolle jedoch spielte nicht so sehr persönliche wie Klassenangst: Jetzt ist es schlimm – erwogen sie –, daß es aber nur nicht schlimmer werde! Jedenfalls, wenn Gutschkow-Tereschtschenko-Kryrnow ernstlich an einen Umsturz gedacht, das heißt für seine praktische Vorbereitung Kräfte und Mittel mobilisiert haben würden, so wäre dies nach der Revolution jedenfalls mit voller Bestimmtheit und Genauigkeit festzustellen gewesen, denn die Teilnehmer, besonders die jungen Exekutoren, deren nicht wenig gebraucht worden wären, hätten keine Veranlassung gehabt, die „beinah“ vollbrachte Heldentat zu verschweigen: Nach dem Februar hätte sie ihre Karriere nur gesichert. Solche Enthüllungen aber hat es nicht gegeben. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß es sich für Gutschkow und Krymow um nichts anderes gehandelt hat als um patriotische Stoßseufzer bei Wein und Zigarren. Die leichtsinnigen Frondeure der Aristokratie wie die schwerfälligen Oppositionellen der Plutokratie brachten den Mut nicht auf, den Gang der ungünstigen Vorsehung durch eine Tat zu korrigieren.

Einer der phrasenhaftesten und hohlsten Liberalen, Maklakow, wird im Mai 1917 in einer Privatberatung der Duma, die – zusammen mit der Monarchie – von der Revolution beiseite geschoben ist, rufen: „Wenn unsere Nachkommen diese Revolution verfluchen werden, so werden sie auch uns verfluchen, die wir es nicht verstanden haben, ihr rechtzeitig durch eine Umwälzung von oben zuvorzukommen!“ Noch später, bereits in der Emigration, wird, nach Maklakow, auch Kerenski wehklagen: „Ja, das privilegierte Rußland hat es versäumt, durch einen rechtzeitigen Coup d’État von oben (von dem man so viel gesprochen und auf den man sich so viel [?] vorbereitet hatte) die elementare Staatsexplosion abzuwenden.“

Diese zwei Ausrufe vollenden das Bild, indem sie zeigen, daß die studierten Flachköpfe auch dann noch, als die Revolution alle ihre unbändigen Kräfte entfesselt hatte, zu glauben fortführen, ein „rechtzeitiger“ Wechsel der dynastischen Spitze hätte die Revolution abzuwenden vermocht!

Für den „großen“ Palastumsturz hatte die Entschlossenheit nicht ausgereicht. Aber aus ihm erwuchs der Plan des kleinen Umsturzes. Die liberalen Verschwörer wagten nicht, den Hauptakteur der Monarchie zu beseitigen; die Großfürsten beschlossen deshalb, seinen Souffleur wegzuräumen: in der Ermordung Rasputins erblickten sie das letzte Mittel zur Rettung der Dynastie.

Der mit einer Romanow vermählte Fürst Jussupow zog den Großfürsten Dmitrij Pawlowitsch und den monarchistischen Deputierten Purischkewitsch zu der Aktion hinzu. Man bemühte sich, auch den Liberalen Maklakow einzubeziehen, wohl um dem Morde einen „allnationalen“ Anstrich zu geben. Der berühmte Advokat wich wohlweislich aus, versah jedoch die Verschwörer mit Gift. Ein höchst stilvolles Detail! Nicht ohne Grund rechneten die Verschwörer damit, daß das Romanowsche Automobil nach dem Morde die Wegschaffung der Leiche erleichtern würde: das großfürstliche Wappen fand Verwendung. Das Weitere spielte sich im Plane einer auf schlechten Geschmack berechneten kinematographischen Inszenierung ab. In der Nacht vom 16. zum 17. Dezember wurde Rasputin, den man zu einem Trinkgelage verlockt hatte, in der Jussupowschen Villa ermordet.

Außer der engeren Kamarilla und den mystischen Anbeterinnen nahmen die regierenden Klassen die Ermordung Rasputins wie einen Rettungsakt auf. Den mit Hausarrest bedachten Großfürsten, dessen Hände, nach dem Ausdruck des Zaren, von Bauernblut – wenn auch ein Christus, so doch ein Bauer! – besudelt waren, besuchten mit dem Ausdruck der Sympathie alle Mitglieder des Kaiserlichen Hauses, die sich in Petersburg aufhielten. Der Zarin leibliche Schwester, die verwitwete Großfürstin Sergius, teilte telegraphisch mit, daß sie für die Mörder bete und sie für ihre patriotische Tat segne. Solange kein Verbot bestand, Rasputin zu erwähnen, veröffentlichten die Zeitungen begeisterte Artikel. In den Theatern versuchte man Demonstration zu Ehren der Mörder zu veranstalten. In den Straßen gratulierten Passanten einander. „In Privathäusern, Offiziersklubs, in Restaurants“, schreibt Fürst Jussupow, „trank man auf unsere Gesundheit; aus den Betrieben schrien uns die Arbeiter „hurra!“ zu.“ Es ist allerdings anzunehmen, daß die Arbeiter nicht getrauert haben, als sie von der Ermordung Rasputins erfuhren. Ihre „Hurra“-Rufe aber hatten mit den Hoffnungen auf eine Wiederbelebung der Dynastie nichts zu tun.

Die Rasputinsche Kamarilla verstummte abwartend. Vor aller Welt geheim, setzten Zar und Zarin, die Zarentöchter und Wyrubowa Rasputin bei; neben der Leiche des heiligen Freundes, des von Großfürsten ermordeten ehemaligen Pferdediebes, mußte die Zarenfamilie sich selbst wie verstoßen fühlen. Aber auch der begrabene Rasputin fand keine Ruhe. Als Nikolaus und Alexandra Romanow schon als Gefangene galten, warfen Soldaten von Zarskoje Selo sein Grab auf und öffneten den Sarg. Neben dem Kopfe des Ermordeten lag ein Heiligenbild mit der Aufschrift: Alexandra, Olga, Tatjana, Maria, Anastasia, Anja. Die Provisorische Regierung schickte einen Bevollmächtigten, um die Leiche aus irgendeinem Grunde nach Petrograd schaffen zu lassen. Die Menge widersetzte sich, und der Bevollmächtigte mußte die Leiche an Ort und Stelle verbrennen.

Nach der Ermordung des „Freundes“ bestand die Monarchie insgesamt noch zehn Wochen. Diese kurze Frist aber gehörte ihr. Rasputin war nicht mehr, doch sein Schatten herrschte weiter. Allen Erwartungen der Verschwörer zum Trotz, begann das Zarenpaar nach der Ermordung mit verstärkter Kraft die verächtlichsten Mitglieder der Rasputinschen Bande auszuzeichnen. Um Rasputin zu rächen, wurde ein berüchtigter Lump zum Justizminister ernannt. Einige Großfürsten verbannte man aus der Hauptstadt. Man erzählte, Protopopow betreibe Spiritismus, um den Geist Rasputins herbeizurufen. Die Schlinge der Ausweglosigkeit zog sich noch enger zusammen.

Die Ermordung Rasputins hatte große Folgen, aber ganz andere als die, mit denen ihre Teilnehmer und Inspiratoren gerechnet hatten. Sie hatte die Krise nicht gemildert, sondern zugespitzt. Von der Ermordung sprach man überall: in den Schlössern, in den Stäben, in den Betrieben und in den Bauernhütten. Die Schlußfolgerung drängte sich von selbst auf: sogar die Großfürsten haben gegen die aussätzige Kamarilla keine anderen Mittel als Gift und Revolver. Der Dichter Alexander Block schrieb über die Ermordung Rasputins: „Die Kugel, die mit ihm Schluß machte, traf die herrschende Dynastie mitten ins Herz.“

Schon Robespierre erinnerte die Gesetzgebende Versammlung daran, daß die Opposition des Adels, indem sie die Monarchie geschwächt, die Bourgeoisie und hinterher auch die Volksmassen in Schwung gebracht hatte. Robespierre warnte gleichzeitig, daß die Revolution im übrigen Europa sich nicht so schnell entwickeln werde wie in Frankreich, weil die privilegierten Klassen der anderen Länder, durch das französische Beispiel belehrt, die Initiative der Revolution nicht auf sich nehmen würden. Indem er diese bemerkenswerte Analyse gab, hatte sich Robespierre jedoch mit seiner Vermutung getäuscht, daß der französische Adel durch seine oppositionelle Verirrung dem Adel der anderen Länder ein für allemal eine Lektion erteilt habe, Rußland hat im Jahre 1905 und besonders im Jahre 1917 erneut bewiesen, daß eine gegen Selbstherrschertum und halbe Leibeigenschaft, mithin gegen den Adel gerichtete Revolution bei ihren ersten Schritten eine systemlose, widerspruchsvolle, aber immerhin äußerst wirksame Förderung findet, nicht nur seitens des Durchschnittsadels, sondern auch seiner privilegierten Spitzen, sogar einschließlich der Angehörigen der Dynastie. Diese bemerkenswerte historische Tatsache könnte als Gegensatz zu der Klassentheorie der Gesellschaft erscheinen, in Wirklichkeit jedoch widerspricht sie nur deren vulgärer Auffassung.

Eine Revolution bricht aus, wenn alle Antagonismen der Gesellschaft die höchste Spannung erreicht haben. Das aber gerade macht die Situation sogar für die Klassen der alten Gesellschaft, das heißt für jene, die dem Untergange geweiht sind, unerträglich. Ohne den biologischen Analogien mehr Gewicht beizumessen, als sie es verdienen, ist es dennoch angebracht, daran zu erinnern, daß der Akt der Geburt in einem gewissen Augenblick in gleicher Weise für den Organismus der Mutter wie für den der Frucht unabwendbar wird. In der Opposition der privilegierten Klassen äußert sich die Unvereinbarkeit ihrer traditionellen gesellschaftlichen Lage mit den Bedürfnissen für das Weiterbestehen der Gesellschaft. Der regierenden Bürokratie beginnt alles aus den Händen zu gleiten. Die Aristokratie, die sich im Mittelpunkt des allgemeinen Hasses fühlt, schiebt die Schuld auf die Bürokratie. Diese beschuldigt die Aristokratie, und dann richten sie gemeinsam oder getrennt ihre Unzufriedenheit gegen die monarchische Krönung ihrer Macht.

Der aus dem Dienste in Adelskörperschaften für einige Zeit als Minister herbeigerufene Fürst Schtscherbatow sagte: „Sowohl Samarin wie ich sind ehemalige Gouvernement-Adelsmarschälle. Niemand hat uns bisher als Linke betrachtet, und auch wir betrachten uns nicht als solche. Aber beide können wir eine Lage im Staate nicht begreifen, bei der der Monarch und seine Regierung sich mit der gesamten vernünftigen Öffentlichkeit (von den revolutionären Intrigen lohnt sich nicht zu sprechen) – mit den Adligen, den Kaufleuten, den Städten, den Semstwos, sogar mit der Armee – in radikalem Widerspruch befinden. Wenn man mit unserer Meinung oben nicht rechnen will, ist es unsere Pflicht, abzutreten.“

Der Adel sieht die Ursache allen Übels darin, daß die Monarchie blind geworden ist oder die Vernunft verloren hat. Der privilegierte Stand glaubt nicht, daß es überhaupt keine Politik mehr geben kann, die die alte Gesellschaft mit der neuen versöhnt; mit anderen Worten, der Adel kann sich mit seinem Geschick nicht abfinden und verwandelt seine Todesangst in eine Opposition gegen die heiligste Kraft des alten Regimes, das heißt gegen die Monarchie. Die Schärfe und das Unverantwortliche der aristokratischen Opposition erklären sich aus der historischen Verzärtelung der Spitzen des Adels und aus ihrer unerträglichen Furcht vor der Revolution; das Systemlose und Widerspruchsvolle der adeligen Fronde damit, daß es die Opposition einer Klasse ist, die keinen Ausweg mehr hat. Aber wie eine Petroleumlampe vor dem Erlöschen grell aufleuchtet, wenn auch schwelend, so erlebt auch der Adel vor dem Erlöschen ein oppositionelles Aufflackern, das seinen Todfeinden den größten Dienst erweist. Das ist die Dialektik dieses Prozesses, die sich nicht nur mit der Theorie der Klassengesellschaft verträgt, sondern nur von dieser Theorie erklärt werden kann.

 


Zuletzt aktualisiert am 15.10.2003