Leo Trotzki

 

Die Internationale Revolution und die Kommunistische Internationale

Erster Teil:
Das Programm der internationalen Revolution oder das Programm des Sozialismus in einem Lande


5. Die theoretischen Parteitraditionen

In dem obenangeführten Zitat gebraucht der Entwurf mit voller Absicht den Ausdruck „Sieg des Sozialismus in einem Lande“, um so rein äußerlich eine wörtliche Übereinstimmung mit dem Artikel Lenins aus dem Jahre 1915 zu erreichen, den man bereits so furchtbar, um nicht zu sagen verbrecherisch, während der Diskussion über die Frage des Aufbaues des Sozialismus in einem Lande, missbraucht hat. Auch in einem anderen Falle nimmt der Entwurf seine Zuflucht zu demselben Kunstgriff, indem er sich auf die Worte Lenins „bezieht“. Das ist die wissenschaftliche „Methodologie“ des Entwurfs.

Aus der gesamten, sehr reichen Literatur des Marxismus und aus der Schatzkammer der Arbeiten Lenins wird alles umgangen, was Lenin gesagt, gesprochen und getan hatte, das Programms der Partei und der Jugend umgangen, alle Aussprüche aller leitenden Parteiführer zur Zeit der Oktoberrevolution als die Entscheidung fallen sollte, werden außer Acht gelassen; ja sogar alles das, was die Verfasser des Programmentwurfs, Stalin und Bucharin selbst, bis 1924 gesagt hatten, wird umgangen. Von den beiden Zitaten von Lenin, die zur Verteidigung der Theorie des nationalen Sozialismus, welche aus den Bedürfnissen des Kampfes gegen den sogenannten „Trotzkismus“ gegen Ende 1924 oder Anfang 1925 heraus geboren wurde, angeführt werden, stammt das eine aus dessen Artikel über die Vereinigten Staaten von Europa aus dem Jahre 1915, während das andere aus dessen nicht mehr vollendeter Arbeit über die Genossenschaften aus dem Jahre 1923 stammt. Alles andere aber, was diesen beiden Zitaten von einigen Zeilen widerspricht, der gesamte Marxismus und Leninismus, wird einfach beiseite geschoben. Und diese zwei künstlich herausgerissenen und mit gröbsten Epigonenfehlern ausgelegten Zitate werden zur Grundlage einer neuen, rein revisionistischen Theorie, deren politische Folgen noch unabsehbar sind. Wir sind Zeugen, wie man mit Hilfe der Methoden der Scholastik und Sophistik versucht, dem marxistischen Stamm einen fremden Zweig zu Okulieren, der, falls er einschlagen sollte, unfehlbar den ganzen Baum vergiften und vernichten wird.

Auf dem 7. EKKI-Plenum erklärte Stalin (und nicht zum ersten Male): „Die Frage des Aufbaues der sozialistischen Gesellschaft in einem Lande ist zuerst von Lenin gestellt worden.“ (Stenographischer Bericht S.17. Die Unterstreichung stammt von mir – L.T.) Es wird hier somit zugegeben, dass vor dem Jahre 1915 vom Sozialismus in einem Lande nicht gesprochen wurde. Also leugnen Stalin und Bucharin die ganze vorangegangene Tradition des Marxismus und der Partei in der Frage des internationalen Charakters der proletarischen Revolution nicht. Wollen wir uns das notieren.

Hat aber nun Lenin im Jahre 1915 etwas gesagt, was mit dem, was Marx, Engels und Lenin vor diesem Jahre behauptet hatten, im Widerspruch stünde? Lenin schrieb:

„Die Ungleichmäßigkeit in der ökonomischen und politischen Entwicklung ist ein unbedingtes Gesetz des Kapitalismus. Hieraus folgt, dass der Sieg des Sozialismus zuerst in wenigen kapitalistischen Ländern oder sogar in einem einzeln genommenen Lande möglich ist. Das siegreiche Proletariat dieses Landes würde sich nach Enteignung der und nach Organisierung der sozialistischen Produktion im eigenen Lande der übrigen, der kapitalistischen Welt entgegenstellen, würde die unterdrückten Klassen der anderen Länder auf seine Seite ziehen, in diesen Ländern den Aufstand gegen die Kapitalisten entfachen und notfalls sogar mit Waffengewalt gegen die Ausbeuterklassen und ihre Staaten vorgehen.“ (Lenin, Sozialdemokrat vom 3. August 1915, Über die Losung der Vereinigten Staaten von Europa, Lenin, Werke, Band 21, S.342-346, hier S.345f., Hervorhebung von L.T.)

Was meinte Lenin damit? Nur, dass der Sieg des Sozialismus im Sinne der Errichtung der Diktatur des Proletariats zuerst in einem einzelnen Lande möglich ist, wobei dieser Staat sich im Gegensatz zu der kapitalistischen Welt stellen wird. Um sich gegen die Angriffe zu verteidigen, wird der proletarische Staat gezwungen sein, selbst zum revolutionärem Angriff überzugehen. Dazu muss er vorher bei sich die „sozialistische Produktion organisieren, d.h. die den Kapitalisten entrissenen Fabriken selber in Betrieb nehmen. Und das ist auch alles. Ein solcher Sieg ist, wie bekannt, zuerst in Russland errungen worden. Der erste Arbeiterstaat müsste zur Abwehr der internationalen Intervention zu allererst „bei sich die sozialistische Produktion oder Trusts von sozialistischem Typus“ organisieren. Lenin verstand also unter dem Siege des Sozialismus in einem Lande keine Utopie einer selbständigen sozialistischen Gesellschaft in einem rückständigen Lande, sondern etwas weit Realistischeres. Nämlich das, was bei uns die Oktoberrevolution bereits in der ersten Zeit ihres Bestehens geschaffen hat.

Vielleicht müsste das noch bewiesen werden, doch es gibt so viel Beweise dafür, dass die Schwierigkeit nur in der Auswahl derselben besteht. Lenin spricht in seinen Thesen über Krieg und Frieden am 7. Januar 1918, dass:

„für den Erfolg des Sozialismus in Russland unbedingt eine gewisse Zeitspanne, mindestens einige Monate, notwendig ist.“ (Lenin, Werke, Band 26, S.443)

Im Anfang desselben Jahres 1918 schrieb Lenin in seinem gegen Bucharin gerichteten Artikel Über linke Kindereien und Kleinbürgerlichkeiten:

„Hätten wir etwa in einem halben Jahr den Staatskapitalismus errichtet, so wäre das ein gewaltiger Erfolg und die sicherste Garantie dafür, dass sich in einem Jahr der Sozialismus bei uns endgültig festigt und unbesiegbar wird.“ (Lenin, 5. Mai 1918, Lenin, Werke, Band 27, S.315-347, hier S.327, Hervorhebung von L.T.)

Wie konnte Lenin eine so kurze Frist für die „unbesiegbare Festigung des Sozialismus“ festsetzen? Welchen materiellen industriellen und gesellschaftlichen Inhalt legte er diesen Worten unter? Diese Frage erscheint sofort in einer ganz anderen Beleuchtung, wenn man sich an das Referat Lenins am 29. April 1918 im Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitee der Sowjetregierung erinnert.

„Auch die kommende Generation, die weiter entwickelt sein wird, wird wohl kaum den völligen Übergang zum Sozialismus vollziehen.“ [Referat über die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht, vgl. Lenin, Werke, Band 27, S.271-296, hier S.291]

Und im Dezember 1919 sprach sich Lenin auf dem Kongress der Kommunen und Genossenschaften noch schärfer aus:

„Wir wissen, dass wir die sozialistische Ordnung nicht sofort einführen können; gebe Gott, dass unsere Kindern, vielleicht aber auch erst unsere Enkeln, die Errichtung des Sozialismus bei uns erleben.“ (Lenin, 4. Dezember 1919, Lenin, Werke, Band 30, S.181-191, hier S.189)

In welchem von diesen beiden Fällen hat Lenin nun recht gehabt? Damals, als er die unbesiegbare Festigung des Sozialismus innerhalb zwölf Monaten festsetzte, oder damals, als er erklärte, dass die Durchführung „der sozialistischen Ordnung“ eine Aufgabe nicht für unsere Kinder, sondern für unsere Enkel sein wird? Lenin hatte in beiden Fällen recht gehabt, denn er hatte dabei zwei ganz verschiedene unvergleichbare Etappen des sozialistischen Aufbaus im Auge gehabt. Im ersten Falle verstand Lenin unter der unbesiegbaren Festigung des Sozialismus nicht etwa den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft innerhalb einer Jahresfrist, oder sogar in „einigen Monaten“, d.h. also die Vernichtung der Klassen, auch nicht etwa die Überwindung der Gegensätze zwischen Stadt und Land, sondern die Wiederaufnahme der Arbeit in den Fabriken und Betrieben in der Hand des Arbeiterstaates. Und damit also auch die Sicherstellung des Warenaustausches zwischen Stadt und Land. Gerade die kurze Frist gibt hier den richtigen Schlüssel zum Verstehen dieser Perspektive.

Gewiss selbst für diese Elementaraufgabe war die Anfang 1918 festgesetzte Frist zu kurz. Gerade auf dieses „Sichverrechnethaben“ bezieht sich der Spott Lenins auf dem 4. Kongress der Komintern:

„Wir waren schon dümmer als heute ... Aber die allgemeine Perspektive sahen wir ganz richtig. Wir haben keinen Moment geglaubt, dass man im Verlauf von zwölf Monaten eine komplette ‘sozialistische Ordnung’ schaffen könne, noch dazu in einem rückständigen Land.“

Die Erreichung eines vollständigen und endgültigen Aufbaus der sozialistischen Gesellschaft hat Lenin drei Generationen auferlegt: uns selber, unseren Kindern und unseren Enkeln.

Es ist also ganz klar, dass Lenin in seinem Artikel vom Jahre 1915 unter der Organisierung einer „sozialistischen Produktion“ nicht die Bildung einer sozialistischen Gesellschaft verstand, sondern eine weit elementarere Aufgabe, die wir in der UdSSR, bereits gelöst haben. Sonst müsste man auf den absurden Gedanken kommen, dass Lenin der Meinung war, eine proletarische Partei müsse, nachdem sie die Macht erobert hat, den revolutionären Klassenkampf bis auf die dritte Generation verschieben. Also, so wirklich Mitleid erregend steht es mit dem Haupteckpfeiler der neuen Theorie, mit dem Zitat aus dem Artikel von 1915. Noch trauriger ist aber der Umstand, dass dieses Zitat Lenins sich überhaupt gar nicht auf Russland bezieht. Er sprach dort von Europa und dessen Gegensatz zu Russland. Das entspringt nicht allein dem Inhalt des zitierten Artikels, welcher der Frage der Vereinigten Staaten von Europa gewidmet ist, sondern auch der gesamten damaligen Einstellung Lenins. Einige Monate später, am 20. November 1915, schrieb Lenin speziell über Russland:

„Aus dieser faktischen Lage ergibt sich ganz klar die Aufgabe des Proletariats. Mit selbstloser Kühnheit geführter revolutionärer Kampf gegen die Monarchie (die Losungen der Konferenz vom Januar 1912, „Die drei Grundpfeiler“) – ein Kampf, der alle demokratischen Massen, d.h. in die Hauptsache die Bauernschaft, mit sich reißt. Zugleich aber erbarmungsloser Kampf gegen den Chauvinismus, für die sozialistische Revolution in Europa im Bunde mit dem europäischen Proletariat ... Die durch den Krieg entfesselte Krise hat die ökonomischen und politischen Faktoren verstärkt, die das Kleinbürgertum – darunter auch die Bauernschaft – nach links drängen. Das ist die objektive Grundlage für die volle Möglichkeit eines Sieges der demokratischen Revolution in Russland. Dass in Westeuropa die objektiven Voraussetzungen für die sozialistische Revolution vollauf herangereift sind, das brauche ir hier nicht erst zu beweisen. Das haben vor dem Kriege alle maßgeblichen Sozialisten in allen fortgeschritteneren Ländern anerkannt.“ (Lenin, Über die zwei Linien der Revolution, November 1915, Lenin, Werke, Band 21, S.422-427, hier S.425. Hervorgehoben von L.T. Nach der volkstümlichen russischen Vorstellung, dass die Erde von drei Walen getragen wird, wurden die drei Parolen demokratische Republik – Achtstundentag – Enteignung der Großgrundbesitzer oft die „drei Walfische des Bolschewismus“ genannt)

Somit hatte Lenin bereits 1915 deutlich von einer demokratischen Revolution in Russland und von einer sozialistischen Revolution in Westeuropa gesprochen. Er erwähnte dabei, dass in Westeuropa – zum Unterschied und in Gegensatz zu Russland – die Vorbedingungen für eine sozialistische Revolution „völlig gereift“ sind. Doch die Verfasser der neuen Theorie, die zugleich auch die Verfasser des Programmentwurfs sind, umgehen ganz einfach dieses Zitat, das eins der wenigen ist, welches unmittelbar Russland betrifft, so wie sie Hunderte andere Zitate, wie sie die gesamte Ausgabe der Werke Lenins umgehen. Dafür nehmen sie, wie wir gesehen haben, ein anderes Zitat, das sich auf Westeuropa bezieht. Sie unterschieben diesem Zitat einen Sinn, den es nicht hat und nicht haben kann, beziehen es auf Russland, das es gar nicht betrifft. Und auf diesem „Fundament“ bauen sie ihre Theorie auf. Wie hatte sich dazu Lenin in der Periode unmittelbar vor dem Oktober gestellt? Als Lenin nach der Februarrevolution 1917 die Schweiz verließ, richtete er an die Schweizer Arbeiter einen Brief, in welchem er erklärte:

„Russland ist ein Bauernland, eines der rückständigsten europäischen Länder. Der Sozialismus kann in Russland nicht sofort und unmittelbar siegen. Aber der bäuerliche Charakter des Landes kann angesichts des unangetastet gebliebenen riesigen Grundbesitzes der adligen Grundherren -aufgrund der Erfahrungen von 1905 – der bürgerlich-demokratischen Revolution in Russland eine gewaltige Schwungkraft verleihen und aus unserer Revolution ein Vorspiel der sozialistischen Weltrevolution, eine Stufe zu dieser Revolution machen. [...] Das russische Proletariat kann die sozialistische Revolution nicht allein mit seinen eigenen Kräften siegreich vollenden.

Doch es kann der russischen Revolution einen solchen Anstoß geben, der die besten Bedingungen für sie schaffen wird, der sie in gewissem Sinne überhaupt erst einleiten wird. Es kann aber der russischen Revolution eine Schwungkraft verleihen, die die besten Voraussetzungen für die sozialistische Revolution schafft, sie gewissermaßen beginnt. Es kann seinem wichtigsten, seinem treuesten, seinem zuverlässigsten Bundesgenossen, dem europäischen und dem amerikanischen sozialistischen Proletariat die Bedingungen erleichtern, unter denen diese seine entscheidenden Kämpfe aufnimmt.“ (Lenin, Abschiedsbrief an die Schweizer Arbeiter, 8. April 1917, Lenin, Werke, Band 23, S.380-387, hier S.384, 385f.)

In diesen Zeilen sind sämtliche Elemente dieser Frage vorhanden. Wenn, wie man uns glauben machen will, Lenin bereits 1915, zur Zeit des Krieges und der Reaktion, es für möglich hielt, dass das russische Proletariat allein den Sozialismus aufbauen könne, um, sobald das geschehen ist, den Krieg gegen die bürgerliche Staaten zu führen, wie konnte er dann Anfang 1917 bereits nach der Februarrevolution so kategorisch davon sprechen, dass es für das rückständige, bäuerliche Russland unmöglich sei, den Sozialismus mit eigenen Kräften aufzubauen?

Die Sache müsste wenigstens einigermaßen Hand und Fuß haben. Und, sagen wir es offen, man sollte doch nicht so ganz die schuldige Achtung Lenin gegenüber beiseite lassen. Die Zitate noch weiter zu vermehren, wäre überflüssig. Eine bündige Darlegung der Anschauungen Lenins über den wirtschaftlich und politisch bedingten internationalen Charakter der sozialistischen Revolution würde eine ganz selbständige Untersuchung erfordern. Diese Untersuchung würde sehr viel Themen behandeln, außer dem Thema des Aufbaus einer abgeschlossenen sozialistischen Gesellschaft in einem einzelnen Lande, denn ein solches Thema kannte Lenin nicht.

Doch wir sind hier gezwungen, bei noch einem Aufsatz Lenins zu verweilen. Denn der Programmentwurf versucht, indem er scheinbar die nachgelassene Abhandlung Lenins Über das Genossenschaftswesen zitiert, einzelne Sätze daraus für Zwecke zu benutzen, die mit dieser Abhandlung gar nichts gemein haben. Wir meinen das 5. Kapitel des Programmentwurfs, in dem es heißt, dass die Arbeiter der Sowjetrepublik „die nötigen materiellen Vorbedingungen in genügendem Maße im Lande besitzen ... zum Aufbau des vollständigen Sozialismus“. (Von mir hervorgehoben.) Wenn in dem Artikel Lenins, den er während seiner Krankheit niederschreiben ließ, und der nach seinem Tode veröffentlicht wurde, wirklich davon die Rede wäre, dass der Sowjetstaat alle notwendigen materiellen, also in erster Linie produktionellen Voraussetzungen genügend besitzt, so müsste man voraussetzen, dass entweder Lenin sich beim Diktat versprochen hat, oder der Stenograph sich bei der Übertragung seines Stenogramms geirrt hat. Beides wäre jedenfalls wahrscheinlicher gewesen als die Annahme, dass Lenin in den zwei flüchtigen Zeilen, vom Marxismus und von der ganzen Lehre seines Lebens abrückte. Doch glücklicherweise ist eine solche Erklärung gar nicht notwendig. Das bedeutende, wenn auch nicht beendete Werk „Über das Genossenschaftswesen“, das durch die Einheit seiner Gedankengänge mit den anderen bedeutenden Abhandlungen der letzten Periode zusammen gleichsam wie ein Kapitel eines einzigen Buches erscheint, eines Buches über die Oktoberrevolution und die Kette der Revolutionen des Westens und des Ostens, das nicht zu Ende geschrieben ist, spricht überhaupt nichts davon, was ihm die Revisionisten so leichtsinnig andichten. Lenin erklärt in diesem Artikel, dass die „Handels“-Genossenschaft ihre gesellschaftliche Rolle in einem Arbeiterstaat ändern kann und muss. Bei einer richtigen Politik könnte man die Verbindung der privaten bäuerlichen Interessen mit den allgemeinstaatlichen auf eine sozialistische Bahn schieben. Diesen unbestreitbaren Gedanken begründete Lenin folgendermaßen:

„In der Tat, die Verfügungsgewalt des Staats über alle großen Produktionsmittel, die Staatsmacht in den Händen des Proletariats, das Bündnis dieses Proletariats mit den vielen Millionen Klein- und Zwergbauern, die Sicherung der Führungsstellung dieses Proletariats gegenüber der Bauernschaft usw., ist das nicht alles, was notwendig ist, um aus den Genossenschaften, die wir früher geringschätzig als krämerhaft behandelt haben und die wir in gewisser Hinsicht jetzt unter der NEP, ebenso zu behandeln berechtigt sind, ist das nicht alles, was notwendig ist, um die vollendete sozialistische Gesellschaft zu errichten? Das ist noch nicht die Errichtung der sozialistischen Gesellschaft, aber es ist alles, was zu dieser Errichtung notwendig und hinreichend ist.“ (Lenin, 4./6. Januar 1923, Lenin, Werke, Band 33, S.453-461, hier S.454)

Schon der Text der Zitate allein, der den unbeendeten Satz „um aus der Genossenschaft“ enthält, beweist, dass es sich hier um einen nicht verbesserten Entwurf handelt, der dazu noch diktiert und nicht eigenhändig niedergeschrieben wurde. Um so unverzeihlicher ist es, einzelne Worte des Textes herauszugreifen, anstatt sich in den Geist der Abhandlung hineinzudenken. Glücklicherweise gibt auch der Buchstabe des angeführten Zitats, nicht nur dessen Geist, gar keine Berechtigung zum Missbrauch, den die Verfasser des Programmentwurfs damit treiben. Lenin grenzt in diesem Artikel seine Thesen streng ab. Er untersucht dort nur die Frage, durch welche Methoden wir aus der Zersplitterung und Zerrissenheit der Bauernwirtschaften heraus, ohne neue Klassenerschütterungen, beim Vorhandensein des Sowjetregimes, zum Sozialismus gelangen könnten. Der Artikel ist vollkommen der gesellschaftlichen Organisationsform des Übergangs von dem privaten Kleinhandel zum kollektiven, nicht aber dessen materiellen Produktionsbedingungen gewidmet. Wenn heute z.B. das europäische Proletariat gesiegt haben würde und uns mit seiner Technik zu Hilfe kommen würde, so würde die von Lenin aufgeworfene Frage von der Genossenschaft als einer gesellschaftlichen Organisationsform der Vereinigung privater Interessen mit den allgemeinen ihre volle Bedeutung beibehalten. Die Genossenschaft zeigt den Weg, den man gehen müsse. Durch die Elektrifizierung könnte man beispielsweise unter dem Sowjetregime Millionen von Bauernwirtschaften vereinigen. Doch die Genossenschaft selbst ersetzt nicht diese neue Technik und erschafft diese auch nicht aus sich selbst heraus. Lenin spricht nicht nur allgemein von den „notwendigen und genügenden Voraussetzungen“, sondern zählt diese, wie wir es gesehen haben, genau auf. Da ist: 1. die Macht des Staates über alle wichtigsten Produktionsmittel (der Satz ist auch nicht korrigiert worden), 2. die Staatsmacht in den Händen des Proletariats, 3. Bündnis dieses Proletariats mit den vielen Millionen kleiner und kleinster Bauern, 4. Sicherstellung der Führung des Proletariats in bezug auf diese Bauern. Und nur nach der Aufzählung dieser rein politischen Vorbedingungen – von materiellen Vorbedingungen wird hierbei nicht gesprochen – zieht Lenin die Schlussfolgerung, dass das (das Aufgezählte nämlich) alles Notwendige und Genügende auf dem politischen Gebiet – nicht mehr – für den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft ist. Also, alles Notwendige und Genügende politisch genommen – nicht mehr –. „Doch“, fügt Lenin hinzu, „das ist noch nicht die Errichtung der sozialistischen Gesellschaft.“ (vgl. a.a.O., S.456) Warum denn nicht? Weil auch genügende politische Voraussetzungen die ganze Frage noch nicht lösen können. Es bleibt noch die Frage der Kultur. „Nur“, sagt Lenin, indem er das Wort Nur unterstreicht und in Anführungsstriche setzt, um die ungeheure Bedeutung dieser uns fehlenden Voraussetzung zu zeigen. Doch die Kultur hängt wieder ihrerseits mit der Technik zusammen; das wusste Lenin genau so gut wie wir. Und er zwingt die Revisionisten, wieder zur Erde zurückzukehren, indem er sagt:

„Denn um Kultur zu haben braucht man eine bestimmte materielle Basis.“ (a.a.O., S.461.) Es genügt, wenn wir dabei das Elektrifizierungsproblem erwähnen, das Lenin speziell mit der Frage der internationalen sozialistischen Revolution verbindet. Der Kampf um die Kultur würde beim Vorhandensein der politischen Voraussetzungen unsere fernere Arbeit bestimmen, wenn nicht die Frage des unnachsichtigen blutigen Kampfes zwischen der sich auf einem rückständigen Boden aufbauenden sozialistischen Gesellschaft und dem sich bereits dem Untergang zuneigenden, aber noch immer durch seine Technik mächtigen Weltkapitalismus vor uns stünde.

„Ich würde sagen,“ unterstreicht Lenin am Ende dieser Abhandlung, „dass sich das Schwergewicht für uns auf bloße Kulturarbeit verschiebt, gäbe es nicht die internationalen Beziehungen, hätten wir nicht die Pflicht, für unsere Positionen im internationalen Maßstabe zu kämpfen.“ (a.a.O., S.460.) Das waren die wirklichen Gedanken Lenins, wenn man nur seinen Aufsatz über die Genossenschaften betrachten und alle seine übrigen Werke außer Acht lassen wollte. Wie soll man nach diesem die Handlungsweise der Verfasser des Programmentwurfs bezeichnen, falls man es nicht eine Fälschung nennen soll, die in Lenins Worte über das Vorhandensein von genügenden, notwendigen Voraussetzungen von sich aus einfach die hauptsächlichste Voraussetzung, die materielle, einflechten. Obwohl Lenin gerade diese Voraussetzung hervorgehoben hatte als eine, die uns doch fehlt, und die wir uns erst erkämpfen müssen, in Verbindung mit dem Kampf für unsere Stellung im internationalen Maßstabe, d.h. also in Verbindung mit der internationalen proletarischen Revolution. So steht es also mit diesem zweiten und letzten Zauberkunststück dieser Theorie. Wir erwähnen hier ganz bewusst nicht die zahllosen Aufsätze und Reden Lenins, in welchen er mehrfach in ganz kategorischer Form wiederholt, dass ohne siegreiche Weltrevolution uns der Untergang droht, dass ... der Aufbau der sozialistischen Gesellschaft in einem rückständigen Lande seinem ganzen Wesen nach eine internationale Aufgabe ist. Daraus zieht Lenin Folgerungen, die vom Standpunkt der Schöpfer der national begrenzten Utopie vielleicht pessimistisch klingen, doch vom Standpunkt des revolutionären Internationalismus optimistisch genug sind. Wir werden uns hier nur auf jene Zitate beschränken, die die Verfasser des Programms selber anführen, um so genügende und notwendige Voraussetzungen für ihre Utopie zu schaffen, und wir werden sehen, dass ihr ganzer Bau bei einer bloßen Berührung in nichts zerfallen wird. Wir halten es aber immerhin für zweckmäßig, hier wenigstens ein direktes Zeugnis von Lenin über die strittige Frage anzuführen, welches keiner Erklärung bedarf und keine Auslegungen zulässt.

In einer ganzen Reihe von Schriften, in allen unseren Reden, in der ganzen Presse haben wir betont, dass in Russland die Dinge nicht so liegen, dass wir in Russland eine Minderheit von Industriearbeitern und eine ungeheure Mehrheit von kleinen Landwirten haben. Die sozialistische Revolution kann in einem solchen Lande nur unter zwei Bedingungen endgültigen Erfolg haben. Erstens unter der Bedingung, dass sie rechtzeitig durch die sozialistische Revolutionen in einem oder in einigen der fortgeschrittenen Länder unterstützt wird. Die andere Bedingung ist die Verständigung zwischen dem Proletariat, das die Diktatur ausübt oder die Staatsmacht in seinen Händen hält, und der Mehrheit der bäuerlichen Bevölkerung... Wir wissen, dass nur eine Verständigung mit der Bauernschaft die sozialistische Revolution in Russland retten kann, solange die Revolution in anderen Ländern nicht eingetreten ist.“ (Lenin, [Referat über die Ersetzung der Ablieferungspflicht durch die Naturalsteuer, 15. März 1921, Lenin, Werke, Band 32, S.216, 232, hier S.217, Hervorhebungen von mir – L.T.)

Dieses Zitat ist hoffentlich lehrreich genug, denn erstens unterstreicht Lenin selbst darin, dass die dort ausgesprochenen Gedanken „in einer ganzen Reihe unserer Werke, bei jedem unserem Auftreten, in der gesamten Presse“ entwickelt wurden, und zweitens ist diese Perspektive von Lenin nicht im Jahre 1915 vor dem Oktober, sondern im Jahre 1921, vier Jahre nach dem Oktober, aufgestellt worden. In bezug auf Lenin ist die Frage, wie wir glauben, nun klar genug. Es bleibt noch zu fragen: Wie haben die Verfasser des Programmentwurfs selber früher diese uns interessierende grundsätzliche Frage betrachtet? Stalin sprach darüber im November 1926:

„Die Partei ging immer davon aus, dass der Sieg des Sozialismus in einem Lande, die Möglichkeit des Aufbaues des Sozialismus in einem Lande bedeute, wobei diese Aufgabe durch die Kräfte eines Landes gelöst werden kann.“ (Prawda vom 12. November 1926.)

Wir wissen bereits, dass die Partei niemals davon ausgegangen ist, dass sie in Wirklichkeit „in einer ganzen Reihe von Werken, bei jedem ihrem Auftreten und in der gesamten Presse“, wie Lenin sagte, vom Gegenteil ausgegangen ist, wie das auch in dem Programm der WKP seinen Ausdruck gefunden hat. Doch man hätte hoffen können, dass wenigstens Stalin selber „immer“ von diesen falschen Gedanken über den Aufbau des Sozialismus in einem Lande ausgegangen ist! Lasst uns nachprüfen. Wie Stalin zu dieser Frage im Jahre 1915 gestanden hat, ist uns vollständig unbekannt, da gar keine Unterlagen darüber vorhanden sind. Doch im Jahre 1924 kommentierte Stalin folgendermaßen die Anschauungen Lenins über den Aufbau des Sozialismus:

„Die Hauptaufgabe des Sozialismus – die Organisierung der sozialistischen Produktion – bleibt noch ungelöst. Kann man diese Aufgabe lösen, den endgültigen Sieg des Sozialismus in einem Lande erkämpfen, ohne die gemeinsamen Anstrengungen einiger fortgeschrittenen Länder? Nein, das ist unmöglich. Zum Sturze der Bourgeoisie genügen die Anstrengungen eines Landes, das zeigt uns die Geschichte unserer Revolution. Für den endgültigen Sieg des Sozialismus, für die Organisierung der sozialistischen Produktion sind aber die Kräfte eines Landes, besonders eines bäuerlichen Landes wie Russland, ungenügend, das erfordert die Kräfte der Proletarier einiger fortgeschrittener Länder ... Das sind im allgemeinen die charakteristischen Züge der Leninschen Theorie über die proletarische Revolution.“ (Stalin: Lenin und der Leninismus, Moskauer Staatsverlag 1924, S.40 bis 41.)

Man muss zugeben, dass hier die „charakteristischen Züge der Leninschen Theorie“ ziemlich richtig wiedergegeben worden sind. In den späteren Auflagen dieses Buches hat Stalin aber diese Stelle in das Gegensätzliche verwandelt. Und übers Jahr wurden die „charakteristischen Züge der Leninschen Theorie ...“ zum „Trotzkismus“. Das 7. EKKI-Plenum hat seinen Beschluss nicht nach der Ausgabe von 1924, sondern von 1925 gefasst.

So steht es also mit Stalin. Es könnte nicht trauriger um ihn bestellt sein. Doch das würde man noch in Kauf nehmen, falls es um das 7. EKKI-Plenum nicht ebenso traurig bestellt wäre.

Es bleibt noch die letzte Hoffnung, dass Bucharin, der eigentliche Verfasser des Programmentwurfs, immer von der Möglichkeit der Verwirklichung des Sozialismus in einem Lande ausgegangen ist. Darüber hat Bucharin folgendes im Jahre 1917 geschrieben:

„Revolution, das ist die Lokomotive der Geschichte. Der ständige Führer dieser Lokomotive kann selbst in dem rückständigen Russland nur das Proletariat sein. Das Proletariat kann aber nicht bei den Besitzverhältnissen der bürgerlichen Gesellschaft verbleiben. Es schreitet zur Macht und zum Sozialismus. Allein, diese Aufgabe, die jetzt in Russland auf die Tagesordnung gestellt wird, kann nicht innerhalb der nationalen Grenzen gelöst werden. Hier wird die Arbeiterklasse auf eine unüberwindbare Mauer stoßen (man merke sich „unüberwindbare Mauer“ – L.T.), die nur durch den Stoß der internationalen Arbeiterrevolution gerammt werden kann.“ (N. Bucharin: Klassenkampf und Revolution in Russland 1917, S.3f.)

Man könnte gar nicht deutlicher sein. Das waren also die Anschauungen Bucharins im Jahre 1917? Zwei Jahre nach der angeblichen Wendung Lenins im Jahre 1915. Aber vielleicht hat die Oktoberrevolution die Ansichten Bucharins geändert? Lasst uns nachprüfen. Folgendes schrieb Bucharin in dem theoretischen Organ der Komintern über das Thema: Die Diktatur des Proletariats und die Weltrevolution:

„Bei dem Vorhandensein einer internationalen Wirtschaft, deren Teile miteinander verbunden sind, bei der gegenseitigen Abhängigkeit der einzelnen zu Staaten zusammengefassten Bourgeoisgruppen voneinander ist es selbstverständlich (von mir gesperrt – L.T.), dass der Kampf in einem Lande nicht ohne einen entscheidenden Sieg einer der beiden Parteien in mehreren Kulturländern beendet werden kann.“ Also sogar „selbstverständlich“ hat Bucharin damals gesagt! Doch weiter:

„In der marxistischen und quasi-marxistischen Literatur der Vorkriegszeit ist mehrfach die Frage aufgeworfen worden, ob der Sieg des Sozialismus in einem Lande möglich wäre. Die meisten Schriftsteller beantworten diese Frage verneinend (und wie ist es mit Lenin im Jahre 1915? – L.T.), woraus aber keineswegs die Unmöglichkeit oder die Unzulässigkeit, in einem Lande die Revolution zu beginnen und die Macht zu ergreifen, folgt.“ (Sehr richtig.)

In demselben Artikel:

„Die Periode des Steigerns der Produktivkräfte kann erst nach dem Siege des Proletariats in mehreren größeren Ländern beginnen ... Daraus folgt, dass die Weiterentwicklung der Weltrevolution mit allen Kräften und die Bildung eines Wirtschaftsblocks zwischen den Industrieländern und Sowjetrussland notwendig ist.“ (Die Kommunistische Internationale Nr.5, September 1919, S.614., [deutsch vgl. Die Kommunistische Internationale, Nr.4/5 1920, S.79])

Die Behauptung Bucharins, dass die Hebung der Produktivkräfte erst nach dem Siege des Proletariats in den fortgeschrittenen Ländern Europas möglich ist, das ist ja gerade jener Satz, der allen gegen den „Trotzkismus“ erhobenen Beschuldigungen zugrunde gelegt wurde, darunter auch durch das 7. EKKI-Plenum. Das Eigentümliche dabei ist nur, dass als Ankläger dort Bucharin aufgetreten ist, dessen kurzes Gedächtnis dabei seine Rettung war. Neben diesem komischen Umstand war das Tragische, dass Lenin, der denselben Grundgedanken Dutzende Male ausgesprochen hatte, dort also auch auf der Anklagebank saß. Im Jahre 1921 endlich, 6 Jahre nach dem angeblichen Umfall Lenins im Jahre 1915 und 4 Jahre nach der Oktoberrevolution, wurde von dem Z.K., mit Lenin an der Spitze, das Programm der Kommunistischen Jugendorganisation, das durch eine Kommission unter der Leitung Bucharins ausgearbeitet worden war, bestätigt. Der § 4 dieses Programms lautet folgendermaßen:

„Die Macht in der UdSSR befindet sich bereits in den Händen der Arbeiterklasse. Im Verlaufe eines dreijährigen heroischen Kampfes gegen das internationale Kapital hat sie die Angriffe abgewehrt und die Sowjetmacht befestigt. Obwohl Russland über ungeheure natürliche Reichtümer verfügt, bleibt es trotzdem, in bezug auf Industrie, ein rückständiges Land, in welchem die kleinbürgerliche Bevölkerung überwiegt. Es kann nur mit Hilfe einer internationalen proletarischen Revolution, in deren Entwicklungsperiode wir jetzt eingetreten sind, zum Sozialismus gelangen.“

Schon dieser Paragraph des Programms der Kommunistischen Jugendorganisation allein – also kein zufälliger Artikel, sondern ein Programm – macht den Versuch der Verfasser des Entwurfs, zu beweisen, als ob die Partei „immer den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft in einem Lande für möglich gehalten hat“, lächerlich und direkt unwürdig. Wenn „immer“, warum dann die Formulierung eines solchen Paragraphen in dem Programm des Komsomols durch Bucharin? Wo war denn da Stalin geblieben? Wie konnte Lenin und das ganze ZK so etwas bestätigen? Wie kommt es, dass niemand in der ganzen Partei diese Kleinigkeit bemerkt und zur Sprache gebracht hat? Klingt das nicht alles wie ein böser Witz, der zu einer direkten Verhöhnung der Partei, deren Geschichte und der Komintern wird? Wäre es nicht an der Zeit, den Revisionisten zuzurufen: „Wagt es nicht, euch hinter Lenin und hinter die theoretischen Parteitraditionen zu verstecken.“

Bucharin, dessen Rettung – wie gesagt – sein kurzes Gedächtnis ist, erklärte auf dem 7. EKKI-Plenum zur Erläuterung der Resolution „gegen den Trotzkismus“: „in der Theorie des Genossen Trotzki über die permanente Revolution – und Trotzki predigt auch heute noch diese Theorie – heißt es auch, dass wir wegen unserer wirtschaftlichen Rückständigkeit unfehlbar untergehen werden, falls nicht die Weltrevolution kommt.“ (Stenogr. Bericht, S.1137.)

Ich habe auf dem 7. EKKI-Plenum über die Unvollständigkeiten, die in meiner Theorie der permanenten Revolution enthalten sind, so wie ich sie in den Jahren 1903/06 formuliert hatte, gesprochen. Doch ist mir natürlich nicht eingefallen, das aufzugeben, was in dieser Theorie grundsätzlich war, was mich Lenin nähergebracht hatte und was für mich die gegenwärtige Revision des Leninismus unannehmbar macht.

Die Theorie der permanenten Revolution enthält zwei grundsätzliche Gedanken. Erstens: Trotz der historischen Rückständigkeit Russlands kann die Revolution dort die Macht früher in die Hand des Proletariats geben, als in den anderen Ländern. Zweitens: Der Ausweg für jene Schwierigkeiten, in welche die Diktatur des Proletariats in einem rückständigen Lande, das ringsherum von einer Welt von kapitalistischen Feinden umgeben ist, kann nur in der internationalen Revolution liegen. Die erste Feststellung ist auf der Notwendigkeit der wirtschaftlichen und politischen Verbindung des Gesetzes der ungleichmäßigen Entwicklung begründet. Die zweite beruht auf dem Verstehen der Unzertrennlichkeit der wirtschaftlichen und politischen Verbindungen der kapitalistischen Länder. Bucharin hat recht, wenn er sagt, dass ich auch jetzt diese beiden grundsätzlichen Fragen der permanenten Revolution vertrete. Jetzt mehr noch denn je. Denn ich halte sie für voll und ganz bestätigt, und zwar theoretisch durch die gesamten Werke von Marx und Lenin und praktisch durch die Erfahrungen der Oktoberrevolution.

 

 

6. Wo ist nun die sozialdemokratische Abweichung?

Die angeführten Auszüge kennzeichnen mehr als genügend die theoretische Stellungnahme Stalins und Bucharins, die von gestern wie auch die von heute. Charakteristisch für ihre politischen Kunstgriffe ist, dass sie den Werken der Opposition Feststellungen entnommen haben, die mit denjenigen, die sie selber bis 1925 gemacht hatten (damals in Übereinstimmung mit Lenin), gleichlautend sind, und nun auf Grund dieser Feststellungen ihre „Theorie“ der sozialdemokratischen Abweichung der Opposition aufgebaut haben. Es hat sich auf einmal herausgestellt, dass in der Hauptfrage, in der Frage der Verbindung zwischen der Oktoberrevolution und der internationalen Revolution, die Opposition genau so denkt, wie ... Otto Bauer, der nicht an die Möglichkeit des sozialistischen Aufbaus in Russland glaubt. Man muss bald wirklich glauben, dass die Buchdruckerkunst erst 1924 erfunden worden ist, und dass alles, was früher gewesen ist, vergessen sei. Sie rechnen eben auf ein kurzes Gedächtnis.

Und doch hatte bereits der 4. Weltkongress der Komintern mit Otto Bauer und den anderen Philistern der 2. Internationale in der Frage des Charakters der Oktoberrevolution seine Abrechnung gehalten. In meinem Referat, das ich dort im Auftrage des ZK über die neue Wirtschaftspolitik und die Perspektiven der Weltrevolution gehalten habe, gab ich jene Bewertung der Stellungnahme Otto Bauers, die zugleich den Meinungsausdruck des damaligen ZK bildete und die auf dem Kongress keinen Widerspruch gefunden hatte. Ich halte sie auch heute noch für richtig. Was Bucharin anbetrifft, so verzichtete er, zu dieser Frage zu sprechen, „nachdem so viele Genossen, darunter auch Lenin und Trotzki, gesprochen hatten“. Mit anderen Worten, Bucharin erklärte sich damals mit meinem Referat solidarisch. Folgendes sagte ich auf dem 4. Kongress über Otto Bauer:

„Die sozialdemokratischen Theoretiker behaupten einerseits in ihren Sonntagsartikeln, dass der Kapitalismus, besonders in Europa, sich überlebt habe und nur noch die historische Entwicklung bremse, andererseits erklären sie aber, dass die Entwicklung in Sowjetrussland unfehlbar zu einem Siege der bürgerlichen Demokratie führen müsse. Sie geraten dabei in einen ganz armseligen Widerspruch, der für diese starr eingestellten Konfessionisten bezeichnend ist. Die neue Wirtschaftspolitik ist für bestimmte Bedingungen der Zeit und des Ortes berechnet; sie ist ein Manöver eines Arbeiterstaates, der sich noch in kapitalistischer Umgebung befindet, aber fest mit einer revolutionären Entwicklung in Europa rechnet ... Man darf bei den politischen Berechnungen einen solchen Faktor, wie die Zeit, nicht außer acht lassen. In der Tat, wenn man annehmen würde, dass der Kapitalismus in Europa noch ein Jahrhundert oder ein halbes Jahrhundert existieren würde, und dass Sowjetrussland sich in seiner Wirtschaftspolitik dem anpassen müsste, dann wäre ja die Frage ganz von selbst gelöst, denn mit dieser Annahme würden wir gleichzeitig den Zusammenbruch der proletarischen Revolution und eine neue Epoche der Wiedergeburt des Kapitalismus prophezeien. Aus welchen Gründen? Wenn Otto Bauer in dem gegenwärtigen Österreich irgendein wunderbares Anzeichen der kapitalistischen Auferstehung entdeckt hätte, dann wäre ohne Rede das Geschick Sowjetrusslands bereits vorausbestimmt. Doch an Wunder glauben wir nicht mehr und sehen vorläufig auch noch keine. Nach unserem Standpunkt würde eine Sicherung der Macht der Bourgeoisie in Europa für eine Reihe von Jahrzehnten unter den gegenwärtigen internationalen Bedingungen nicht eine neue Blütezeit des Kapitalismus, sondern die wirtschaftliche Fäulnis und den kulturellen Zerfall Europas bedeuten. Dass ein solcher Prozess vielleicht auch Sowjetrussland mit sich in den Abgrund würde reißen können, das kann man nicht abstreiten. Ob es dabei erst durch das Stadium der „Demokratie“ hindurchgehen müsste, oder in einer anderen Form zugrunde gehen würde, das wäre dabei eine nebensächliche Frage. Doch wir haben gar keine Veranlassung, uns um die Fahne des Philosophen Spengler zu scharen. Wir bauen fest auf die revolutionäre Entwicklung in Europa. Die neue Wirtschaftspolitik bedeutet nur ein Sich-Anpassen an das Tempo dieser Entwicklung.“ (L. Trotzki: 5 Jahre Komintern, Über die sozialdemokratische Kritik, S.491/92.)

Diese Frage bringt uns wieder zu unserem Ausgangspunkt zurück, zu der Bewertung des Programmentwurfs. In der Epoche des Imperialismus darf man das Schicksal der einzelnen Länder nur so betrachten, indem man dabei stets von der Tendenz der internationalen Entwicklung als eines Ganzen ausgeht. Denn jedes einzelne Land ist mit seinen sämtlichen nationalen Eigentümlichkeiten in dieser Entwicklung mit eingeschlossen und ihr unterstellt. Die Theoretiker der 2. Internationale schließen die UdSSR aus dem Weltganzen und aus der imperialistischen Epoche aus. Sie betrachten die UdSSR als ein isoliertes Land lediglich unter dem bloßen Kriterium der wirtschaftlichen „Reife“. Sie stellen dabei fest, dass die UdSSR für einen selbständigen sozialistischen Aufbau nicht vorbereitet ist und folgern daraus eine unfehlbare Wandlung dieses Arbeiterstaates zum Kapitalismus. Die Verfasser des Programmentwurfs betreten ihrerseits denselben theoretischen Boden und übernehmen voll und ganz die metaphysische Methodologie der sozialdemokratischen Theoretiker. Sie „abstrahieren“ sich von dem Weltganzen und der imperialistischen Epoche. Sie gehen ebenfalls von der Fiktion der isolierten Entwicklung aus und setzen bei der nationalen Etappe der Weltrevolution lediglich das bloße Wirtschaftskriterium an. Doch dafür kommen sie zu dem entgegengesetzten „Urteil“. Die „Linksheit“ der Verfasser des Programmentwurfs besteht darin, dass sie die sozialdemokratische Bewertung einfach umdrehen. Doch die Stellungnahme der Theoretiker der 2. Internationale ist derart, dass sie, ganz gleich wie man sie dreht, untauglich bleibt. Hier muss man die Stellungnahme Lenins heranziehen, die diese Bewertung und Prognose Bauers einfach wie die Übung eines Abc-Schützen beiseite schiebt. So ist es also mit der „sozialdemokratischen Abweichung“ bestellt. Nicht ich, sondern die Verfasser des Programms müssen sich also als mit Bauer verwandt betrachten.

 

 

7. Die Abhängigkeit der UdSSR von der Weltwirtschaft

Der Vorläufer unserer Verkünder der nationalen sozialistischen Gesellschaft ist niemand anders als S.Vollmar gewesen. Vollmar zeichnet im Jahre 1878 in seinem Artikel „Der isolierte sozialistische Staat“ die Perspektive eines selbständigen sozialistischen Aufbaus in Deutschland auf, dessen Proletariat das fortschrittliche England bei weitem überflügelt hat ... Er beruft sich dabei mehrere Male auf das Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung, das, wie Stalin glaubt, Marx und Engels unbekannt gewesen sei. Aus diesem Gesetz zieht Vollmar im Jahre 1878 die unbestrittene Folgerung:

„Unter den herrschenden Bedingungen, die auch für die Zukunft, soweit man diese übersehen kann, ihre Wirkung beibehalten werden, ist die Annahme eines gleichzeitigen Sieges des Sozialismus in allen Kulturländern völlig ausgeschlossen ...“

Vollmar entwickelt seine Gedanken weiter:

„Somit kommen wir zu dem isolierten sozialistischen Staat. Ich hoffe, dass ich es bewiesen habe, dass dieser Staat nicht das einzig Mögliche, aber das am meisten Wahrscheinliche ist.“

Soweit es sich hier bei dem isolierten Staat um die Diktatur des Proletariats handelt, ist der Gedanke Vollmars unbestreitbar. Schon Marx und Engels war das bekannt. Und Lenin sprach diesen Gedanken in seinem oben zitierten Artikel bereits 1915 aus. Was aber weiter folgt, ist schon geistiges Eigentum von Vollmar selbst, obgleich auch das bei weitem nicht so einseitig und falsch formuliert ist, wie es bei unseren Theoretikern des Sozialismus in einem Lande der Fall ist. Vollmar geht in seinen Ausführungen davon aus, dass das sozialistische Deutschland in lebhaften wirtschaftlichen Beziehungen zu der kapitalistischen Welt stehen werde, wobei es aber den Vorzug einer hochentwickelten Technik und niedriger Produktionsunkosten besitze. Das bringt die Perspektive einer friedlichen Existenz des sozialistischen und kapitalistischen Systems nebeneinander mit sich. Und weil der Sozialismus immer mehr und mehr seinen kolossalen Produktionsvorzug zeigen wird, falle die Notwendigkeit der Weltrevolution von selbst weg. Der Sozialismus wird den Kapitalismus durch den Handelsmarkt besiegen, durch eine Intervention der billigen Preise. Der Verfasser des ersten Programmentwurfs und einer der beiden Verfasser des zweiten – Bucharin – gehen alle beide in ihrem Aufbau des Sozialismus in einem Lande von der Voraussetzung einer selbsttätigen isolierten Wirtschaft aus. In dem Artikel Bucharins, Über den Charakter unserer Revolution und über die Möglichkeit eines siegreichen sozialistischen Aufbaus in der UdSSR (Bolschewik 19/20 von 1926), welcher den Gipfel der Scholastik und Sophistik, der überhaupt erreicht werden könnte, darstellt, wird die ganze Darlegung in dem Rahmen einer isolierten Wirtschaft geführt.

Die hauptsächlichste und zugleich die einzigste Begründung in diesem Artikel lautet folgendermaßen:

„Wenn wir ‘alles Notwendige und Genügende’ für den sozialistischen Aufbau besitzen, so gibt es also in dem Prozess des sozialistischen Aufbaus selbst kein Moment mehr, das diesen Aufbau hindern würde. Wenn wir innerhalb unseres Landes ein solches Verhältnis besitzen, dass der sozialistische Sektor unserer Wirtschaft gegenüber dem vom Vorjahre ständig steigt, und wenn die gesellschaftlichen Sektoren unserer Wirtschaft schneller wachsen als die privatkapitalistischen, so werden wir in jedes folgende Jahr mit einem Übergewicht an Kräften eintreten.“

Diese Beweisführung ist glänzend: „Wenn wir alles Notwendige und Genügende besitzen, so – haben wir eben das.“

Indem Bucharin davon ausgeht, was er erst beweisen sollte, versucht er das fertige System einer selbsttätigen sozialistischen Wirtschaft aufzubauen, ohne jede Eingangs- oder Ausgangsverbindung nach außen hin. An die äußere Umgebung, d.h. also an die gesamte Welt, erinnert sich Bucharin wie auch Stalin nur unter dem Gesichtspunkt einer Intervention. Wenn Bucharin in diesem Artikel von der Notwendigkeit, sich von dem internationalen Faktor „loszulösen“, spricht, so meint er damit nicht den Weltmarkt, sondern die militärische Intervention. Vom Weltmarkt braucht Bucharin sich nicht erst abzulösen, denn er vergisst ganz einfach dessen Existenz überhaupt. Entsprechend diesem Schema führte Bucharin auf dem 15. Parteitag den Gedanken aus, dass, wenn uns keine Intervention stören wird, wir den Sozialismus, wenn auch im Schildkrötentempo, aufbauen werden.

Die Frage des ununterbrochenen Kampfes zwischen zwei Systemen, der Umstand, dass der Sozialismus sich nur auf hochentwickelte Produktivkräfte stützen kann, mit einem Wort, die gesamte Dynamik von Marx mit ihrer Ersetzung des einen durch das andere System infolge des Wachstums der Produktivkräfte, das alles ist gar nicht erwähnt. Die revolutionäre kommunistische Dialektik ist durch eine reaktionäre Utopie ersetzt worden, nach welcher der Sozialismus bei tiefentwickelter Technik im „Schildkrötentempo“ innerhalb der nationalen Grenzen aufgebaut wird und mit der Außenwelt nur durch die Angst vor einer Intervention verbunden ist. Die Nichtanerkennung dieser armseligen Karikatur der Lehren von Marx und Lenin wird als eine sozialdemokratische Abweichung erklärt. In dem erwähnten Artikel Bucharins wird eine solche Charakteristik unserer Anschauungen zum ersten Male vorgebracht und „begründet“. Die Geschichte wird es also notieren, dass wir in eine „sozialdemokratische Abweichung“ gerieten, da wir die verschlechterte Ausgabe der Theorie über den Aufbau des Sozialismus in einem Lande nicht anerkennen wollten. Das Proletariat des zaristischen Russland hat im Oktober die Macht nur deshalb erobern können, weil Russland ein Glied – wenn auch das schwächste – in der Weltwirtschaft war. Die Machtergreifung durch das Proletariat schließt absolut nicht die Sowjetrepublik von dem durch den Kapitalismus geschaffenen System der internationalen Arbeitsteilung aus.

Wie eine weise Eule nur in der Dämmerung ausfliegt, so ist auch die Theorie des Sozialismus in einem Lande in dem Augenblick aufgetaucht, in dem wirtschaftliche Schwierigkeiten entstanden sind. Unsere Industrie hat ihr Grundkapital, in dem zu zwei Dritteln ihre Abhängigkeit von der ausländischen Industrie kristallisiert ist, immer mehr und mehr erschöpft. Sie stellt nun jetzt scharf die Forderung der Wiederherstellung und Erweiterung ihrer Verbindung mit dem Weltmarkt. Mit einem Wort, die Frage unseres Außenhandels ist in ihrer ganzen Schwere vor unserer Wirtschaftsführung aufgetaucht.

Auf dem 11. Parteitage, d.h. auf dem letzten Parteitage, auf dem Lenin noch zur Partei sprechen konnte, hatte er diese auf die neue Prüfung, die ihr bevorstand, vorbereitet.

„Ein Examen,“ sprach er, „das der russische und internationale Markt veranstalten wird, dem wir unterworfen sind, von dem wir uns nicht losreißen können“. (Lenin, Werke, Band 33, S.263)

Es gibt keine andere Tatsache, die gegen die Theorie des „isolierten“ vollständigen Sozialismus einen so tödlichen Schlag führen würde, als der Umstand, dass die einfachen Zahlen unseres Außenhandels in den letzten Jahren zu Eckpfeilern unserer gesamten Wirtschaftspläne geworden sind. Die „schmälste“ Stelle unserer Wirtschaft, darunter auch unserer Industrie, ist der Import, der vollständig von dem Export abhängig ist. Und da die Stärke einer Kette an deren schwächstem Glied gemessen wird, so richten sich auch die Ausmaße unserer Wirtschaftspläne nach der Größe des Imports.

In der Zeitschrift Die Planwirtschaft (ein theoretisches Organ der Zentralen Plankommission) können wir in einem Artikel über das System der Planentwerfung nachlesen:

„Bei der Aufstellung der Kontrollziffern für das laufende Jahr musste man methodologisch unseren Export- und Importplan zum Ausgangspunkt des Gesamtplanes machen. Auch bei der Aufstellung der Pläne für die verschiedenen Industriezweige und also auch des allgemeinen Industrieplanes musste man sich danach richten, insbesondere auch den Bau neuer Industrieunternehmungen damit in Einklang bringen usw.“ (Januar 1927, S.27.)

Diese Methodologie des Gosplanes sagt allen denen, die da Ohren haben um zu hören, mit der größten Deutlichkeit, dass die Kontrollziffern die Richtung und das Tempo unserer Wirtschaftsentwicklung bestimmen. Doch die Kontrolle über die Kontrollziffern ist jetzt bereits auf die Seite der Weltwirtschaft gerückt. Nicht etwa weil wir schwächer geworden sind, sondern weil wir stärker geworden sind und uns darum aus dem Teufelskreis der Abgeschlossenheit befreiten.

Die kapitalistische Welt hat uns durch die Export- und Importzahlen bewiesen, dass es auch noch andere Mittel der Einwirkung gibt, als eine militärische Intervention. Soweit die Arbeitsproduktivität und die Produktivität der bestimmten Gesellschaftsform überhaupt durch die Preisverhältnisse des Marktes gemessen werden können, bildet die nächstliegende Bedrohung der Sowjetwirtschaft nicht so sehr eine militärische Intervention als eine Intervention der billigeren kapitalistischen Ware. Also schon deshalb allein handelt es sich hier auf keinen Fall um den isolierten Wirtschaftssieg über die „eigene“ Bourgeoisie.

„Es wird immer klarer, dass die über der ganzen Welt heraufziehende sozialistische Revolution keinesfalls nur in dem Siege des Proletariats eines jeden Lands über die eigene Bourgeoisie bestehen wird.“ (Lenin, Rede auf dem II. Gesamtrussischen Kongress der kommunistischen Organisationen der Völker des Ostens, 22. November 1919, Lenin, Werke, Band 30, S.136-147, hier S.144)

Es handelt sich hier um einen Weltkampf, um einen Kampf um Tod und Leben zweier Gesellschaftsformen, von welchen die eine sich gerade mit den rückständigen Produktivkräften aufzubauen beginnt, während die andere sich heute noch immer auf viel mächtigere Produktionsquellen stützt. Wer in der Anerkennung unserer Abhängigkeit von dem Weltmarkt (Lenin sprach direkt von unserer Unterordnung dem Weltmarkt gegenüber) „Pessimismus“ sieht, der verrät dadurch nur seine provinzielle, kleinbürgerliche Feigheit vor dem Weltmarkt und den wehleidigen Charakter seines hausbackenen Optimismus, der da hofft, sich vor dem Weltmarkt hinter einem Strauch verkriechen zu können und irgendwie mit den eigenen Mitteln auszukommen.

Für die neue Theorie ist die merkwürdige Behauptung, dass die UdSSR wohl durch eine militärische Intervention, niemals aber durch die eigene wirtschaftliche Rückständigkeit untergehen könne, zu einer Ehrenfrage geworden. Doch da in einer sozialistischen Gesellschaft die Bereitwilligkeit der Arbeitermassen, ihr Land zu verteidigen, viel größer sein muss als die Bereitschaft der Knechte des Kapitalismus, dieses Land anzugreifen, so fragen wir, warum uns der Untergang durch eine militärische Intervention drohen kann? Weil der Feind technisch weit stärker ist. Bucharin anerkennt das Übergewicht der Produktivkräfte nur auf dem militärischen Gebiet. Er will nicht verstehen, dass ein Traktor von Ford genau so gefährlich ist wie eine Kanone von Creusot, nur mit dem Unterschied, dass die Kanone nur von Zeit zu Zeit in Tätigkeit tritt, während der Traktor auf uns dauernd einen Druck ausübt. Dabei steht stets hinter dem Traktor als letzte Reserve – die Kanone.

Wir sind der erste Arbeiterstaat, ein Teil des Weltproletariats, und hängen zu gleicher Zeit doch von dem internationalen Kapital ab. Das farblose, neutrale, von der Bürokratie hochgepäppelte Wörtchen „Verbindungen“ ist nur deshalb in Gebrauch, um den drückenden, gefährlichen Charakter dieser „Verbindungen“ vor uns zu verbergen. Wenn wir nach den Preisen des Weltmarktes produzieren könnten, so würde unsere Abhängigkeit von demselben einen weit weniger drückenden Charakter haben als jetzt. Doch leider ist dem nicht so. Das Außenhandelsmonopol selbst ist das beste Zeugnis für die Schwere und Gefährlichkeit dieser unserer Abhängigkeit.

Die große Bedeutung des Monopols für den sozialistischen Aufbau entspringt gerade diesem für uns ungünstigen Kräfteverhältnis. Doch man darf nie vergessen, dass das Außenhandelsmonopol unsere Abhängigkeit von dem Weltmarkt nur regeln, nicht etwa abschaffen kann.

„Solange unsere Sowjetrepublik“, schreibt Lenin, „ein isoliertes Gebiet am Rande der kapitalistischen Welt bleibt, wäre es eine absolut lächerliche Phantasterei und Utopie, zu glauben, wir seien wirtschaftlich völlig unabhängig und diese oder jene Gefahren seien verschwunden.“ (Lenin, 8. Gesamtrussischer Sowjetkongress, Bericht über die Tätigkeit des Rats der Volkskommissare, 22. 12. 1920, Lenin, Werke, Band 31, S.483-515, hier S.489, hervorgehoben von mir – L.T.)

Folglich entspringen die Hauptgefahren aus der objektiven Lage der UdSSR, als einer „einsamen Insel“ inmitten der ihr feindlichen kapitalistischen Wirtschaft. Diese Gefahren aber können kleiner werden oder wachsen. Das hängt von folgenden zwei Faktoren ab: Von unserem sozialistischen Aufbau einerseits und von der Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft andererseits. Die entscheidende Bedeutung hat letzten Endes natürlich der zweite Faktor, d.h. das Schicksal der Weltwirtschaft überhaupt. Kann nun der Fall eintreten, dass die Produktivität unseres Gesellschaftssystems gegenüber der kapitalistischen immer weiter und weiter zurückbleiben wird, was natürlich unfehlbar zum Zusammenbruch der sozialistischen Republik führen musste? Und unter welchen Umständen könnte dieser Fall eintreten? Wenn wir unsere Wirtschaft in ihrem neuen Stadium, in dem wir eine selbständige Industriebasis schaffen müssen, was natürlich viel mehr von der Leitung erfordert, verständig leiten werden, wird unsere Arbeitsproduktivität steigen. Könnte man nun annehmen, dass die Produktionsfähigkeit in den kapitalistischen Ländern, richtiger zu sagen in den herrschenden kapitalistischen Ländern rascher wachsen wird als bei uns? Ohne Untersuchung der Perspektive ist eine aus der Luft gegriffene Beantwortung dieser Frage, wie, dass unser Tempo „an und für sich“ genügend sei, vollkommen unzulänglich; gar nicht zu reden schon von der lächerlichen Philosophie von dem „Schildkrötentempo“. Doch schon der Versuch, selbst diese Frage über den Wettstreit zweier Systeme zu beantworten, bringt uns in die Arena der Weltwirtschaft und der Weltpolitik, d.h. also in jene Arena, in der die revolutionäre Internationale, zu deren Bestand auch Sowjetrussland gehört, tätig ist, und entscheidet, keineswegs aber ein selbsttätiges Sowjetrussland, das nur von Zeit zu Zeit die Hilfe der Internationale in Anspruch nimmt.

Über die Staatswirtschaft der UdSSR heißt es in dem Programmentwurf, dass diese „die Schwerindustrie in einem Tempo entwickelt, das das Entwicklungstempo der kapitalistischen Länder überholt.“

In diesem Versuche einer Gegenüberstellung muss man einen prinzipiellen Schritt vorwärts gegen früher erblicken, als die Verfasser kategorisch jeden Vergleichskoeffizient zwischen unserer und der internationalen Entwicklung verneinten. „Es ist nicht nötig, noch den internationalen Faktor hereinzumischen“, sprach Stalin. „Wir werden den Sozialismus aufbauen, sei es auch nur im „Schildkrötentempo“, sagte Bucharin. Gerade um diese Linie ist mehrere Jahre prinzipiell diskutiert worden. Formell hat jetzt diese Linie gesiegt. Doch wenn man den Vergleich der Entwicklungstempos nicht nur einfach in den Text hineinmischen würde, sondern von dem Wesen der Sache durchdrungen wäre, so könnte nicht in einem anderen Teil des Entwurfes ohne jeden Bezug auf die kapitalistische Welt „von genügendem Minimum in der Industrie“ gesprochen werden, indem man nur von den inneren Verhältnissen ausgeht. Man darf auch nicht allein die Frage, ob es „möglich“ oder „unmöglich“ ist, in dem betreffenden Lande selbständig den Sozialismus aufzubauen, im voraus lösen oder überhaupt stellen. Diese Frage wird nur durch die Dynamik des Kampfes zweier Systeme, zweier Klassen gelöst werden. Wobei trotz des hohen Koeffizienten des Wachsens unserer Aufbauarbeit die Tatsache fest und unbestritten bleibt:

„Das Kapital ist im internationalen Maßstab auch heute noch nicht nur militärisch, sondern auch ökonomisch stärker als die Sowjetmacht und Sowjetordnung. Von dieser grundsätzlichen Feststellung muss man ausgehen und darf das nie vergessen.“ (Lenin, Rede auf dem 3. Gesamtrussischen Gewerkschaftskongress, 7. April 1920, Lenin, Werke, Band 30, 495-508, hier S.498, Hervorhebungen von L.T.)

Die Frage des gegenseitigen Tempoverhältnisses in der Zukunft bleibt offen. Das hängt nicht allein von unserer Fähigkeit, den „Zusammenschluss“ richtig anzufassen, die Getreideaufbringung zu sichern und den Export und Import zu steigern, also nicht nur von unseren Erfolgen im Innern ab, obwohl diese natürlich ein wichtiger Faktor in diesem Kampfe bleiben werden, sondern auch von dem Schicksal des internationalen Kapitalismus, von dessen Stillstand, Aufstieg oder Zusammenbruch, d.h. also von dem Gang der Weltwirtschaft und der Weltrevolution. Die Frage wird also nicht im nationalen Rahmen, sondern in der Arena des internationalen Kampfes, wirtschaftlich und politisch, gelöst.

So sehen wir beinahe in jedem Programmpunkt eine direkte oder verkappte Konzession an die oppositionelle Kritik. Diese „Konzessionen“ bilden theoretische Annäherungen an Marx und Lenin. Doch die revisionistischen Folgerungen behalten dabei ihre volle Unabhängigkeit von den revolutionären Theorien.

 


Zuletzt aktualisiert am 22.7.2008