Leo Trotzki

 

Die Internationale Revolution und die Kommunistische Internationale

Zweiter Teil: Die Strategie und Taktik in der imperialistischen Epoche


9. Der Manövercharakter der revolutionären Strategie

Es ist auf den ersten Blick unverständlich, warum in dem Entwurf die „Manövrierfähigkeit“ und die „Biegsamkeit“ der bolschewistischen Strategie völlig verschwiegen werden. Aus dieser ganzen kolossalen Frage wird nur ein einzelner Punkt herausgenommen, der Punkt über die Verständigung mit der kolonialen Bourgeoisie.

Währenddem tritt der Opportunismus der letzten Periode, bei seinen immer stärker werdenden Rechtsabweichungen vorwiegend unter der Flagge der Manöverstrategie auf! Die Weigerung, prinzipienlose, und damit auch praktisch schädliche Vereinbarungen mitzumachen, wurde als Mangel an „Biegsamkeit“ bezeichnet. Die Manövrierfähigkeit wurde zum Grundprinzip der Mehrheit erklärt. Sinowjew manövrierte bereits im Jahre 1925 mit Radic und LaFollette.

Stalin und Bucharin manövrierten darauf mit Tschiang Kai-schek, mit Purcell und mit den Kulaken. Der Apparat manövrierte stets mit der Partei und Sinowjew manövriert jetzt mit dem Apparat.

Es entstand ein ganzes Korps Manöverspezialisten für den bürokratischen Bedarf, das vorwiegend aus Leuten bestand, die niemals revolutionäre Kämpfer gewesen sind, und jetzt sich um so feuriger vor der Revolution verneigen, als diese ja bereits die Macht erobert hat. Borodin manövrierte in Kanton, Rates in Peking, D. Petrowski um den Kanal La Manche herum, Pepper in den Vereinigten Staaten, vielleicht aber auch in Polynesien, Martynow manövriert aus der Distanz, dafür aber in allen Weltteilen. Es sind ganze Züchtungen junger Manöverakademiker entstanden, welche die bolschewistische Biegsamkeit vorwiegend auf die Elastizität ihres eigenen Rückens beziehen. Die Aufgabe dieser strategischen Schule besteht darin, mit Manöver das zu erreichen, was nur durch revolutionäre Klassenkräfte erreicht werden kann. Wie jeder mittelalterliche Alchimist trotz der Misserfolge der anderen stets hoffte, das Goldrezept zu finden, so hoffen auch die heutigen Manövrierstrategen, jeder auf seinem Platz, die Geschichte zu betrügen. In Wirklichkeit sind es natürlich keine Strategen, sondern nur bürokratische Kombinatoren aller Ausmaße, mit Ausnahme vom großen. Einige von ihnen haben beobachtet, wie der Lehrer die kleinen Fragen liquidiert hat und bildeten sich ein, dass sie nun alle Geheimnisse der Strategie beherrschen. Darin besteht ja gerade das Wesen des Epigonentums. Andere wieder übernahmen das Geheimnis der Kombination aus zweiter und dritter Hand, und nachdem sie sich überzeugt hatten, dass diese in kleinen Sachen große Wunder tun, schlössen sie daraus, dass sie für große Sachen um so mehr geeignet sind. Indessen mussten alle Versuche, die Methode des bürokratischen Kombinatorentums als die „sparsamere“ gegenüber dem revolutionären Kampf zur Entscheidung der großen Fragen zu benutzen, stets zu blamablen Durchfällen führen. Dabei zerbrach das mit dem Apparat der Partei und des Staates ausgerüstete Kombinatorentum jedes Mal den jungen Parteien und jungen Revolutionen das Genick. Tschiang Kai-schek, Wang Tsching-wei, Purcell, die Kulaken – sie alle sind aus dem Versuche, mit Hilfe des „Manövers“ mit ihnen fertigzuwerden, als Sieger hervorgegangen.

Natürlich bedeutet das nicht etwa, dass Manövrieren überhaupt unzulässig, d.h. unvereinbar mit einer revolutionären Strategie der Arbeiterschaft ist. Allein man muss dabei klar verstehen, dass ein solches Manövrieren in bezug auf die grundsätzlichen Methoden des revolutionären Kampfes nur einen untergeordneten Hilfs- und Zweckmäßigkeitscharakter haben kann. Man muss sich ein- für allemal einprägen dass ein Manöver niemals etwas in großen Sachen entscheidet. Wenn das Kombinatorentum anscheinend manchmal in kleineren Angelegenheiten Erfolg hat, so geschieht das stets auf Kosten von großen Prozessen. Ein richtiges Manöver kann nur die Entscheidung erleichtern, indem es die Möglichkeit gibt, Zeit zu gewinnen, oder mit geringeren Kräften größere Ergebnisse zu erzielen. Dagegen kann man nicht grundsätzliche Schwierigkeiten mit Hilfe eines Manövers überwinden.

Der Widerspruch zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie ist ein grundsätzlicher. Darum ist der Versuch, durch organisatorische und personelle Manöver die chinesische Bourgeoisie zu zügeln und sie kombinatorischen Plänen unterzuordnen, kein Manöver, sondern ein verachtungswürdiger Selbstbetrug allergrößten Ausmaßes. Man kann nicht Klassen betrügen. Das bezieht sich historisch genommen auf sämtliche Klassen und hier in unmittelbaren Sinne auch auf die herrschende, besitzende Klasse der Ausbeuter und der Gebildeten. Die Welterfahrung der letzteren ist so groß, der Klasseninstinkt so verfeinert und die Nachrichtenorgane derselben so mannigfaltig, dass ein Versuch, sie zu betrügen, indem man sich als etwas anderes vorstellt, als man in Wirklichkeit ist, dazu führen muss, dass man anstatt des Feindes selbst in die Falle gerät.

Der Widerspruch zwischen der UdSSR und der kapitalistischen Welt ist ein grundsätzlicher. Darum ist es unmöglich ihn mit Hilfe eines Manövers zu überwinden. Man kann nur mit Hilfe von klaren, offen eingestandenen Konzessionen an das Kapital und indem man die Widersprüche zwischen den einzelnen Teilen desselben ausnützt, die Ruhepause verlangen und Zeit gewinnen. Aber auch das nur unter bestimmten historischen Voraussetzungen und nicht etwa immer. Es ist ein großer Selbstbetrug, zu glauben, dass man die internationale Bourgeoisie bis zum Aufbau des Sozialismus „neutralisieren“ kann, d.h. also mit Hilfe eines Manövers den grundsätzlichen Widerspruch überwinden könne. Dieser Selbstbetrug kann der Sowjetrepublik die Existenz kosten. Nur eine internationale proletarische Revolution kann uns von den grundsätzlichen Schwierigkeiten befreien. Ein Manöver kann entweder in einer Konzession an den Feind bestehen, oder in einer Verständigung mit einem vorübergehenden und darum stets zweifelhaften Bundesgenossen, oder in einem rechtzeitig berechneten Rückzug, um sich den Feind vom Halse zu halten, oder endlich in einer Aufstellung der Teilforderungen und Losungen in einer solchen Reihenfolge, die in das Lager des Feindes Spaltung hineintragen muss. Das sind die hauptsächlichsten Abarten des Manövers. Man könnte auch noch andere, nebensächlichere anführen. Nicht jedes Manöver ist seiner Art nach nur eine Episode in bezug auf die grundsätzliche strategische Linie des Kampfes. Bei den Manövern mit der Kuomintang und dem Anglo-Russischen Komitee – man muss sich diese stets als das vollendete Beispiel eines menschewistischen und nicht bolschewistischen Manövers vor Augen halten – war die Sache gerade umgekehrt. Das, was nur eine taktische Episode sein sollte, hat sich dort zu einer strategischen Linie entwickelt und die wirkliche strategische Aufgabe (den Kampf gegen die Bourgeoisie und die Reformisten) in eine Reihe nebensächlicher und kleiner taktischer Episoden, die zudem nur dekorativ wirkten, zerschlagen.

Bei einem Manöver muss man stets von den allerschlechtesten Voraussetzungen in bezug auf seinen Gegenpartner, dem man die Konzessionen macht, oder in bezug auf seinen zweifelhaften Bundesgenossen, mit dem man die Verständigung abschließt, ausgehen und nicht von den besten. Man muss stets dessen eingedenk sein, dass der Bundesgenosse vielleicht morgen schon zum Feind werden kann. Das bezieht sich auch auf einen solchen Bundesgenossen, wie es die Bauernschaft ist:

Man muss „sich der Bauernschaft gegenüber misstrauisch verhalten, sich von ihr gesondert organisieren, zum Kampf gegen sie bereit sein, insofern diese Bauernschaft reaktionär und antiproletarisch auftritt.“ (Lenin, Proletariat und Bauernschaft, März 1905, Lenin, Werke, Band 8, S.222-227, hier S.225)

Das widerspricht ganz und gar nicht jener großen strategischen Aufgabe des Proletariats, welche Lenin zum ersten Male mit so genialer Gründlichkeit theoretisch wie praktisch ausgearbeitet hat, der Aufgabe, die ausgebeuteten unteren Bauernschichten dem Einfluss der Bourgeoisie zu entreißen und hinter sich herzuführen. Allein, der Bund zwischen dem Proletariat und der Bauernschaft ist ganz und gar nicht als fertige Schöpfung von der Geschichte präsentiert worden, und kann auch ebenso wenig durch süßliche Manöver, verächtliche Anbiederungsversuche und pathetische Deklamationen geschaffen werden. Das Bündnis zwischen dem Proletariat und dem Bauernschaft ist eine Frage des politischen Kräfteverhältnisses und folglich also – der völligen Unabhängigkeit des Proletariats in bezug auf alle anderen Klassen.

Man muss sich den Bundesgenossen erst heranziehen. Man kann das erreichen, einerseits, indem man mit großer Aufmerksamkeit auf alle seine fortschrittlichen und historisch bedingten Bedürfnisse eingeht, andererseits, indem man sich gegenüber dem Bundesgenossen mit organisiertem Misstrauen verhält und jede antiproletarische Tendenz und Gewohnheit desselben unermüdlich und unnachsichtlich bekämpft.

Der Sinn und die Grenzen eines Manövers müssen stets klar überlegt und umrissen sein. Eine Konzession muss als Konzession, und ein Rückzug als Rückzug bezeichnet werden. Es ist nicht so gefährlich, die Bedeutung der eigenen Konzessionen zu übertreiben, als diese zu unterschätzen. Man muss die Wachsamkeit der Klasse unterstützen und das Misstrauen der eigenen Partei organisieren, nicht aber diese einschläfern.

Die Hauptwaffe eines Manövers wie überhaupt einer jeden historischen Aktion der Arbeiterklasse bildet die Partei. Die Partei ist aber nicht einfach eine gefügige Waffe in der Hand der „Meister“ der Manöver, sondern eine bewusste und selbsttätige Waffe, der höchste Ausdruck der proletarischen Selbsttätigkeit überhaupt. Deshalb muss jedes Manöver in seinem gesamten Verlauf vor allem von der Partei selbst erfasst werden. Es handelt sich dabei natürlich nicht um diplomatische, militärische oder konspirative Geheimnisse, d.h. also nicht um die Technik des Kampfes des proletarischen Staates oder der proletarischen Partei unter kapitalistischen Bedingungen. Es handelt sich hier um den politischen Inhalt des Manövers. Darum sind die im Flüsterton gehaltenen Erklärungen, wonach der Kurs der Jahre 1924 bis 1928 in bezug auf die Kulaken ein großes Manöver gewesen wäre, unsinnig und verbrecherisch. Den Kulaken kann man nicht betrügen. Er urteilt nicht nach Worten, sondern nach Taten, nach den Steuern, den Preisen und nach dem Reingewinn. Jedoch die eigene Partei, die Arbeiterklasse und die Dorfarmut kann man sehr wohl betrügen. Nichts vermag den revolutionären Geist der Partei so zu zersetzen, wie ein prinzipienloses Manövrieren und ein Manövrieren hinter ihrem Rücken. Die wichtigste feststehendste und unveränderlichste Regel eines jeden Manövers lautet: Man soll niemals die eigene Parteiorganisation mit einer fremden vermischen, vereinigen oder verbinden, mag diese heute auch noch so „freundschaftlich“ sein. Man soll niemals einen solchen Schritt unternehmen, der direkt oder indirekt, offen oder maskiert zu einer Unterordnung der Partei unter andere Parteien, oder unter Organisationen anderer Klassen führt und damit die Freiheit der eigenen Agitation beschränkt, oder durch den man, wenn auch nur teilweise, für die politische Linie der anderen Parteien verantwortlich gemacht wird. Du sollst nicht die Fahnen vermischen, geschweige denn vor einer fremden Fahne knien.

Am schlimmsten und gefährlichsten ist es, wenn ein Manöver der ungeduldigen opportunistischen Bestrebung entspringt, die Entwicklung der eigenen Partei zu überflügeln und die notwendigen Etappen des Heranreifens derselben zu überspringen. – Gerade hierbei darf man keine Etappe überspringen. – Mit Hilfe einer rein äußerlichen, falschen, diplomatischen, kombinatorischen und betrügerischen Zusammenfassung und Verbindung von auseinanderstrebenden Organisationen und Elementen notwendige Etappen überspringen, solche Experimente sind stets gefährlich. Für junge und schwache Parteien aber sind sie direkt tödlich.

In einem Manöver entscheidet ebenso wie in der Schlacht nicht allein die strategische Weisheit (noch weniger die kombinatorische Schlauheit), sondern das gesamte Kräfteverhältnis. Selbst ein richtig durchdachtes Manöver ist im allgemeinen um so gefährlicher für eine revolutionäre Partei, je jünger und schwächer diese im Verhältnis zu ihren Feinden, Bundesgenossen und Halbverbündeten ist. Darum kommen wir hier zu einem Kernpunkt für die Komintern. Die bolschewistische Partei hat ganz und gar nicht mit den Manövern als Universalmittel begonnen, sondern sie kam zu ihnen, wuchs zu ihnen heran in dem Maße, in dem sie innerhalb der Arbeiterklasse Wurzel fasste, politisch erstarkte und ideologisch heranreifte.

Gerade darin besteht ja das Unglück, dass die Epigonen der bolschewistischen Strategie den jungen kommunistischen Parteien Manövrierfähigkeit und Biegsamkeit als die Quintessenz derselben anpreisen, diese damit von der historischen prinzipiellen Grundlage herunterreißen und sie zum prinzipienlosen Kombinatorentum erziehen, das leider nur zu oft einem Auf-der-Stelle-Treten gleicht. Die Biegsamkeit war und darf auch jetzt nicht die Haupteigenschaft des Bolschewismus sein, sondern die Granithärte. Der Bolschewismus war gerade auf diese Eigenschaft, die ihm von seinen Feinden und Gegnern vorgeworfen wurde, mit Recht stets stolz gewesen. Nicht ein seliger „Optimismus“, sondern die Unduldsamkeit, Wachsamkeit, revolutionäres Misstrauen und der Kampf um jede Handbreit Selbständigkeit – das sind die Grundeigenschaften des Bolschewismus. Mit ihrer Pflege müssen auch die kommunistischen Parteien des Westens und des Ostens beginnen. Das Recht, große Manöver durchzuführen muss erst erkämpft werden, indem man die politische und materielle Möglichkeit zu ihrer Durchführung, d.h. die Kraft, Festigkeit und Standhaftigkeit der eigenen Organisation vorbereitet.

Die menschewistischen Manöver mit der Kuomintang und dem Generalrat sind deshalb zehnfach verbrecherischer, weil sie auf den gebrechlichen Schultern der kommunistischen Parteien Chinas und Englands lasteten. Diese Manöver haben nicht nur der Revolution und der Arbeiterklasse eine Niederlage beigebracht, sondern haben auch die jungen kommunistischen Parteien, diese Waffe für den weiteren Kampf, für lange Zeit zerdrückt, geschwächt und unterwühlt. Zu gleicher Zeit haben sie auch Elemente der politischen Demoralisation in die Reihen der alten Partei der Komintern, in die WKP hineingetragen.

Das strategische Kapitel des Entwurfes schweigt sich über das Manövrieren, dieses Steckenpferd der letzten Jahre, so hartnäckig aus, als ob es Wasser im Munde hätte. Gutmütige Kritiker würden sagen: Auch das ist gut. Allein das wäre ein großer Fehler. Das Unglück besteht darin, dass der Programmentwurf selbst, wie wir bereits an einer Reihe von Beispielen gezeigt haben und noch zeigen werden, ebenfalls den Manövercharakter, und zwar im schlechten, also kombinatorischen Sinne trägt. Der Entwurf macht Manöver mit der eigenen Partei. Einen Teil seiner schwachen Stellen maskiert er mit Formeln „nach Lenin“, andere umgeht er mit Schweigen. So steht die Sache auch mit der Frage der Manöverstrategie. Es ist unmöglich über diese Frage zu sprechen ohne die frischen Erfahrungen in China und England anzuführen. Schon eine Erwähnung des Manövrierens wird die Gestalten Tschiang Kai-schek und Purcell hervorzaubern müssen. Das aber wollen die Verfasser nicht. Sie ziehen es vor, über das Lieblingsthema zu schweigen und der Führung der Komintern freie Hand zu lassen. Und gerade das darf man nicht zulassen. Man muss den Kombinatoren und ihren Kandidaten die Hände binden. Gerade dazu soll das Programm dienen. Sonst wäre es überflüssig.

In dem strategischen Kapitel muss unbedingt ein Platz für die grundsätzlichen Regeln gefunden werden, welche das Manövrieren bestimmen und beschränken als eine Hilfsmethode des revolutionären Kampfes gegen den Klassenfeind, der nur ein Kampf auf Lehen und Tod sein kann. Die oben aufgezeichneten Regeln, die Marx und Lenin gelehrt haben, kann man zweifellos auch kürzer und präziser darstellen. Sie müssen jedoch auf alle Fälle in das Programm der Komintern hineingebracht werden.

 

 

10. Die Strategie des Bürgerkrieges

Der Programmentwurf sagt in Verbindung mit der Frage des bewaffneten Aufstandes ganz flüchtig folgendes:

„Dieser Kampf ist den Regeln der Kriegskunst unterworfen. Er setzt einen Kriegsplan, einen offensiven Charakter der Kampfhandlungen und unbegrenzten Opfer- und Heldenmut von Seiten des Proletariats voraus.“

Der Entwurf geht hier nicht über eine gedrängte Wiederholung dieser einstmals von Marx flüchtig hingeworfenen Bemerkungen hinaus. Wir besitzen indessen einerseits die Erfahrungen der Oktoberrevolution und andererseits diejenigen der ungarischen und bayerischen Revolution, des Kampfes in Italien im Jahre 1920, des Aufstandes in Bulgarien im September 1923, der deutschen Bewegung von 1923, Estlands im Jahre 1924, des englischen Generalstreiks 1926, des Aufstandes des Wiener Proletariats 1927 und der zweiten chinesischen Revolution 1925/27. Ein Programm der Komintern müsste eine weit deutlichere und konkretere Charakteristik sowohl der gesellschaftlichen und politischen Voraussetzungen des bewaffneten Aufstandes wie auch der militärischen und strategischen Vorbedingungen und Methoden, welche den Sieg garantieren können, enthalten. Und nichts enthüllt so sehr den oberflächlichen und literarischen Charakter dieses Dokuments wie die Tatsache, dass das der revolutionären Strategie gewidmete Kapitel sich wohl mit den Cornelissen und den Gildensozialisten (Jean Grave, Hobson und Cole, sogar namentlich) beschäftigt, aber weder eine allgemeine Charakteristik der Strategie des Proletariats in der imperialistischen Epoche, noch eine Darlegung der Methoden des Kampfes um die Macht auf Grund des lebendigen historischen Materials gibt.

Im Jahre 1924, nach den tragischen Erfahrungen in Deutschland hatten wir wiederum jene Frage aufgeworfen, nämlich, dass die Komintern die Strategie und die Taktik des bewaffneten Aufstandes, des Bürgerkrieges und des Krieges überhaupt auf die Tagesordnung stellen und ausarbeiten muss.

„Man muss gerade heraussagen, dass die Frage der Frist des bewaffneten Aufstandes in manchen Fällen in bezug auf das revolutionäre Bewusstsein vieler westeuropäischer Kommunisten, die sich bis heute noch nicht von ihrer abwartenden fatalistischen Einstellung zu den grundsätzlichen Aufgaben der Revolution befreit haben, den Charakter des Lackmuspapiers besitzt. Am tiefsten und talentiertesten hat diese Einstellung noch bei Rosa Luxemburg Ausdruck gefunden. Psychologisch ist das sehr wohl zu verstehen. Sie ist hauptsächlich im Kampfe gegen den bürokratischen Apparat der deutschen Sozialdemokratie und Gewerkschaften aufgewachsen. Sie bewies unermüdlich, dass dieser Apparat die Initiative der Massen verdrängt, und sie sah nur einen Ausweg und Rettung in einer spontanen Massenbewegung, die sämtliche sozialdemokratischen Verhaue und Barrieren umstürzen sollte. Ein revolutionärer Generalstreik, welcher sämtliche Ufer der bürgerlichen Gesellschaft überschwemmt, wurde für Luxemburg zu einem Synonym der proletarischen Revolution. Allein ein Generalstreik, mag er sich noch so sehr durch Massenstärke auszeichnen, entscheidet die Machtfrage noch nicht, sondern stellt diese nur. Zur Ergreifung der Macht ist notwendig, dass man auf der Grundlage des Generalstreiks den bewaffneten Aufstand organisiert. Gewiss, die Gesamtentwicklung Rosa Luxemburgs ging in dieser Richtung vor sich, und sie trat von der Bühne ab ohne ihr letztes Wort gesagt zu haben, ja nicht einmal ihr vorletztes. Allein, innerhalb der Kommunistischen Partei haben noch bis in die allerletzte Zeit hinein sehr starke Tendenzen des revolutionären Fatalismus geherrscht: Die Revolution kommt, die Revolution nähert sich, die Revolution wird den bewaffneten Aufstand und die Macht mit sich bringen, und die Partei – wird in dieser Zeit revolutionäre Propaganda treiben und auf die Folgen warten. Unter solchen Bedingungen die Frage der Frist ganz krass zu stellen würde bedeuten, dass man aus der fatalistischen Passivität aufgeschreckt und sich der revolutionären Grundaufgabe zuwenden würde, d.h. also, der bewussten Organisierung eines bewaffneten Aufstandes, um die Macht aus den Händen der Feinde zu entreißen. (Aus der in der Sitzung der Verwaltung der Militärwissenschaftlichen Gesellschaft am 29. Juli 1924 gehaltenen Rede Trotzkis, Prawda vom 6. September 1924.)

„Wir widmen der Pariser Kommune von 1871 genügend viel Zeit und theoretische Bemühungen, lassen aber den Kampf des deutschen Proletariats, das bereits reiche Bürgerkriegserfahrungen besitzt, vollständig beiseite liegen. Ferner beschäftigen wir uns beinahe überhaupt nicht mit dem bulgarischen Aufstand vom September vorigen Jahres, und haben endlich, was am auffälligsten ist, die Erfahrungen des Oktobers vollständig ins Archiv gegeben ... Man muss die Erfahrungen des Oktobers, dieser bisher einzigen siegreichen proletarischen Revolution, auf das Eingehendste studieren. Man muss einen strategischen und taktischen Kalender des Oktobers aufstellen. Man muss zeigen, wie die Ereignisse, Welle für Welle, gewachsen sind und wie sie sich in der Partei, in den Sowjets, im Zentralkomitee und in den militärischen Organisationen auswirkten. Was haben die Schwankungen innerhalb der Partei bedeutet? Was für ein spezifisches Gewicht haben sie in dem allgemeinen Schwung der Ereignisse gehabt? Welches war die Rolle der militärischen Organisationen? Das wäre eine Arbeit von unschätzbarer Wichtigkeit. Sie noch weiter aufzuschieben, wäre ein direktes Verbrechen.“ (Ebendort)

„Also, worin besteht denn die eigentliche Aufgabe? Die Aufgabe besteht darin, ein Universal-Nachschlagewerk oder eine Anleitung, ein Lehrbuch, ein ‚Reglement' über die Fragen des Bürgerkrieges, und also vor allen Dingen des bewaffneten Aufstandes, als dem Höhepunkt der Revolution zu schaffen. Man muss aus den Erfahrungen ein Fazit ziehen, die Vorbedingungen durchanalysieren, die Fehler untersuchen, die richtigsten Operationen herausschälen und die notwendigen Folgerungen ziehen. Werden wir damit die Wissenschaft, d.h. die Erkenntnis der Gesetze der historischen Entwicklung oder die Kunst als die Gesamtheit von Erfahrung, Regel und Aktion bereichern? Ich glaube, das eine wie das andere. Doch unser Ziel ist ein streng sachliches: die Bereicherung der revolutionären Kriegskunst.

Ein solches „Reglement“ muss notwendigerweise einen sehr komplizierten Aufbau haben. Vor allen Dingen muss man dort eine Charakteristik der grundsätzlichen Voraussetzungen der Machtergreifung durch das Proletariat bringen. Hier bleiben wir noch auf dem Gebiet der revolutionären Politik. Doch der Aufstand ist ja auch Politik – nur mit besonderen Mitteln. Die Analyse der Voraussetzungen des bewaffneten Aufstandes muss an die verschiedenen Typen von Ländern angepasst werden. Es gibt Länder mit einer proletarischen Mehrheit der Bevölkerung und auch Länder mit einer unbedeutenden Minderheit des Proletariats und mit einem absoluten Vorherrschen der Bauernschaft. Zwischen diesen beiden Außenpolen liegen die Länder des Übergangstypus. Man muss also zur Grundlage der Untersuchung zum mindesten drei Ländertypen nehmen: das Industrieland, das Agrarland und die Zwischenstufen. Die Einleitung (über die Voraussetzungen und die Bedingungen der Revolution) muss gerade die Charakteristik jedes einzelnen dieser Ländertypen unter dem Gesichtspunkt des Bürgerkrieges enthalten. Wir betrachten den Aufstand von zwei Seiten. Einerseits als eine bestimmte Durchbrechung der objektiven Gesetze des Klassenkampfes, und andererseits vom subjektiven oder aktiven Standpunkt aus: wie soll man den Aufstand vorbereiten und durchführen, um den Sieg desselben am besten zu gewährleisten.“ (Ebendort)

Im Jahre 1924 wurde von dem großen Personenkreis, der sich um die Militärwissenschaftliche Gesellschaft gruppierte, eine kollektive Arbeit zur Ausarbeitung eines Reglements des Bürgerkrieges, d.h. einer marxistischen Anleitung zu den Fragen der offenen Zusammenstöße der Klassen und des bewaffneten Kampfes für die Diktatur begonnen. Diese Arbeit begegnete jedoch dem Widerstand der Komintern – dieser Widerstand ist in das allgemeine Kampfsystem gegen den sogenannten Trotzkismus eingereiht worden – und wurde später überhaupt liquidiert. Man kann sich schwer einen leichtsinnigeren und verbrecherischen Schritt vorstellen. In einer Epoche jäher Wendungen müsste ein Reglement des Bürgerkrieges in dem oben dargelegten Sinne zum eisernen Bestand jedes einzelnen aus den revolutionären Kadern gehören, gar nicht zu reden von den Führern der Partei. Dieses „Reglement“ müsste ständig studiert und durch frische Erfahrungen des eigenen Landes ergänzt werden. Nur ein solches Studium kann eine gewisse Garantie gegen panikartige Kapitulationsschritte in jenen Augenblicken bieten, wenn gerade Kühnheit und feste Entschlossenheit erforderlich sind, ebenso wie auch gegen abenteuerliche Sprünge in einer Periode, welche Bedächtigkeit und Geduld erfordert.

Wenn ein solches Reglement zu den Büchern gehören wurde, deren ernsthaftes Studium für alle Kommunisten ebenso Pflicht wäre, wie die Bekanntschaft mit den Grundideen von Marx und Lenin, so hätten wir vielleicht die Niederlagen der letzten Jahre, die leicht zu umgehen waren, wie insbesondere den mit kindischer Leichtsinnigkeit angezettelten Aufstand in Kanton, vermieden. Über diese Frage wird in dem Programmentwurf nur in einigen Zeilen, beinahe ebenso sparsam wie über den Gandhismus in Indien, gesprochen. Gewiss kann ein Programm sich nicht in Details vertiefen. Aber es muss ein Problem in seiner ganzen Größe darstellen und seine Hauptformeln mit dem Hinweis auf die wichtigsten Errungenschaften und die wichtigsten Fehler desselben bringen. Ganz unabhängig davon muss der 6. Kongress nach unserer Ansicht das EKKI durch einen besonderen Beschluss verpflichten, ein „Reglement“ des Bürgerkrieges auszuarbeiten als eine aus dem Fazit vergangener Sieges- und Niederlagenerfahrungen hervorgegangene Direktive.

 

 

11. Die Frage des Parteiregimes

Die organisatorischen Fragen des Bolschewismus sind untrennbar mit den Programmfragen und taktischen Fragen verbunden. Zu diesem Thema erwähnt der Programmentwurf so ganz nebenbei die Notwendigkeit, „der strengsten revolutionären Ordnung“ des demokratischen Zentralismus. Das ist die einzige, dabei noch ganz neue Formel, welche das Parteiregime kennzeichnen soll. Wir wussten wohl, dass das Parteiregime auf der Grundlage des demokratischen Zentralismus ruhen soll. Dabei war in der Theorie vorausgesetzt und in der Praxis auch durchgeführt, dass der demokratische Zentralismus sowohl eine volle Diskussionsmöglichkeit, das Recht der Kritik und der Missfallensäußerung, das Wahl- und Absetzungsrecht enthält wie er auch gleichzeitig eine eiserne Disziplin bei Aktionen unter der Führung der wähl- und absetzbaren leitenden Organe bedingt. Wenn man unter der Demokratie die Unterordnung der einzelnen Parteiorgane unter die Partei verstand, so bedeutete der Zentralismus eine richtig aufgebaute, bewusste Disziplin, welche die Kampffähigkeit der Partei garantierte. Nun wird aber zu dieser Formel, die sich in der ganzen Vergangenheit bewährt hatte, ein ganz neues Kriterium hinzugefügt, nämlich das „der strengsten revolutionären Ordnung“. Es stellt sich also heraus, dass der Partei der einfache demokratische Zentralismus nicht mehr genügt, und dass sie jetzt einer revolutionären Ordnung des demokratischen Zentralismus bedarf. Diese Formel stellt ganz einfach die neue selbstherrliche Idee der „revolutionären Ordnung“ über den demokratischen Zentralismus und damit auch über die Partei.

Welches ist nun das Hauptmerkmal der Idee der revolutionären Ordnung, dabei noch einer „sehr strengen“, welche sogar über der Idee des demokratischen Zentralismus steht? Ihr Hauptmerkmal ist ein Parteiapparat, der von der Partei völlig unabhängig oder nach einer solchen Unabhängigkeit trachtend, durch seine selbstherrliche Bürokratie die „Ordnung“ ohne die Parteimassen schützen soll, und wenn es die „Ordnung“ erfordert, auch den Willen der Partei aufheben und durchbrechen kann, indem er Statuten bricht, Parteitage verschiebt oder letztere zu einer bloßen Fiktion macht.

Der Apparat hat in Gedanken schon längst nach einer solchen Formel „der revolutionären Ordnung“ gelechzt, die ihn über die Demokratie und den Zentralismus stellen sollte. Wir haben in den letzten zwei Jahren bereits eine ganze Reihe von Erläuterungen der Parteidemokratie vonseiten der verantwortlichen Vertreter der Parteiführung gehört, die dem Sinne nach darauf hinausliefen, dass Demokratie und Zentralismus nur die Unterordnung unter die höheren Organe bedeute. Eine derartige „Ordnung“ muss nach außen hin selbstverständlich mit Formeln und Verkleidungen der Demokratie umhüllt werden, indem man die letztere durch Rundschreiben von oben herab austreibt, und unter Bedrohung mit dem Artikel 58 die Selbstkritik anordnet. Man versucht zu beweisen, dass der Bruch der Demokratie nicht durch das leitende Zentrum, sondern durch die sogenannten „ausführenden Organe“ erfolgt, die man aber ebenfalls auf keine Weise belangen kann, da sich jeder „Ausführende“ gleichzeitig auch als „Führer“ aller unter ihm Stehenden erweist.

Somit ist die neue Formel theoretisch vollständig absurd. Sie demonstriert durch ihre Neuheit und Absurdität, dass sie überhaupt nur zur Befriedigung gewisser gereifter Bedürfnisse entstanden ist. Sie ist ein Abbild jenes bürokratischen Apparats, der sie geschaffen hat.

Die Frage ist wiederum unlösbar mit der Frage der Fraktionen und Gruppierungen verbunden. Bei jeder Streitfrage und jeder Meinungsverschiedenheit hat die Führung und die offizielle Fresse nicht allein der WKP, sondern auch der Komintern und aller ihrer Sektionen, diese Frage stets auf das Gebiet der Fraktionen und Gruppierungen verschoben. Ohne vorübergehende ideologische Gruppierungen ist ein ideologisches Leben der Partei undenkbar. Irgendein anderes Mittel dafür hat noch niemand entdeckt. Die bisherigen Versuche, ein anderes Mittel zu finden, sind alle auf das gleiche Rezept der Erstickung jedes ideologischen Lebens der Partei hinausgelaufen.

Selbstverständlich stellen die Gruppierungen ebenso wie die Meinungsverschiedenheiten ein „Übel“ dar. Allein dieses Übel ist ebenso sehr ein notwendiger Bestandteil der Dialektik der Parteientwicklung, wie die Gifte im Leben des menschlichen Organismus.

Ein noch größeres Übel bedeutet die Verwandlung der Gruppierungen zu organisierten und noch mehr, zu geschlossenen Fraktionen. Die Kunst der Parteiführung besteht gerade darin, es gar nicht so weit kommen zu lassen. Durch ein bloßes Verbot kann man das natürlich nicht erreichen. Die Erfahrungen der WKP beweisen das am allerbesten.

Auf dem 10. Parteitag hat Lenin unter dem Donner der Geschütze des Kronstädter Aufstandes und der Kulakenaufstände einen Beschluss, der die Fraktionen und Gruppierungen verbietet, durchgesetzt. Unter Gruppierungen wurden dabei nicht vorübergehende Strömungen verstanden, die in dem Prozess des Parteilebens sich unfehlbar bilden müssen, sondern die Fraktionen, die sich als Gruppierungen bezeichnen. Die Parteimassen hatten die tödliche Gefahr des Augenblicks wohlverstanden und ihren Führer darin unterstützt, indem sie jene harte und dem Buchstaben nach unnachgiebige Resolution des Verbots der Fraktionen und des Fraktionellen annahmen. Doch die Partei wusste damals sehr gut, dass diese Formel durch das ZK unter der Leitung Lenins ausgelegt würde, so dass also diese Auslegung weder grob noch unloyal sein und noch weniger zum Missbrauch der Macht führen würde. (Siehe das „Testament“ Lenins.) Die Partei wusste, dass sie genau nach einem Jahre, oder wenn es ein Drittel der Partei verlangen würde, schon nach einem Monat, auf einem neuen Parteitag die Erfahrungen prüfen und die notwendigen Einschränkungen hinzufügen konnte. Der Beschluss des 10. Parteitages war eine sehr scharfe Maßnahme, die durch die kritische Lage der regierenden Partei bei ihrer gefährlichsten Wendung vom Kriegskommunismus zur NEP hervorgerufen war. Diese scharfe Maßnahme hat sich als völlig berechtigt erwiesen, denn sie ergänzte nur die richtige und weitblickende Politik und entzog den, bei dem Übergang zur neuen Wirtschaftspolitik entstandenen Gruppierungen, den Boden unter den Füßen.

Jedoch der Beschluss des 10. Parteitages über die Fraktionen und Gruppierungen, der damals schon eine entsprechende Auslegung und Anwendung erforderte, ist keineswegs ein absolutes Prinzip, das über allen anderen Parteibedürfnissen steht, unabhängig von dem Lande, der Lage und der Zeit. Insofern sich die Parteileitung nach dem Abgang Lenins – um sich selbst gegen jede Kritik zu schützen – formell auf den Beschluss des 10. Parteitages über Fraktionen und Gruppierungen stützte, hat sie die Parteidemokratie immer mehr erstickt und gleichzeitig ihr eigentliches Ziel, die Beseitigung des Fraktionellen, immer weniger erreicht. Denn die Aufgabe besteht ja nicht darin, die Fraktionen zu verbieten, sondern darin, keine Fraktionen entstehen zu lassen. Indessen haben die Fraktionen noch niemals die Partei so sehr verwüstet, indem sie die Einheit derselben zersetzten, als seit dem Abgang Lenins von der Führung. Gleichzeitig aber hat auch noch niemals in der Partei eine so hundertprozentige, aber formale Einstimmigkeit wie gegenwärtig geherrscht, die durch und durch faul ist und nur zur Deckung der verschlechterten Methoden des Parteilebens dienen soll.

Eine geheime Apparatfraktion entstand in der WKP bereits vor dem 12. Parteitag. Später nahm sie bereits den Charakter einer Verschwörerorganisation, mit einem eigenen illegalen ZK („Siebenmännerkollegium“) mit eigenen Rundschreiben, Agenten, Chiffren u.a.m. an. Seitdem wird der Parteiapparat aus Mitgliedern eines unkontrollierbaren Ordens zusammengesetzt, der über die außerordentlichen Mittel, nicht allein der Partei, sondern auch des Staatsapparats, verfügt und die Parteimassen nur zur Deckung und zur Hilfswaffe für ihre kombinatorischen Manöver verwandelt.

Doch, je kühner sich diese abgeschlossene Apparatfraktion von der Kontrolle der Parteimassen absondert, welche immer mehr durch alle möglichen „Berufungen“ verwässert wird, um so tiefer und schärfer geht der Prozess der Fraktionsteilung weiter, und zwar nicht allein unten, sondern auch innerhalb des Apparats selbst. Bei der vollständigen und uneingeschränkten Herrschaft des Apparates über die Partei, die bereits zur Zeit des 13. Parteitages erreicht wurde, finden die Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Apparates selbst keinen Ausweg, denn die Partei zu einer wirklichen Entscheidung anrufen, hieße ja, ihr den Apparat wiederum zu unterwerfen. Die Streitfragen durch die Methoden der Apparatdemokratie zu entscheiden, d.h. also durch die Befragung der Mitglieder der Geheimfraktion, dazu ist stets nur jene Apparatgruppierung bereit, die von vornherein überzeugt ist, dass sie die Mehrheit hat. Die Folge ist, dass innerhalb der herrschenden Apparatfraktion eigene feindliche Fraktionen entstehen, die nicht so sehr danach streben, die Mehrheit innerhalb der Gesamtfraktion zu erobern, als die Unterstützung der Einrichtungen des Staatsapparates zu erhalten. Was nun die Mehrheit des Parteitages anbetrifft, so ist diese damit schon ganz automatisch gesichert, denn der Parteitag kann einberufen werden, wenn es am bequemsten ist und vorbereitet werden, wie man es haben will. So entwickelt sich die Usurpation des Apparats, die damit eine drohende Gefahr, nicht allein für die Partei, sondern auch für die Diktatur des Proletariats darstellt.

Nachdem mit Hilfe dieser Apparatfraktion die erste „antitrotzkistische“ Kampagne im Jahre 1923/24 durchgeführt worden war, entstand innerhalb der illegalen Fraktion, die durch das Siebenmännerkollegium dirigiert wurde, ein tiefer Riss. Der Grund desselben war die Klassenunzufriedenheit der Leningrader proletarischen Avantgarde mit dem beginnenden Herabgleiten in den Fragen der inneren sowie der äußeren Politik. Die fortschrittlichen Leningrader Arbeiter setzten im Jahre 1925 das von Fortschrittlern in Moskau im Jahre 1923 begonnene Werk fort. Allein diese tiefen Klassentendenzen haben in der Partei keinen offenen Ausweg gefunden. Sie fanden ihren Ausdruck durch den dumpfen Kampf innerhalb der Apparatfraktion.

Im April 1925 verschickte des ZK in der ganzen Partei Rundschreiben, die die angeblich von den „Trotzkisten“ (!) verbreiteten Gerüchte, als ob innerhalb des Kerns der „Leninisten“, d.h. also innerhalb des fraktionellen Siebenmännerkollegiums eine Meinungsverschiedenheit in bezug auf die Bauernschaft herrsche, dementieren sollte. Erst durch dieses Rundschreiben erfuhren breitere Parteikaders, dass solche Meinungsverschiedenheiten überhaupt bestehen, was aber dieses hohe Gremium nicht hinderte, die Parteimitgliedschaft mit der Behauptung zu betrügen, dass es die „Opposition“ sei, welche die „Einheitlichkeit“ der „leninistischen Garde“ durchbreche. Zur vollsten Blüte gelangte diese Propaganda, als der 14. Parteitag, die Parteimassen durch diese formlosen und verwickelten aber nach ihrem Klassenursprung nichtsdestoweniger tiefen Meinungsverschiedenheiten, zwischen den zwei Teilen der herrschenden Fraktion, überrumpelte. Die Moskauer und die Leningrader Organisationen, d.h. also zwei Grundfesten der Partei, nahmen im allerletzten Augenblick vor dem Parteitag auf ihren Bezirkskonferenzen aber Resolutionen von direkt entgegengesetztem Charakter an. Es ist selbstverständlich, dass sowohl die eine wie die andere einstimmig angenommen wurde.

Dieses Wunder der „revolutionären Ordnung“ erklärte Moskau als eine Vergewaltigung des Leningrader Apparats, und Leningrad erhob dieselbe Beschuldigung gegen Moskau. Als ob jemals zwischen der Moskauer und Leningrader Organisation irgendeine undurchdringliche Mauer bestanden hätte. Hier wie dort entschied stets der Parteiapparat, indem er durch eine hundertprozentige Einstimmigkeit bewies, dass es bei allen grundsätzlichen Fragen des Parteilebens keine Partei gibt.

Der 14. Parteitag war nun genötigt, neue Meinungsverschiedenheiten über verschiedene Grundfragen zu lösen und eine neue Zusammensetzung der Leitung hinter dem Rücken der nichtbefragten Partei zu bestimmen. Der Parteitag überließ sofort diese Entscheidung einer peinlichst gesiebten Hierarchie von Parteisekretären. Der 14. Parteitag war ein weiterer Meilenstein auf dem Wege der Liquidierung der Parteidemokratie durch die Methoden der „Ordnung“, d.h. also der Willkür der maskierten Apparatfraktion. Die nächste Etappe des Kampfes ist ja erst vor kurzem vor sich gegangen. Die Kunst der regierenden Fraktion bestand darin, die Partei jedes Mal vor einen bereits gefassten Beschluss, vor vollzogene nicht wieder gutzumachende Tatsachen, zu stellen.

Dieses neue, höhere Stadium der „revolutionären Ordnung“ hat aber keineswegs die Liquidierung der Fraktionen und Gruppen bedeutet. Im Gegenteil, die Entwicklung derselben verstärkte und verschärfte sich noch, sowohl innerhalb der Parteimassen wie auch innerhalb des Parteiapparats. Was nun die Partei anbetrifft, so hat sich hier die bürokratische Erledigung der „Gruppierungen“ immer mehr verschärft, und indem sie sich bis zur Niedertracht eines Wrangeloffiziers und des Artikels 58 verstieg, nur ihre Machtlosigkeit bewiesen. Zu gleicher Zeit ging ein Prozess einer neuen Spaltung innerhalb der herrschenden Fraktion selbst vor sich, der sich auch jetzt noch weiter entwickelt. Gewiss fehlt es auch jetzt nicht an verlogenen Demonstrationen von Einstimmigkeit und an Rundschreiben, die die völlige Einmütigkeit der Spitzen beweisen sollen. Indessen sprechen alle Anzeichen dafür, dass der verborgene Kampf innerhalb der abgeschlossenen Apparatfraktion wegen seiner Ausweglosigkeit einen immer schärferen Charakter annimmt und die Partei zu irgendeiner neuen Explosion treibt.

So ist es also die Theorie und die Praxis der „revolutionären Ordnung“, die sich unfehlbar zur Theorie und Praxis der Usurpation verwandeln muss.

Dieser Sachverhalt beschränkt sich aber schon längst nicht mehr auf die Sowjetunion. Im Jahre 1923 ging die Kampagne gegen die Fraktionsbildungen hauptsächlich von der Begründung aus, dass die Fraktionen den Kern neuer Parteien bilden können, und daher die Diktatur des Proletariats in einem Lande mit vorwiegender Bauernbevölkerung keine Freiheit der Parteien zulassen könne.

An sich ist diese Feststellung unbedingt richtig. Allein, sie erfordert eine richtige Politik und ein richtiges Regime. Es ist aber klar, dass diese Feststellung gleichzeitig einen Verzicht auf die Ausdehnung der Resolution des 10. Parteitages der regierenden WKP auf die Kommunistischen Parteien in den bürgerlichen Staaten bedeuten müsste. Aber das bürokratische Regime hat seine eigene verschlungene Logik.

Wenn es keine demokratische Kontrolle innerhalb der Sowjetpartei duldet, dann duldet es diese ebenso wenig innerhalb der Komintern, die doch formell noch über der WKP steht. Das ist es, weshalb die Sieben aus der groben und unloyalen Auslegung der Resolution des 10. Parteitages ein Universalrezept machten und sie auf sämtliche kommunistische Organisationen des Erdballs ausdehnten.

Der Bolschewismus hat sich immer durch eine historische Kohnkretisierung bei der Ausarbeitung von Organisationsformen ausgezeichnet, nicht aber durch nackte Schemas. Die Bolschewiki änderten jedes Mal bei dem Übergang von einer Etappe zur anderen radikal ihre organisatorische Struktur. Jetzt dagegen wird ein und dasselbe Prinzip der „revolutionären Ordnung“, sowohl bei der mächtigen Partei der proletarischen Diktatur, wie bei der deutschen Kommunistischen Partei, die einen ernsten politischen Faktor darstellt, bei der jungen chinesischen Partei, die sofort in den Wirbel der Revolutionskämpfe hineingerissen wurde, wie auch endlich bei der Partei der USA, die doch eigentlich nur einen kleinen Propagandazirkel darstellt, angewandt. Es genügt, wenn in der letzteren irgendein Zweifel in bezug auf jene Methoden laut wird, die von dem gerade am Kommando stehenden Pepper aufgedrängt werden, und schon prasseln auf die „Zweifelnden“ alle möglichen Vergeltungsmaßnahmen für Fraktionsbildungen hernieder. Und die junge Partei, die sich in einem noch völlig embryonalen Zustande eines politischen Organismus befindet, ohne jede wirkliche Verbindung mit den Massen, ohne die Erfahrungen einer revolutionären Führung und ohne theoretische Schulung, wird bereits vom Kopf bis zu den Füßen mit sämtlichen Attributen der „revolutionären Ordnung“ bewaffnet, so dass es aussieht, wie wenn ein sechsjähriger Junge die Ausrüstung seines Vaters trägt.

Die WKP besitzt eine sehr reiche ideologische revolutionäre Erfahrung. Doch wie die letzten fünf Jahre es gezeigt haben, vermag auch sie nicht ungestraft auch nur einen einzigen Tag von den Prozenten des Kapitals allein zu leben, sondern sie ist verpflichtet, es stets zu erneuern und zu erweitern, was nur durch ein kollektives Arbeiten des Parteigedankens möglich ist. Was soll man nun da von den ausländischen KP sagen, die vor einigen Jahren entstanden sind und erst das Anfangsstadium der Akkumulation des theoretischen Wissens und des praktischen Könnens durchgehen. Ohne eine wirkliche Freiheit des Parteilebens, Freiheit der Diskussion und Freiheit einer kollektiven, darunter auch der gruppenmäßigen Ausarbeitung ihrer Wege, werden diese Parteien niemals eine entscheidende revolutionäre Macht werden.

Bis zum 10. Parteitag, der die Fraktionsbildung verboten hat, hatte die WKP bereits zwei Jahrzehnte ohne ein solches Verbot existiert. Und gerade diese zwei Jahrzehnte haben sie so erzogen und vorbereitet, dass sie bei der schwierigsten Wendung den strengen Beschluss des 10. Parteitages anzunehmen und zu ertragen vermochte. Die Kommunistischen Parteien des Westens aber beginnen gleich von Anfang an damit.

Lenin – und mit ihm auch ich – hat am allermeisten befürchtet, dass die WKP, ausgerüstet mit den mächtigen Staatsmitteln, einen erdrückenden und übermäßigen Einfluss auf die jungen, sich eben organisierenden Parteien des Westens haben werde. Lenin hat unermüdlich vor Übertreibungen in bezug auf den Zentralismus gewarnt und gegen die allzu starken Ansätze dazu von Seiten des EKKI und des Präsidiums, besonders aber gegen die Formen und Methoden der Unterstützung, die zu direkten Befehlen wurden, gegen die es keine Appellation gab, stets angekämpft. Der Umschwung hatte im Jahre 1924 unter der Losung der „Bolschewisierung“ begonnen. Wenn man unter der Bolschewisierung, die Reinigung der Partei von fremdartigen Elementen und Bestrebungen, von sozialdemokratischen Beamten, die an ihren Posten kleben, von Freimaurern, von demokratischen Pazifisten, von idealistischen Wirrköpfen usw. versteht, so hat man diese Arbeit bereits seit dem ersten Tage des Bestehens der Komintern durchgeführt. Auf dem 4. Kongress hatte diese Arbeit in bezug auf die französische Partei sogar äußerst scharfe Kampfformen angenommen. Doch diese wirkliche Bolschewisierung war unlöslich mit den eigenen Erfahrungen der nationalen Sektionen der Komintern verbunden und ist aus diesen Erfahrungen herausgewachsen. Ihre Prüfsteine waren die Fragen der nationalen Politik, die zu internationalen Fragen wurden. Die Bolschewisierung im Jahre 1924 hatte vollständig den Charakter einer Karikatur angenommen. Den führenden Organen der Kommunistischen Parteien hielt man den Revolver an die Schläfe und verlangte von ihnen, dass sie, ohne jede Information und Beratung, sofort eine endgültige Stellung zu den inneren Meinungsverschiedenheiten der WKP einnehmen sollten, wobei von dieser Stellungnahme im voraus abhing, oh sie weiter in der Komintern verbleiben konnten. Die europäischen Kommunistischen Parteien waren indessen im Jahre 1924 keineswegs zu einer plötzlichen Entscheidung der russischen Diskussionsfragen, in der sich damals eben erst zwei prinzipielle Tendenzen herausschälten, die aus der neuen Etappe der proletarischen Diktatur herauswuchsen, gerüstet. Gewiss war die Reinigungsarbeit auch nach dem Jahre 1924 notwendig. Es wurden auch aus vielen Sektionen ganz richtig die fremdartigen Elemente entfernt. Doch im ganzen genommen, bestand die „Bolschewisierung“ darin, dass man durch den Keil der russischen Meinungsverschiedenheiten, auf den man von oben mit dem Hammer des Staatsapparats schlug, immer wieder die sich jeweils bildenden Leitungen der Kommunistischen Parteien des Westens zerschlug. Das alles segelte unter der Flagge des Kampfes gegen die Fraktionsbildungen.

Wenn innerhalb der Partei der proletarischen Avantgarde sich eine Fraktion kristallisiert, die deren Kampffähigkeit für lange Zeit zu paralysieren droht, dann wird selbstverständlich die Partei vor die Entscheidung gestellt, ob sie noch Zeit zu einer ergänzenden Nachprüfung lassen soll oder eine sofortige Spaltung für unumgänglich hält. Eine Kampfpartei kann niemals die Summe von Fraktionen, die nach entgegengesetzten Richtungen ziehen, darstellen. In dieser allgemeinen Form stimmt das unbedingt. Doch die Spaltung als ein Präventivmittel gegen Meinungsverschiedenheiten anzuwenden und jede Gruppe und Gruppierung, die eine Stimme der Kritik erhebt, abstoßen, würde bedeuten, dass man das innere Leben der Partei in eine Kette von organisatorischen Abtreibungen verwandelt. Solche Methoden begünstigen nicht die Fortsetzung und die Entwicklung einer Geburt, sondern verbrauchen nur den mütterlichen Organismus, d.h. den der Partei. Der Kampf gegen die Fraktionsbildungen wird dadurch viel gefährlicher als die Fraktionsbildung selbst.

Wir besitzen gegenwärtig eine solche Lage, bei der die tatsächlichen Initiatoren und Begründer beinahe sämtlicher Kommunistischen Parteien der Welt außerhalb der Internationale gestellt sind, den früheren Vorsitzenden der letzteren mit eingeschlossen. Beinahe aus sämtlichen Parteien sind die führenden Gruppen von zwei aufeinanderfolgenden Etappen in der Parteientwicklung entweder ausgeschlossen oder von der Leitung entfernt. In Deutschland befindet sich die Gruppe Brandler auch heute noch in der Lage einer halben Parteizugehörigkeit. Die Gruppe Maslow ist außerhalb der Partei gestellt. In Frankreich sind die alten Gruppen von Rosmer, Monatte und Loriot ausgeschlossen. Souvarine und ebenso die leitende Gruppe der nächsten Periode Treint, Girault sind ebenfalls ausgeschlossen. In Belgien ist die Kerngruppe Overstraeten ausgeschlossen. Wenn die Gruppe Bordiga, die Begründerin der Kommunistischen Partei Italiens, erst zur Hälfte ausgeschlossen ist, so erklärt sich das aus den Bedingungen des faschistischen Regimes heraus, in der Tschechoslowakei, in der Schweiz, in Norwegen, in den Vereinigten Staaten, mit einem Wort, beinahe in sämtlichen Parteien der Welt erblicken wir mehr oder weniger analoge Erscheinungen, die in der nachleninschen Periode entstanden sind. Dass viele der Ausgeschlossenen grobe Fehler gemacht haben, ist nicht zu bestreiten, und wir haben nicht später als andere darauf hingewiesen. Dass viele der Ausgeschlossenen nach ihrem Hinauswurf aus der Komintern zu einem großen Teil in ihre Ausgangspositionen, zur linken Sozialdemokratie oder zum Syndikalismus zurückgekehrt sind, ist ebenso richtig. Allein die Aufgabe der Führung besteht keineswegs darin, jedes Mal die jungen Leitungen der nationalen Parteien in eine Sackgasse zu drängen und die einzelnen Vertreter derselben dadurch zur ideologischen Entartung zu verurteilen. Die „revolutionäre Ordnung“ der bürokratischen Führung steht somit als ein drohendes Hindernis auf dem Wege der Entwicklung aller Parteien der Kommunistischen internationale.


Organisatorische Fragen sind von Programm- und Taktikfragen nicht zu trennen. Man muss sich klare Rechenschaft darüber ablegen, dass die wichtigste Quelle des Opportunismus in der Komintern, das bürokratische Apparatregime sowohl in der Komintern selbst, wie in ihrer führenden Partei bildet. Dass der Bürokratismus in der Sowjetunion zugleich auch der Ausdruck und das Druckmittel der nichtproletarischen Klassen auf das Proletariat ist, darüber kann es, nach den Erfahrungen der Jahre 1923-28 keinen Zweifel mehr geben. Der Entwurf des Programms der Komintern gibt in diesem Falle eine ganz richtige Formulierung, wenn er sagt, dass die bürokratische Entartung „unfehlbar auf dem Boden einer ungenügend kultivierten Masse und dem Proletariat fremder Klasseneinflüsse entsteht“. Hier haben wir den Schlüssel zum Verständnis nicht allein des Bürokratismus überhaupt, sondern auch seines außerordentlichen Wachstums in den letzten fünf Jahren. Wenn das ungenügende Kulturniveau der Massen in dieser Periode immerhin gestiegen ist, was nicht zu bezweifeln ist, so kann man also den Grund des Wachsens des Bürokratismus nur in dem Wachsen der dem Proletariat fremden Klasseneinflüssen suchen. In dem Maße, in weichem sich die europäischen kommunistischen Parteien, vor allen Dingen die leitenden Körperschaften derselben, organisatorisch den Umstellungen und Umgruppierungen des Apparats in der WKP anpassten, bildet der Bürokratismus der ausländischen kommunistischen Parteien größtenteils nur ein Abbild und eine Ergänzung des Bürokratismus innerhalb der WKP.

Die Auslese der führenden Elemente in den kommunistischen Parteien ging und geht jetzt noch hauptsächlich unter der Voraussetzung der Bereitschaft derselben, der allerletzten Apparatgruppierung der WKP beizustimmen, vor sich. Die selbständigeren und verantwortlicheren Elemente in der Leitung der ausländischen Parteien, die mit dem ständigen Wechsel nicht einverstanden waren, wurden entweder auf rein administrativem Wege aus der Partei überhaupt entfernt, oder sie wurden in die rechten (oft nur scheinbar rechten) Flügel hineingedrängt, oder sie gelangten zu der Opposition von links. Auf diese Weise wurde der organische Prozess der Auslese und der Zusammenschweißung der führenden revolutionären Elemente auf der Grundlage des proletarischen Kampfes unter der Leitung der Komintern auf einmal unterbrochen, verändert, verzerrt und zum Teil sogar durch die administrative und bürokratische Sortierung von oben herab direkt verfälscht. Es ist natürlich, dass nun jene von den leitenden Kommunisten, die stets mit großer Bereitwilligkeit die fertigen Beschlüsse annahmen und beliebige Resolutionen unterschrieben, oft das Übergewicht über jene Parteielemente erhielten, die noch von dem Gefühl der revolutionären Verantwortung durchdrungen waren. Anstatt einer Auslese von erprobten und standhaften Revolutionären, entstand nun immer mehr eine Auslese der bürokratisch Geeignetsten.

Alle Fragen der inneren und der äußeren Politik führen uns unweigerlich wieder zur Frage des Parteiregimes zurück. Das Verlassen der Klassenlinie in den Fragen der chinesischen Revolution, der englischen Arbeiterbewegung, der Wirtschaft der UdSSR, des Arbeitslohnes, der Steuer usw. bildet selbstverständlich schon an sich eine ernste Gefahr. Doch diese Gefahr vergrößert sich noch zehnfach, weil das bürokratische Regime die Partei an Händen und Füßen bindet und ihr keine Möglichkeit gibt, auf normalem Wege die Linie der leitenden Parteispitzen zu berichtigen. Dasselbe trifft auch auf die Komintern zu. Die Resolution des 14. Parteitages der WKP über die Notwendigkeit einer demokratischeren und kollektiveren Leitung der Komintern hat sich in der Praxis in das Gegenteil verwandelt. Die Änderung des Regimes in der Komintern wird zu einer Lebensfrage für die internationale revolutionäre Bewegung. Diese Änderung kann auf zwei Wegen erreicht werden: Entweder Hand in Hand mit der Änderung des Regimes in der WKP oder im Kampfe gegen die leitende Rolle der WKP in der Komintern. Es müssen alle Anstrengungen gemacht werden, um den ersten Weg zu sichern. Der Kampf uni die Änderung des Regimes in der WKP ist gleichzeitig ein Kampf um die Gesundung des Regimes in der Komintern und für die Beibehaltung der führenden ideologischen Rolle unserer Partei.

Deshalb muss man aus dem Programm rücksichtslos selbst jeden Gedanken entfernen, als ob lebendige aktive Parteien unter die Kontrolle der „revolutionären Ordnung“ einer unabsetzbaren staatlichen Parteibürokratie gestellt wären. Man muss der Partei selbst ihre Rechte zurückgeben. Es ist notwendig, dass die Partei wieder Partei wird. Das muss auch in dem Programm in solchen Worten gesagt werden, dass dem Bürokratismus und den usurpatorischen Tendenzen auf dem Wege der Auslegungskunst und der theoretischen Entschuldigungen, keinerlei Existenzmöglichkeit gelassen wird.

 

 

12. Die Ursachen der Niederlage der Opposition und ihre Perspektive

Der linke proletarische Flügel der Partei, der seine Anschauungen in einer Reihe von Dokumenten, deren Hauptsächlichstes „Die Plattform der Bolschewiki-Leninistlnnen (Opposition)“ ist, niedergelegt hat, wurde angefangen vom Herbst 1923 einem systematischen, organisatorischen Vernichtungsfeldzug ausgesetzt. Die Methoden dieser Abrechnung wurden durch den Charakter des Parteiregimes bestimmt, das in demselben Maße bürokratischer wurde, je stärker der Druck der nichtproletarischen Klassen auf das Proletariat war. Die Erfolgsmöglichkeit solcher Methoden wurde durch den allgemeinen politischen Charakter der Periode bedingt, in welcher das Proletariat die größten Niederlagen erleiden musste, die Sozialdemokratie wieder lebendig wurde und in den kommunistischen Parteien die zentristisch-opportunistischen Tendenzen erstarken konnten. Die erste Zertrümmerung der Opposition erfolgte unmittelbar nach der Niederlage der deutschen Revolution, gleichsam als eine Art Ergänzung derselben. Diese Zertrümmerung wäre bei einem Siege des deutschen Proletariats vollständig undenkbar gewesen, denn er hätte das Klassenbewusstsein des Proletariats der UdSSR und also auch dessen Widerstandskraft gegenüber dem Druck der bürgerlichen Klassen, sowohl von innen wie von außen, und gegenüber dem Vermittler dieses Druckes, dem Parteibürokratismus, außerordentlich gesteigert.

Zur Klärung des allgemeinen Sinnes der gegen Ende 1923 in der Komintern stattgefundenen Umgruppierungen wäre es höchst wichtig, Schritt für Schritt zu verfolgen, wie sich die führende Gruppe bei den verschiedenen Etappen ihres Hinabgleitens ihre „Siege“ über die Opposition erfocht. Ich bin außerstande diese Arbeit im Rahmen der Kritik des Programmentwurfs durchzuführen. Doch für unsere Zwecke genügt es, wenn wir betrachten, wie der erste „Sieg“ über die Opposition im September 1924 verstanden und gedeutet wurde. Stalin sagte in seinem Debutartikel über die Frage der internationalen Politik folgendes:

„Der entscheidende Sieg des revolutionären Flügels in den kommunistischen Parteien ist das sicherste Anzeichen der revolutionären Prozesse, die jetzt innerhalb der Arbeiterklasse vor sich gehen.“

Und an einer anderen Stelle desselben Artikels sagt er:

„Wenn man hier noch die Tatsache der völligen Isolierung der opportunistischen Strömungen in der RKP hinzufügt, so ist das Bild vollständig. Der 5. Kongress hat den Sieg des revolutionären Flügels in den hauptsächlichsten Sektionen der Komintern nur befestigt.“ (Prawda vom 20. September 1924. Hervorhebung von mir – L.T.)

Die Niederlage der Opposition wird hier somit als das Ergebnis des Umstandes erklärt, dass das Proletariat nach links geht, sich unmittelbar der Revolution nähert und bereits in allen Sektionen der Komintern dem revolutionären Flügel das Übergewicht über den opportunistischen gegeben hat. Jetzt, nachdem bereits beinahe fünf Jahre seit der größten Niederlage des internationalen Proletariats im Herbst 1923 verflossen sind, sieht sich die Prawda genötigt einzugestehen, dass

„die Welle einer gewissen Apathie und Niedergeschlagenheit, welche nach der Niederlage des deutschen Proletariats eingetreten ist und dem deutschen Kapital erlaubt hat seine Stellung zu befestigen“ (Prawda vom 28. Januar 1928),

erst jetzt zu schwinden beginnt.

Aber nun entsteht eine zwar für die gegenwärtige Führung der Komintern, aber nicht für uns neue Frage: Man muss also die Niederlage der Opposition im Jahre 1923 und der folgenden Jahre, nicht durch eine Linksschwenkung, sondern durch eine Rechtsschwenkung der Arbeiterklasse erklären? Die Antwort auf diese Frage entscheidet alles.

Auf dem 5. Kongress im Jahre 1924 und auch später in verschiedenen Artikeln und Reden, wurde darauf die klare und kategorische Antwort erteilt: Die Verstärkung der revolutionären Elemente innerhalb der Arbeiterbewegung Europas, die neue ansteigende Welle, die herannahende proletarische Revolution – das war es, was den Zusammenbruch der Opposition herbeigeführt hat. Jetzt aber ist die Wendung der politischen Konjunktur nach 1923 nach rechts und nicht nach links eine feststehende, bereits allgemein anerkannte, unbestreitbare Tatsache geworden. Darum ist auch jene Tatsache, dass die Entstehung des Kampfes gegen die Opposition und die Verschärfung dieses Kampfes bis zu den Ausschlüssen und Verbannungen mit dem politischen Prozess der bürgerlichen Stabilisierung in Europa auf das Engste verbunden ist, gar nicht zu bestreiten. Gewiss ist dieser Prozess in den letzten vier Jahren manchmal durch bedeutende revolutionäre Ereignisse unterbrochen worden. Allein, neue Fehler der Führung, noch schwerere als die 1923 in Deutschland, haben jedes Mal den Sieg in die Hände der Feinde gegeben und so neue Nährquellen für die bürgerliche Stabilisierung geschaffen. Die internationale revolutionäre Bewegung hat Niederlagen erlitten und mit ihr zusammen auch der linke, proletarische, leninistische Flügel der WKP und der Komintern.

Diese Erklärung wäre nicht vollständig, wenn wir dabei den aus dieser Weltlage heraus entstandenen inneren Prozess der Wirtschaft und der Politik der UdSSR außer acht lassen würden. Während die Widersprüche auf der Grundlage der NEP gewachsen waren, hatte die Führung die Probleme des ökonomischen Zusammenschlusses zwischen Stadt und Land nicht verstanden, die Disproportion und die Bedeutung der Industrialisierung unterschätzt, die Bedeutung einer Planwirtschaft nicht begriffen u.a.m.

Das Wachsen des ökonomischen und politischen Druckes von Seiten der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Schichten innerhalb des Landes auf Grund der Niederlagen der proletarischen Revolution in Europa und Asien – das war jene historische Kette gewesen, die sich vier Jahre lang um den Hals der Opposition zusammenzog. Wer das nicht verstanden hat, der hat überhaupt nichts verstanden. Bei dieser Darstellung war ich beinahe bei jeder einzelnen Etappe gezwungen, der Linie, die in Wirklichkeit durchgeführt wurde, jene gegenüberzustellen, die man als eine trotzkistische verworfen hat. Der allgemeine Sinn dieses Kampfes wird allen Marxisten mit aller Deutlichkeit klar.

Wenn auch die rein episodischen Beschuldigungen des „Trotzkismus“, durch die Anführung eines Haufens niedlicher und schätzbarer Zitate der letzten 25 Jahre bekräftigt, vorübergehend verwirren konnten, so konnte jeder bei einer allgemeinen zusammenhängenden Einschätzung des ideologischen Kampfes der letzten fünf Jahre feststellen, dass hier zwei Linien vorhanden waren. Die eine selbstbewusste und folgerichtige Linie, welche eine Fortsetzung und Entwicklung der theoretischen und strategischen Prinzipien Lenins in ihrer Anwendung auf die inneren Fragen der UdSSR, wie auch der Fragen der Weltrevolution darstellt – das war die Linie der Opposition. Die andere aber, unbewusste, widerspruchsvolle und schwankende Linie, die unter dem Drucke der feindlichen Klassenkräfte zur Zeit der internationalen politischen Ebbe zickzackartig von dem Wege des Leninismus herabglitt –, das war die Linie der offiziellen Führung. Die Menschen ändern bei großen Wendungen eher ihre Begriffe als ihre gewohnten Worte. Das ist ein allgemeines Gesetz des ideologischen Farbwechsels. Indem die Führung, beinahe in allen wesentlichen Punkten, Lenin revidierte, gab sie das für eine Entwicklung des Leninismus aus und bezeichnete dabei den wirklichen internationalen revolutionären Inhalt des Leninismus als „Trotzkismus“. Sie tat das nicht allein, um sich nach außen und innen zu maskieren, sondern auch, um sich leichter dem Prozess des eigenen Herabgleitens anzupassen. Wer dies verstehen will, der wird mir nicht den billigen Vorwurf machen, dass ich die Kritik des Programmentwurfs mit einer Entlarvung der Legende über den Trotzkismus verbunden habe. Der gegenwärtige Programmentwurf ist vollständig einer ideologischen Periode entsprungen, die mit dieser Legende erfüllt war. Die Verfasser des Entwurfs nährten sich zum größten Teil von jener Legende, gingen stets von ihr aus, und gebrauchten sie als Gradmesser aller Dinge. Der ganze Entwurf spiegelt diese Periode wider.

Die politische Geschichte ist um ein neues ganz außerordentlich lehrreiches Kapitel bereichert worden. Man könnte es als das Kapitel von der Macht der Mythenbildung, oder einfacher, „die ideologische Verleumdung als politische Waffe“ bezeichnen. Wie die Erfahrung gelehrt hat, darf man diese Waffe nicht unterschätzen. Wir haben den Sprung von dem Reich der Notwendigkeit ins Reich der Freiheit noch lange nicht hinter uns. Wir leben in einer Klassengesellschaft, die ohne Finsternis, Vorurteile und Aberglauben undenkbar ist. Der Mythos, der gewissen Interessen oder traditionellen Gewohnheiten entspricht, kann in einer Klassengesellschaft stets eine große Macht erhalten. Aber mit einem Mythos allein, selbst wenn dieser noch so planmäßig organisiert ist und über sämtliche Hilfsmittel der Staatsmacht verfügt, kann man keine große Politik treiben. Am allerwenigsten eine revolutionäre, zumal in unserer Epoche der jähen Wendungen.

Die Mythenbildung muss sich unfehlbar in ihre eigenen Widersprüche verwickeln. Einen kleinen, wenn auch vielleicht den wichtigsten, Teil dieser Widersprüche habe ich bereits genannt. Ganz unabhängig davon, ob die äußeren Bedingungen es mir gestatten werden, die Aufgabe zu Ende zu führen, hoffe ich fest darauf, dass die objektive Analyse der Ereignisse der subjektiven Analyse zu Hilfe kommen wird.

Die Radikalisierung der Arbeitermassen Europas, die bei den letzten Parlamentswahlen ihren Ausdruck gefunden hat, ist eine unbestreitbare Tatsache. Allein, diese Linkswendung durchläuft jetzt erst ihr Anfangsstadium. Solche Tatsachen, wie die kürzliche Niederlage der chinesischen Revolution, arbeiten der Radikalisierung entgegen und treiben diese zum größten Teil in sozialdemokratische Bahnen. Ich beabsichtige hier keineswegs das Tempo, in welchem dieser Prozess weiter vor sich gehen wird, zu prophezeien. Soviel ist aber klar, dass die Radikalisierung erst in jenem Augenblick eine neue revolutionäre Situation signalisieren wird, wenn die Kommunistische Partei auf Kosten der großen Reserven der Sozialdemokratie zu wachsen beginnt. Vorläufig ist das noch nicht der Fall. Es muss aber mit eherner Notwendigkeit eintreten.

Die gegenwärtige unbestimmte Haltung der Komintern-Führung mit ihren innerlich widerspruchsvollen Versuchen, das Steuer nach links zu drehen, ohne das gesamte Regime zu ändern und den organisatorischen Kampf gegen die erprobten revolutionären Elemente einzustellen; diese widerspruchsvolle Haltung ist nicht allein unter den Schlägen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten der UdSSR, welche die Prognose der Opposition voll bestätigt haben, entstanden, sondern sie entspricht auch vollkommen der ersten Etappe der Radikalisierung der Arbeitermassen Europas. Der Eklektizismus der Politik der Komintern-Führung, der Eklektizismus des Programmentwurfs, bilden gleichsam eine photographische Momentaufnahme vom gegenwärtigen Zustand der internationalen Arbeiterklasse. Diese wird durch den Gang der Entwicklung nach links gestoßen, hat aber ihren Weg noch nicht festgesetzt und gab beispielsweise 9 Millionen Stimmen der deutschen Sozialdemokratie.

Die weitere wirkliche revolutionäre Radikalisierung wird eine gigantische Umgruppierung innerhalb der Arbeiterklasse, in all ihren Organisationen, darunter auch in der Komintern bedeuten. Das Entwicklungstempo dieses Prozesses ist noch unklar, doch die Grundzüge desselben treten bereits mit aller Deutlichkeit hervor. Die Arbeitermassen werden Schicht um Schicht von der Sozialdemokratie zur Kommunistischen Partei übergehen. Die Achse der kommunistischen Politik wird sich immer weiter von rechts nach links verschieben. Gleichzeitig damit wird die Forderung der Opposition, die es bereits seit der Niederlage des deutschen Proletariats Ende 1923 verstanden hat, trotz des Hagels von Beschuldigungen und Verfolgungen gegen den Strom zu schwimmen, nach der konsequent bolschewistischen Linie immer lauter ertönen.

Der organisatorische Weg, auf dem die Idee des wirklichen, unverfälschten Leninismus, sowohl in der Komintern wie im gesamten internationalen Proletariat triumphieren wird, dieser Weg hängt in hohem Maße von der gegenwärtigen Leitung der Komintern und folglich unmittelbar vom 6. Kongress ab.

Wie auch die Entscheidung des letzteren ausfallen mag – wir sind auf die schlimmste gefasst –, uns beweist die Einschätzung der gegenwärtigen Epoche und ihrer inneren Tendenzen und insbesondere die Einschätzung der Erfahrungen der letzten 5 Jahre, dass die Opposition keines anderen Beetes als des der Kommunistischen Internationale bedarf. Es wird niemand gelingen uns von ihr los zu reißen. Unsere Ideen werden ihre Ideen werden, und sie werden in dem Programm der Komintern ihren Ausdruck finden.

 


Zuletzt aktualisiert am 21.7.2008