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Zweiter Teil: Die Strategie und Taktik in der imperialistischen Epoche |
Die Kapitulation des deutschen Kommunismus im Herbst 1923, welche die drohende proletarische Gefahr mit einem Minimum von Bürgerkrieg beseitigt hat, musste unfehlbar nicht nur die Stellung der Kommunistischen Partei, sondern auch des Faschismus schwächen. Denn selbst ein für die Bourgeoisie siegreicher Bürgerkrieg unterwühlt die Grundlagen der kapitalistischen Ausbeutung. Wir sind schon damals, also Ende 1923 gegen die Überschätzung der Kräfte und der Gefahr des deutschen Faschismus aufgetreten. Wir erklärten, dass der Faschismus stets nur in den Hinterhöfen bleiben wird, während die politische Szenerie in ganz Europa im Laufe einer bestimmten Periode von den demokratisch-pazifistischen Gruppierungen besetzt wird. (Der Linksblock in Frankreich, die Arbeiterregierung in England.) Und die Verstärkung dieser Gruppierungen wird seinerseits wieder ein Anstoß für ein neues Wachstum der Sozialdemokratie geben. Anstatt diesen unabwendbaren Prozess zu verstehen und den Kampf dagegen in einer neuen Frontlinie zu organisieren, fuhr die offizielle Führung fort, den Faschismus und die Sozialdemokratie in einen Topf zu werfen und deren gemeinsamen Untergang in einem bald bevorstehenden Bürgerkrieg zu prophezeien.
Das Problem der gegenseitigen Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Europa war sehr eng mit der Frage des Faschismus und der Sozialdemokratie verbunden. Erst die Niederlage der deutschen Revolution im Jahre 1923 ermöglichte es dem amerikanischen Kapital, an die Verwirklichung seiner Pläne, der (vorläufig) friedlichen Unterjochung Europas heranzugehen. Bei dieser Sachlage hätte man das amerikanische Problem in seiner ganzen Größe beachten müssen. Die Führung des 5. Kongresses ist aber statt dessen einfach daran vorbeigegangen. Sie ging vollständig von der innereuropäischen Situation aus und bemerkte gar nicht, dass der lange Aufschub der europäischen Revolution das Schwergewicht der internationalen Beziehungen sofort nach der Seite eines Angriffs Amerikas auf Europa verlegt hatte. Dieser Angriff nahm die Form einer ökonomischen „Festigung“ Europas an, einer Normalisierung und einer Pazifizierung desselben und einer „Gesundung“ der demokratischen Belange in Europa. Nicht nur der verarmte Kleinbürger, sondern auch der einfache Arbeiter sagte sich; dass, wenn die Kommunistische Partei es nicht verstand den Sieg zu erringen, so wird vielleicht die Sozialdemokratie uns – zwar nicht den Sieg, nein, das erwartet man nicht von ihr – aber ein Stück Brot durch eine Belebung der Industrie mit Hilfe des amerikanischen Goldes bringen. Man muss begreifen, dass die schamlose Fiktion des amerikanischen Pazifismus auf der Grundlage des Dollars – nach der Niederlage der deutschen Revolution – zu einem der wichtigsten politischen Faktoren in dem Leben Europas werden musste. Aus dieser Hefe ist nicht allein die deutsche Sozialdemokratie wieder hochgekommen, sondern zu einem großen Teil auch die französischen Radikalen und die englische Arbeiterpartei.
Als Gegengewicht zu dieser neuen feindlichen Front hätte man darauf hinweisen müssen, dass das bürgerliche Europa sich nur als finanzieller Vasall der Vereinigten Staaten wird halten können, und dass der Pazifismus der letzteren nur dem Bestreben entspringt, Europa auf die Hungerration zu setzen. Anstatt dessen, dass man diese Perspektive zum Ausgangspunkt des neuen Kampfes gegen die Sozialdemokratie mit ihrer neuen Religion des Amerikanismus gemacht hätte, richtete die Führung der Komintern ihren Angriff nach der entgegengesetzten Seite. Sie unterschob uns die blödsinnige Theorie eines auf amerikanische Ration gesetzten normalisierten Imperialismus ohne Kriege und Revolutionen.
Noch in derselben Februarsitzung, in der das Präsidium des EKKI – vier Monate vor dem Kongress – den bewaffneten Aufstand für die deutsche Partei „als ganz konkret und unaufschiebbar“ auf der Tagesordnung stehend erklärte, gab es auch die folgende Bewertung der Lage in Frankreich, das damals gerade den „linken“ Parlamentswahlen entgegenging:
„Diese Belebung (vor den Wahlen) betrifft stets nur die unbedeutendsten und schwächsten Parteien und tote politische Gruppierungen. Die sozialistische Partei ist unter den Strahlen der herannahenden Wahlen wieder rege und lebendig geworden ...“ (Prawda vom 7. Februar 1924.)
Also in einer Zeit, in der in Frankreich ganz offenbar eine Welle der kleinbürgerlichen pazifistischen Linksheit herannahte, die auch breite Kreise der Arbeiter erfasste und zu gleicher Zeit sowohl die Partei des Proletariats, wie auch die faschistische Garde des Kapitals schwächte, mit einem Worte, der Sieg des „Linksblocks“, ging die Führung der Komintern direkt von einer entgegengesetzten Perspektive aus. Sie leugnete glatt die Möglichkeit einer pazifistischen Welle ab und sprach am Vorabend der Maiwahlen 1924 von der französischen sozialistischen Partei, der linken Bannerträgerin des kleinbürgerlichen Pazifismus, als einer bereits „toten politischen Gruppierung“. Ich habe damals in einem besonderen Schreiben an die Delegation der WKP gegen diese leichtsinnige Bewertung der sozialpatriotischen Partei protestiert. Jedoch vergebens. Die Führung der Komintern hielt die hartnäckige Ignorierung dieser Tatsachen für „links“. Daraus entstand jene verzerrte und schmutzige Polemik – wie stets in den letzten Jahren – über den demokratischen Pazifismus, die so viel Wirrwarr in die Parteien der Komintern hineingetragen hat. Die Anhänger der Opposition wurden der pazifistischen Vorurteile beschuldigt, stur deshalb, weil diese die Vorurteile der Führung der Komintern nicht teilten und rechtzeitig vorausgesehen haben, dass die kampflose Niederlage des deutschen Proletariats nach einer kurzen Verstärkung der faschistischen Tendenzen unausbleiblich die kleinbürgerlichen Parteien in Szene setzen und die Sozialdemokratie verstärken wird.
Wir hatten bereits oben erwähnt, dass Sinowjew in einer Konferenz der Internationalen Roten Hilfe ungefähr drei oder vier Monate vor dem Siege der Arbeiterpartei in England und des Linksblocks in Frankreich in einer Polemik gegen mich erklärte:
„Wir dürfen jetzt keine, selbst noch so kurze Periode auch nur einer äußerlichen Pazifizierung, irgendeines Erlöschens erwarten ... Europa tritt in das Stadium entscheidender Ereignisse ein ... Deutschland geht augenscheinlich einem verschärften Bürgerkrieg entgegen (Prawda vom 2. Februar 1924.)
Sinowjew hatte anscheinend vollständig vergessen, dass es mir noch auf dem 4. Kongress im Jahre 1922 gelungen war, in einer Kommission trotz eines ziemlich hartnäckigen Widerstandes Sinowjews selbst und Bucharins, in die Resolution des Kongresses eine (freilich ziemlich verstümmelte) Abänderung einzubringen, die von dem bevorstehenden Hereinbrechen einer pazifistischdemokratischen Ära als einer wahrscheinlichen Etappe auf dem Wege des politischen Niederganges des bürgerlichen Staates und als Vorstufe der Herrschaft des Kommunismus oder des Faschismus spricht.
Auf dem 5. Kongress, der bereits nach der Entstehung der „linken“ Regierungen in England und Frankreich tagte, erinnerte sich Sinowjew – sehr zu statten – an diese meine Abänderung und verkündete sie folgendermaßen:
„Im gegenwärtigen Augenblick wird die internationale Lage durch den Faschismus, durch den Belagerungszustand und durch eine steigende Welle des weißen Terrors gegen das Proletariat charakterisiert. Das schließt aber nicht die Möglichkeit aus, dass in der nächsten Zukunft in den wichtigsten Ländern die offene Reaktion der Bourgeoisie durch eine demokratisch-pazifistische Ära ersetzt wird.“
Sinowjew fügte diesem Zitat mit Befriedigung hinzu:
„Das ist im Jahre 1922 gesagt worden. Somit hat die Komintern bereits vor anderthalb Jahren eine demokratisch-pazifistische Ära vorausgesagt.“ (Prawda vom 22. Juni 1924.)
Was richtig ist, bleibt richtig. Jene Prognose, die man mir so lange als eine „pazifistische“ Abweichung vorgeworfen hat (als meine Abweichung und nicht eine Abweichung in der Entwicklung), kam jetzt auf dem 5. Kongress, während der Flitterwochen der Ministerien Macdonald und Herriot sehr zu statten. So stand leider die Sache mit den Prognosen überhaupt.
Hier muss man noch hinzufügen, dass Sinowjew und die Mehrheit des 5. Kongresses die alte Perspektive der „pazifistischdemokratischen“ Ära, als eine Etappe auf dem Wege des kapitalistischen Zerfalls viel zu buchstäblich aufgefasst hatten. So erklärte Sinowjew auf dem 5. Kongress:
„Die demokratisch-pazifistische Ära – das ist ein Anzeichen des Zerfalls des Kapitalismus.“
Und in seinem Schlusswort sagt er nochmals:
„Ich wiederhole , dass gerade die demokratisch – pazifistische Ära ein Zeichen des Zerfalls und der unheilbaren Krise (des Kapitalismus) ist.“ (Prawda vom 1. Juni 1924.)
Das wäre richtig gewesen, wenn nicht die Ruhrkrise gewesen wäre, und wenn die Entwicklung planmäßiger, ohne solche historischen „Sprünge“, vor sich ginge. Das wäre doppelt und dreifach richtig gewesen, wenn das deutsche Proletariat im Jahre 1923 den Sieg errungen hätte. In diesem Falle hätten die Regimes der Macdonald und Herriot nur eine englische und französische „Kerenski-Periode“ bedeutet. Doch es kam die Ruhrkrise, die die Frage, wer nun Herr im Hause sein sollte, ganz krass stellte. Das deutsche Proletariat errang nicht den Sieg, sondern erlitt eine entscheidende Niederlage, und zwar in einer Form, welche die deutsche Bourgeoisie im höchsten Maße ermuntern und festigen musste. Der Glaube an die Revolution wurde in ganz Europa für eine ganze Reihe von Jahren gebrochen. In einer solchen Lage bedeuteten die Regierungen Macdonald und Herriot ganz und gar nicht eine Kerenski-Periode oder überhaupt den Zerfall der Bourgeoisie. Im Gegenteil, sie konnten und mussten lediglich vorübergehende Vorläufer von ernsteren, festeren und von sich selbst überzeugteren bürgerlichen Regierungen werden.
Der 5. Kongress hat das nicht begriffen und indem er die Ausmaße der deutschen Katastrophe falsch eingeschätzt und sie lediglich zu einer Frage der Komödie im sächsischen Landtage gemacht hatte, hat er sich die Tatsache nicht klargemacht, dass das Proletariat Europas sich bereits auf der ganzen Front in einem politischen Rückzug befindet, und dass unsere Aufgabe jetzt nicht in einem bewaffneten Aufstand, sondern in einer Neuorientierung bestand, und zwar in Rückzugsgefechten und in der Schaffung von organisatorischen Positionen für die Partei vor allem in den Gewerkschaften.
In Verbindung mit der Frage der „Ära“ entstand eine nicht minder schiefe und entstellte Polemik über den Faschismus. Die Opposition hat damals schon auseinandergesetzt, dass die Bourgeoisie ihre faschistische Schulter nur in dem Augenblick vorschiebt, in dem eine unmittelbare revolutionäre Gefahr die Grundlagen ihres Regimes selbst bedroht, und wenn die normalen Organe des bürgerlichen Staates sich als unzureichend erweisen. In diesem Sinne bedeutet der aktive Faschismus den Zustand des Bürgerkrieges von Seiten der kapitalistischen Gesellschaft gegenüber dem sich erhebenden Proletariat. Umgekehrt wird die Bourgeoisie gezwungen, ihre linke, die sozialdemokratische Schulter vorzuschieben in einer Periode, welche der Zeit des Bürgerkrieges vorausgeht, um das Proletariat zu täuschen, zu beruhigen und zu zersetzen, oder in einer Periode, die auf einen ernsten und dauerhaften Sieg über das Proletariat folgt. Also wenn sie gezwungen ist, um das normale Regime wiederherzustellen, die breiten Volksmassen, darunter auch die von der Revolution enttäuschten Arbeiter, parlamentarisch zu erfassen.
Im Gegensatz zu dieser Analyse, die theoretisch gar nicht zu widerlegen ist und durch den gesamten Verlauf des Kampfes bestätigt wurde, hat die Führung der Komintern die unsinnig vereinfachte Behauptung von der Identität der Sozialdemokratie mit dem Faschismus aufgestellt. Von der unbestreitbaren Tatsache ausgehend, dass die Sozialdemokratie in bezug auf die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft keine geringere Hundetreue als der Faschismus besitzt und stets bereit ist, im Augenblick der Gefahr ihren Noske vor zuschicken, hat die Führung der Komintern überhaupt den politischen Unterschied zwischen der Sozialdemokratie und dem Faschismus gestrichen, damit aber auch den Unterschied zwischen einer Periode des offenen Bürgerkrieges und der Periode der „Normalisierung“ des Klassenkampfes. Mit einem Worte, alles ist umgeschmissen, verwickelt und vermengt worden, nur um den Schein einer Orientierung auf die unmittelbare Entwicklung des Bürgerkrieges zu wahren. Ganz als ob sich in Deutschland und in Europa im Herbst 1923 gar nichts besonderes ereignet hätte; eine Episode und das war alles.
Um die Richtung und das Niveau dieser Polemik zu zeigen, müssen wir den Artikel Stalins Zur internationalen Lage anführen. (Prawda vom 20. September 1924.)
„Manche glauben,“ so polemisierte Stalin gegen mich, „dass die Bourgeoisie nicht gezwungen zum ‚Pazifismus‘ und ‚Demokratie‘ gekommen ist, sondern aus freiem Willen, sozusagen nach freier Wahl.“
Nach dieser historisch-philosophischen Grundthese, bei der es geradezu genierlich ist zu verweilen, werden zwei politische Hauptfolgerungen gezogen:
„Erstens ist es unwahrscheinlich, dass der Faschismus nur eine Kampforganisation der Bourgeoisie ist. Der Faschismus ist nicht allein eine militärtechnische Kategorie (?).“
Warum die Kampforganisation der bürgerlichen Gesellschaft eine technische und keine politische „Kategorie“ ist, ist unverständlich. Doch was ist denn überhaupt Faschismus? Eine indirekte Antwort darauf lautet:
„Die Sozialdemokratie ist ein objektiv gemäßigter Flügel des Faschismus.“
Man könnte wohl sagen, dass die Sozialdemokratie der linke Flügel der bürgerlichen Gesellschaft ist. Diese Feststellung ist ganz richtig, wenn man sie nicht so ganz vereinfacht auffasst und dabei nicht vergisst, dass die Sozialdemokratie noch immer Millionen von Arbeitern hinter sich her führt und in bestimmten Grenzen gezwungen ist, nicht allein mit dem Willen ihres bürgerlichen Herrn zu rechnen, sondern auch mit den Interessen ihrer betrogenen proletarischen Auftraggeber. Absolut unsinnig ist es aber, die Sozialdemokratie als den „gemäßigten Flügel des Faschismus“ zu bezeichnen. Wo sollte man bei einer solchen Annahme die bürgerliche Gesellschaft selbst hintun? Selbst bei der einfachsten politischen Orientierung darf man nicht alles auf einen Haufen werfen, sondern man muss unterscheiden, dass die Sozialdemokratie und der Faschismus zwei verschiedene Pole der – im Moment der Gefahr einheitlichen – bürgerlichen Front darstellen, aber immerhin zwei Pole. Ist es denn überhaupt noch notwendig, jetzt nach den Maiwahlen 1928, die durch den gleichzeitigen Niedergang des Faschismus und das Wachstum der Sozialdemokratie gekennzeichnet sind, das zu betonen? Erwähnt sei auch noch, dass doch die Kommunistische Partei der Sozialdemokratie auch hierbei die Einheitsfront der Arbeiterklasse vorschlug.
„Zweitens,“ heißt es in dem Artikel Stalins weiter, „ist es falsch, dass die Entscheidungskämpfe bereits geschlagen sind, dass das Proletariat in diesen Kämpfen eine Niederlage erlitten und die Bourgeoisie sich infolgedessen gefestigt hat. Entscheidende Kämpfe haben noch gar nicht stattgefunden, schon darum nicht, weil es überhaupt noch keine wirkliche bolschewistische Massenpartei gegeben hat.“
Also die Bourgeoisie konnte sich nicht festigen, weil es noch keine Kämpfe gab, und es gab keine Kämpfe, „schon“ darum nicht, weil es überhaupt noch keine bolschewistische Partei gab. Somit verhindert die Befestigung der Bourgeoisie ... das Fehlen einer bolschewistischen Partei. In Wirklichkeit aber hat gerade das Fehlen – nicht so sehr der Partei, wie einer bolschewistischen Leitung -der Bourgeoisie geholfen, sich zu festigen. Wenn eine Armee in einer kritischen Situation ohne einen Schlag aufzufangen vor dem Feinde kapituliert, so ersetzt das in der Politik wie im Kriege – vollständig – eine „Entscheidungsschlacht“. Engels hat schon im Jahre 1850 gelehrt, dass eine Partei, die eine revolutionäre Situation versäumt hat, für eine lange Zeit von der Bildfläche verschwindet. Doch wem wäre es noch unbekannt, dass Engels, der „vor dem Imperialismus“ gelebt hat, heute veraltet ist. Stalin schreibt folgendermaßen:
„Ohne solche (bolschewistische) Parteien sind unter den Bedingungen des Imperialismus keine Kämpfe für die Diktatur möglich.“
Man muss also annehmen, dass solche Kämpfe in der Epoche von Engels, als das Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung noch nicht entdeckt war, wohl möglich waren.
Diese ganze Gedankenkette wird, wie das üblich ist, durch eine politische Prognose gekrönt:
„Endlich ist auch das falsch ... dass aus dem ‚Pazifismus‘ eine Festigung der Macht der Bourgeoisie und ein Aufschub der Revolution auf unbestimmte Zeit entstehen muss.“
Ein solcher Aufschub ist aber nichtsdestoweniger entstanden – zwar nicht nach Stalin, sondern nach Engels. Ein Jahr später, als es selbst für Blinde klar wurde, dass die Lage der Bourgeoisie sich befestigt hatte und die Revolution auf unbestimmte Zeit vertagt war, begann Stalin, mich der – Nichtanerkennung der Stabilisierung zu beschuldigen. Die Beschuldigungen wurden besonders dringend zu jener Zeit als die „Stabilisierung“ bereits begann neue Risse zu bekommen, als in England und in China eine neue revolutionäre Welle heranrückte. Und all dies hoffnungslose Durcheinander sollte die Pflichten einer führenden Linie erfüllen! Man muss noch bemerken, dass die in dem Entwurf (Kapitel 2) enthaltene Charakteristik des Faschismus und dessen Verhältnisses zur Sozialdemokratie trotz der dabei bewusst zugelassenen Zweideutigkeiten (zur Anknüpfung an die Vergangenheit), viel vernünftiger und richtig ist als das oben angeführte Schema von Stalin, das seinem Wesen nach wiederum nur ein Schema des 5. Kongresses ist. Doch dieser unbedeutende Schritt nach vorwärts entscheidet die Frage noch nicht. Das Programm der Komintern kann nach den Erfahrungen des letzten Jahrzehnts nicht auskommen ohne eine Charakteristik der revolutionären Situation, deren Entstehung und Verschwinden, ohne einen Hinweis auf die klassischen Fehler in der Bewertung der Situation, ohne eine Erklärung, wie sich der Lokomotivführer bei den Kurven verhalten muss, und ohne dass man den Parteien jene Wahrheit einhämmert, dass es Situationen geben kann, bei denen der Erfolg der Weltrevolution von einem Kampf von zwei bis drei Tagen abhängt.
Nach der Periode der Sturmflut von 1923 begann die Periode einer langwierigen Ebbe. In der Sprache der Strategie bedeutete das einen geordneten Rückzug, Rückzugskämpfe, Befestigung der Stellungen innerhalb der Massenorganisationen, Überprüfung der eigenen Reihen und Reinigung und Schärfung der theoretischen und politischen Waffen. Diese Stellungnahme wurde aber als liquidatorisch bezeichnet. Wie überhaupt mit diesem, wie auch mit den anderen Begriffen des bolschewistischen Lexikons in den letzten Jahren, der allergrößte Missbrauch getrieben wurde. Man lehrte und erzog nicht mehr, sondern säte nur Zerwürfnis und Verwirrung. Das Liquidatorentum bedeutet einen Verzicht auf die Revolution und ist bestrebt, die Wege und die Methoden derselben durch Wege und Methoden des Reformismus zu ersetzen. Die Politik Lenins hatte mit Liquidatorentum nichts gemein. Doch ebenso wenig hatte sie etwas mit einer Ignorierung der Veränderungen in der objektiven Lage zu tun, bzw. mit einer Aufrechterhaltung des Kurses des bewaffneten Aufstandes mit bloßen Worten, zu einer Zeit als die Revolution uns bereits den Rücken gekehrt hatte und wiederum ein langwieriger Weg voll hartnäckiger, systematischer, mühseliger Arbeit unter den Massen zur Vorbereitung der Partei für eine neue Revolution vor uns lag.
Wenn der Mensch eine Treppe hinaufsteigt, braucht er eine Art der Bewegung, wenn er sie aber heruntergeht – eine andere. Am gefährlichsten ist eine solche Lage, in der ein Mensch das Licht auslöscht, seinen Fuß zum Aufstieg erhebt, während es vor ihm drei Stufen hinuntergeht. Hierbei ist ein Stürzen, sind Verletzungen und Verrenkungen unvermeidlich. Die Leitung der Komintern hatte im Jahre 1924 alles getan, um eine Kritik der Erfahrungen des deutschen Oktobers, wie jede Kritik überhaupt, auszulöschen. Sie wiederholte hartnäckig: Die Arbeiter gehen unmittelbar der Revolution entgegen – die Treppe führt hinauf. Ist es nun verwunderlich, wenn die bei der revolutionären Ebbe angewandten Direktiven des 5. Kongresses zu schweren politischen Stürzen und Verrenkungen führen mussten?
In Nummer 5/6 des Informationsbulletins der deutschen Opposition vom 1. März 1927 hieß es:
„Der größte Fehler der Linken auf dem Parteitag in Frankfurt im Frühjahr 1924, als die Linken die Führung übernahmen, bestand darin, dass sie nicht genügend rücksichtslos zu der Partei von der Schwere der Niederlage des Jahres 1923 gesprochen hatte, dass sie nicht die notwendigen Folgerungen zog, der Partei nicht nüchtern und ungefärbt die Tendenz des Kapitalismus gezeigt und ein entsprechendes Programm für die bevorstehende Periode mit ihren Kämpfen und Parole“ aufgezeigt hatte. Das wäre sehr wohl möglich gewesen, ebenso wie eine richtige und unbedingt notwendige scharfe Unterstreichung der einzelnen Programmforderungen.“ (Hervohebung von mir – L.T.)
Diese Zeilen haben uns schon damals gezeigt, dass ein Teil der deutschen Linken, die während des 5. Kongresses sich an dem Kampf gegen unser scheinbares „Liquidatorentum“ beteiligt hatten, die Lehren der Jahre 1924/25 ernstlich verstanden haben. Das hat eine weitere Annäherung auf der prinzipiellen Grundlage ermöglicht.
Das Hauptjahr der Wendung war das Jahr 1924. Jedoch erfolgte die Anerkennung dieser erfolgten jähen Wendung („Stabilisierung“) erst anderthalb Jahre später. Was ist da verwunderlich, wenn die Jahre 1924/25 voll linker Fehler und putschistischer Experimente gewesen sind? Das bulgarische terroristische Abenteuer bildet ebenso wie die tragische Geschichte des estnischen bewaffneten Aufstandes 1924 einen durch die falsche Orientierung hervorgerufenen Verzweiflungsausbruch. Jene Tatsache, dass diese Versuche, den historischen Prozess putschistisch zu vergewaltigen, ohne eine kritische Untersuchung geblieben sind, führte zu einem Rückfall in Kanton gegen Ende 1927. In der Politik werden selbst die kleinsten Fehler nicht ungestraft gemacht, noch viel weniger die großen. Und der allergrößte Fehler ist, wenn man die begangenen Fehler verschleiert, eine Kritik und eine richtige marxistische Bewertung derselben auf mechanischem Wege zu unterdrücken sucht.
Wir schreiben keine Geschichte der Komintern für die letzten 5 Jahre. Wir bringen hier nur eine tatsächliche Beleuchtung zweier strategischer Linien in den grundsätzlichen Etappen dieser Perioden und zu gleicher Zeit – eine Beleuchtung der Weltfremdheit des Programmentwurfs, für den alle diese Fragen überhaupt nicht existieren. Wir können deshalb hier keine, selbst noch so allgemeine Darstellung jener ausweglosen Situation geben, in die die Parteien der Komintern, zwischen die Direktiven des 5. Kongresses einerseits und der politischen Wirklichkeit andererseits gestellt, ständig geraten mussten. Gewiss, nicht überall wurden diese Widersprüche durch so todbringende Konvulsionen gelöst, wie das in Bulgarien und Estland im Jahre 1924 der Fall war. Doch immer und überall fühlten sich die Parteien gebunden, gaben kein Echo auf die Forderungen der Massen, gingen mit Scheuklappen einher und stolperten. Bei der reinen Parteipropaganda und Agitation, bei der Arbeit in den Gewerkschaften, auf der Parlamentstribüne – überall mussten die Kommunisten die Beschlüsse des 5. Kongresses wie eine schwere Kette hinter sich herschleppen. Eine jede Partei, die eine mehr, die andere weniger, wurde zum Opfer der falschen Ausgangspositionen. Sie jagten Trugbildern nach, ignorierten völlig den realen Prozess, verwandelten revolutionäre Parolen zu schreienden Phrasen, kompromittierten sich in den Äugen der Massen und verloren jeden Boden unter den Füßen. Zur Krönung alles dessen, war die Presse der Komintern damals wie heute jeder Möglichkeit beraubt, die Tatsachen und Zahlen über die Arbeit der kommunistischen Parteien in den letzten Jahren zu sammeln, zu ordnen und zu veröffentlichen. Die Epigonenführung zieht es nach den Niederlagen, Fehlern und Misserfolgen vor, den Rückzug und die Abrechnung mit gelöschten Lichtern zu vollziehen.
Indem sich die Führung in großem und wachsendem Widerspruch mit den realen Faktoren befand, musste sie sich immer mehr an scheinbare Faktoren klammern. Das EKKI verlor den Boden unter den Füßen und war ständig bemüht, revolutionäre Kräfte und Anzeichen dort zu entdecken, wo gar keine waren. Um sich im Gleichgewicht zu erhalten, musste es sich an verfaulten Stricken festhalten.
In demselben Maße, in dem innerhalb des Proletariats eine offenbare, wachsende Rechtsschwenkung vor sich ging, begann in der Komintern die Linie der Idealisierung der Bauernschaft, eine ganz unkritische Übertreibung aller Symptome des „Bruches“ desselben mit der bürgerlichen Gesellschaft, eine Schönfärberei aller möglichen bäuerlichen Scheinorganisationen und eine direkte Hochpäppelung von „bäuerlichen“ Demagogen.
Die Aufgabe eines langwierigen und hartnäckigen Kampfes der proletarischen Avantgarde gegen die Bourgeoisie und die bäuerliche Demagogie um den Einfluss auf die am meisten entrechteten Dorftiefen wurde immer mehr und mehr durch die Hoffnung auf eine direkte und selbständige revolutionäre Rolle der Bauernschaft sowohl im nationalen wie internationalen Maßstab ersetzt.
Im Laufe des ganzen Jahres 1924, also des Hauptjahres der „Stabilisierung“ war die kommunistische Presse ständig von völlig phantastischen Angaben über die Stärke der unlängst gegründeten Bauerninternationale erfüllt. Dombai, der Vertreter der letzteren, erklärte, dass die Bauerninternationale sechs Monate nach ihrer Entstehung bereits einige Millionen Mitglieder in sich vereinige.
Es spielte sich der skandalöse Vorfall mit dem Führer der kroatischen „BauerrT'partei Radic ab, der es für ratsam hielt, sich auf dem Wege aus dem grünen Zagreb in dem roten Moskau zu zeigen, um dadurch seine Ministerchancen in dem weißen Belgrad zu stärken.
Am 9. Juli 1924 erzählte Sinowjew in seinem Referat vor den Leningrader Parteiarbeitern über die Ergebnisse des 5. Kongresses von einem neuen „Sieg“:
„Innerhalb der Bauernschaft findet augenblicklich ein wichtiger Umschwung statt. Ihr habt sicher alle bereits gehört von der kroatischen Bauernpartei Radics. Radic befindet sich augenblicklich in Moskau. Das ist ein richtiger Volksführer ... Hinter Radic steht einheitlich das gesamte arme und mittlere Bauernschaft Kroatiens ... Radic hat jetzt im Namen seiner Partei beschlossen, sich an die Bauerninternationale anzuschließen. Wir halten dieses Ereignis für sehr wichtig ...
Die Bildung der Bauerninternationale ist ein außerordentlich großes Ereignis. Einige Genossen haben nicht geglaubt, dass daraus eine große Organisation heraus wachsen wird ... Jetzt bekommen wir eine große Hilfsmaschine – das Bauerntum ...“ (Prawda vom 28. Juli 1924.) Und so weiter und anderes ähnliches.
Dem „echten Volksführer“ Radic entsprach jenseits des Ozeans der Führer LaFollette. Der Vertreter der Komintern Pepper zog, um die „Hilfsmaschine“ – das amerikanische Farmertum – mit beschleunigtem Tempo in Bewegung zu setzen, die junge und schwache amerikanische kommunistische Partei in das unsinnige und schamlose Abenteuer hinein, eine „Arbeiter- und Farmerpartei“ um LaFollette herum zu schaffen, damit der amerikanische Kapitalismus auf dem schnellsten Wege gestürzt werde.
Die frohe Mär von der Nähe der Revolution in den Vereinigten Staaten auf der Farmergrundlage erfüllte zu jener Zeit die Reden und die Artikel der offiziellen Führer des EKKI. In den Sitzungen des 5. Kongresses referierte Kolarow:
„In den Vereinigten Staaten haben die kleinen Farmer eine Arbeiter- und Farmerpartei geschaffen, die immer mehr und mehr radikalisiert wird, sich den Kommunisten annähert und von der Idee der Schaffung einer Arbeiter- und Bauernregierung in den Vereinigten Staaten durchdrungen wird.“ (Prawda vom 6. Juli 1924.)
Also nicht mehr und nicht weniger.
Aus Nebraska kam Green – einer der Führer der Organisationen LaFollettes – zum Bauernkongress nach Moskau. Er hatte sich auch aus irgendwelchen Gründen „angeschlossen“, um später, wie es üblich ist, auf einer Konferenz in St. Paul mitzuhelfen, die Kommunistische Partei abzuwürgen, als diese den schwachen Versuch machte, zur Verwirklichung der großen Pläne Peppers überzugehen. Desselben Pepper, der Berater des Grafen Karolyi war und sich auf dem 3. Kongress als Reformator des Marxismus äußerst links gebärdete. Desselben Pepper, der einer derjenigen war, die die Revolution in Ungarn abschlachteten. Die Prawda vom 29. August 1924 beklagte sich folgendermaßen:
„Das amerikanische Proletariat hat sich in seiner Masse nicht einmal bis zum Bewusstsein der Notwendigkeit selbst einer so versöhnlerischen Partei, wie sie die englische Arbeiterpartei ist, erhoben.“
Und ungefähr anderthalb Monate vorher referierte Sinowjew vor den Leningrader Parteiarbeitern:
„Einige Millionen Farmer werden durch die Agrarkrise freiwillig oder unfreiwillig auf einmal (!) zu der Arbeiterklasse hingestoßen.“ (Prawda vom 22. Juli 1924.)
Und Kolarow fügte direkt hinzu: „zur Arbeiter- und Bauernregierung.“
Die Presse sprach andauernd über die nahe bevorstehende Bildung einer Arbeiter- und Farmerpartei in Amerika zum Sturze des Kapitals, „auf einer nicht rein proletarischen aber klassenmäßigen“ Grundlage. Was der „nicht proletarische aber klassenmäßige“ Charakter bedeuten sollte, konnte kein Weiser weder diesseits noch jenseits des Ozeans deuten. Letzten Endes war das ja nur eine pepperisierte Ausgabe des Gedankens einer „gemeinsamen Arbeiter- und Bauernpartei“, auf die wir noch in Verbindung mit den Lehren der chinesischen Revolution ausführlicher zu sprechen kommen. Hier genügt es nur festzustellen, dass diese reaktionäre Idee von nichtproletarischen aber klassenmäßigen Parteien voll und ganz der pseudolinken Politik des Jahres 1924 entsprungen ist, welche sich, da sie den Boden unter den Füßen verlor, an Radic, La Follette und an die aufgebauschten Zahlen der Bauerninternationale klammerte.
„Wir sind gegenwärtig Zeugen“ – so verkündete der Akademiker der Gemeinplätze, Miljutin – „eines außerordentlich wichtigen und bezeichnenden Vorganges der Abspaltung der bäuerlichen Massen von der Bourgeoisie, des Auftretens der Bauernschaft gegen den Kapitalismus und einer immer stärker und stärkeren Befestigung der Einheitsfront der Bauernschaft und der Arbeiterklasse in den kapitalistischen Ländern im Kampfe gegen das kapitalistische System.“ (Prawda vom 27. Juli 1924.)
Im Laufe des ganzen Jahres 1924 ermüdet die Presse der Komintern nicht, über die allgemeine „Linkswendung der Bauernmassen“ zu erzählen, als ob man irgend etwas Selbstständiges von dieser, in den meisten Fällen nur scheinbaren Linkswendung der Bauern, in einer Periode der offenen Rechtswendung der Arbeiter, der Verstärkung der Sozialdemokratie und der Befestigung der Bourgeoisie erwarten könnte.
Demselben Fehler im politischen Sehvermögen begegnen wir gegen Ende 1927 und Anfang 1928 in bezug auf China. Nach jeder großen und tiefen Krise, bei der das Proletariat eine entscheidende Niederlage für eine lange Zeit erleidet, dauert die Erregung unter den halbproletarischen Massen in Stadt und Land noch lange an, so wie die Kreise im Wasser wenn ein Stein hineingefallen ist. Wenn nun die Führung diesen Kreisen eine selbständige Bedeutung zuschreibt und sie entgegen dem Prozess innerhalb der Arbeiterklasse als Symptome einer nahenden Revolution deutet, so weiß man, dass das ein unfehlbares Anzeichen dafür ist, dass die Führung wiederum Abenteuern entgegengeht, wie es das estnische oder bulgarische im Jahre 1924 oder das kantonesische im Jahre 1927 gewesen ist.
Während derselben ultralinken Periode wird die chinesische Kommunistische Partei für mehrere Jahre in die Kuomintang hineingejagt, welche von dem 5. Kongress als eine „freundschaftliche Partei“ bezeichnet wird (Prawda vom 25. Juli 1924), ohne dass man einen ernstlichen Versuch unternimmt, den Klassencharakter derselben zu untersuchen. Die Idealisierung der „nationalrevolutionären Bourgeoisie“ entwickelt sich je weiter, desto mehr. So hat der falsche Linkskurs auch in bezug auf den Osten, mit geschlossenen Augen und vor Ungeduld brennend, die Grundlagen für den ferneren Opportunismus gelegt. Um dem Letzteren die Form zu geben, wurde Martynow berufen, der ein um so treuerer Berater des chinesischen Proletariats war, als er selbst während der drei russischen Revolutionen hinter der Kleinbourgeoisie nachhinkte.
Bei der Jagd nach einer künstlichen Beschleunigung der Fristen klammerte man sich nicht nur an Radic, LaFollette, an die sagenhaften Bauernmillionen Dombals und sogar an Pepper: man baute auch eine von Grund aus falsche Perspektive für England auf. Die Schwäche der englischen Kommunistischen Partei gebar damals das Bedürfnis, diese möglichst schnell durch einen mehr imponierenden Faktor zu ersetzen. Damals entstand die falsche Bewertung der Tendenz des englischen Trade-Unionismus. Sinowjew gab zu verstehen, dass er damit rechnete, dass die Revolution nicht durch die enge Pforte der britischen Kommunistischen Partei, sondern durch das breite Tor der Trade-Unions Eingang finden würde. Der Kampf der Kommunistischen Partei um die in den Gewerkschaften organisierten Massen wurde durch die Hoffnung auf eine schnellstmögliche Ausnutzung des fertigen Apparates der Trade-Unions für die Zwecke der Revolution ersetzt. Aus dieser falschen Einstellung heraus entsprang auch die weitere Politik des anglo-russischen Komitees, welche uns nach der Niederlage in China den zweitstärksten Schlag versetzte, einen Schlag sowohl gegen die Sowjetunion, wie auch gegen die englische Arbeiterschaft.
Bereits in den, im Sommer 1923 verfassten Lehren des Oktober, wird die Idee eines beschleunigten Weges – eines, wie die weitere Entwicklung dieser Idee gezeigt hat, durch die Freundschaft mit Purcell und Cook beschleunigten Weges – mit nachfolgenden Worten abgelehnt:
„Ohne die Partei, neben der Partei, in der Umgehung der Partei, durch ein Surrogat der Partei kann die proletarische Revolution niemals siegen. Das ist die Hauptlehre des letzten Jahrzehnts. Es ist richtig, dass die englischen Gewerkschaften zu einem mächtigen Hebel der proletarischen Revolution werden können. Sie können z.B. unter bestimmten Bedingungen und in einer bestimmten Periode sogar die Arbeiterräte ersetzen. Doch sie können niemals eine solche Rolle ohne die Kommunistische Partei oder gar gegen diese spielen, sondern nur unter der Bedingung, dass der kommunistische Einfluss innerhalb der Gewerkschaften entscheidend wird. Für diese Lehre und Folgerung – in bezug auf die Rolle und Bedeutung der Partei für die proletarische Revolution – mussten wir viel zu teuer bezahlen, als dass wir so leicht darauf verzichten könnten oder sie auch nur abschwächen ließen.“ (Trotzki, Bd. 3, S.9.)
Noch ausführlicher wird dasselbe Problem in dem Buche Wohin treibt England behandelt. Dieses Buch ist von der ersten Seite an der Darlegung jenes Gedanken gewidmet, dass auch die englische Revolution die Pforte des Kommunismus nicht vermeiden kann, und dass bei einer richtigen mutigen und unversöhnlichen Politik, welche sich von jeder Illusion in bezug auf die Umgehungen fernhält, die englische kommunistische Partei sprunghaft wachsen und reifen kann, um im Laufe einiger Jahre den ihr bevorstehenden Aufgaben gewachsen zu sein.
Die linken Illusionen des Jahres 1924 wurden mit Hilfe rechter Hefe in die Höhe getrieben. Um die Bedeutung der Fehler und Niederlagen des Jahres 1923 sowohl vor den anderen wie vor sich selbst verbergen zu können, musste man den Prozess der Rechtsschwenkung, welcher im Proletariat vor sich ging, ableugnen und die revolutionären Prozesse innerhalb der anderen Klassen optimistisch übertreiben. Das war der Anfang des Herabgleitens von der proletarischen auf die zentristische, d.h. also kleinbürgerliche Linie, welche sich im weiteren Verlauf bei der sich weiter entwickelnden Stabilisierung von ihrer ultralinken Hülle befreien und als eine grobversöhnlerische enthüllen musste, in der UdSSR in China, in England, in Deutschland wie überall.
Die Politik der wichtigsten kommunistischen Parteien, die auf den 5. Kongress abgestimmt war, erwies sich bereits sehr bald als völlig unzulänglich. Die Fehler der pseudolinken Politik, welche die Entwicklung der Kommunistischen Parteien hinderte, haben später den Anstoß zu neuen empirischen Zickzack-Abweichungen gegeben, und zwar zu einem beschleunigten Hinabgleiten nach rechts. Wenn Menschen sich an der Milch verbrennen, so fangen sie an auch auf das Wasser zu pusten. Die „Linken“ ZKs einer ganzen Reihe von Parteien wurden ebenso gewaltsam gestürzt, wie sie vor dem 5. Kongress entstanden waren. Die pseudolinke Abenteurer-Politik trat ihren Platz einem offenen Opportunismus von rechtszentristischem Typus ab. Um den Charakter und das Tempo dieser organisatorischen Rechtswendung zu begreifen, muss man sich daran erinnern, dass Stalin, der Führer dieser Wendung, noch im September 1924 den Übergang der Parteiführung an Maslow, Ruth Fischer, Treint, Suzanne Girault u. a. als den Ausdruck der Bolschewisierung der Parteien und als eine Antwort auf die Forderungen der bolschewistischen Arbeiter, welche auf ihrem Wege zur Revolution auch „revolutionäre Führer haben wollen“ bezeichnet hat.
Stalin schrieb,
„das letzte halbe Jahr ist in der Hinsicht bemerkenswert, dass es einen grundsätzlichen Umschwung in dem Leben der Kommunistischen Parteien des Westens brachte, und zwar in dem Sinne, dass die sozialdemokratischen Überbleibsel entscheidend liquidiert, die Parteikaders bolschewisiert wurden und eine Isolierung der opportunistischen Elemente stattfand“. (Prawda vom 20. September 1924.)
Schon nach 10 Monaten aber wurden die wahren „Bolschewik!“ und „revolutionären Führer“ zu Sozialdemokraten und Renegaten erklärt, aus der Parteileitung beseitigt und aus der Partei hinausgeworfen.
Trotz dieses panikartigen Charakters der Ablösung der Führer, sehr oft durch grobe und unloyale, mechanische Maßnahmen des Apparats, kann man doch eine einigermaßen strenge ideologische Grenzlinie zwischen der ultralinken Politik und der ihr folgenden Periode des opportunistischen Hinabgleitens nicht ziehen.
In den Fragen der Industrie und der Landwirtschaft in der UdSSR, der kolonialen Bourgeoisie, der „Bauern“parteien in den kapitalistischen Ländern, des Sozialismus in einem Lande, der Rolle der Partei in der proletarischen Revolution standen die revisionistischen Tendenzen bereits in den Jahren 1924/25 in vollster Blüte. Sie verhüllten sich mit der Fahne des Kampfes gegen den „Trotzkismus“ und fanden ihren deutlichsten opportunistischen Ausdruck in den Resolutionen der Aprilkonferenz der WKP im Jahre 1925.
Im ganzen genommen stellt der Rechtskurs den Versuch einer halbblinden, rein empirischen und verspäteten Anpassung an die Verzögerung in der revolutionären Entwicklung, die durch die Niederlage des Jahres 1923 hervorgerufen worden ist, dar. Die ursprüngliche Einstellung Bucharins war, wie bereits erwähnt worden ist, in der „permanenten“ Entwicklung der Revolution, und zwar im buchstäblichen, rein mechanischen Sinne dieses Wortes begründet. Bucharin ließ keinerlei „Atempausen“, Unterbrechungen oder Rückzüge zu und hielt es für eine revolutionäre Pflicht, die „Offensive“ (Vormarsch) unter allen Bedingungen fortzusetzen.
In dem oben zitierten, seiner Art nach programmatischen Artikel Stalins Zu der internationalen Lage, welcher überhaupt das erste Auftreten Stalins in den internationalen Fragen darstellte, wird uns gezeigt dass auch der zweite Verfasser des Entwurfs sich in der ersten Periode des Kampfes gegen den „Trotzkismus“ zu eben derselben, rein mechanischen „linken“ Konzeption bekannte. Für diese Konzeption war stets und unabänderlich nur ein „Zerfall“ der Sozialdemokratie, eine „Linkswendung“ der Arbeiter, ein „Wachsen“ der Kommunistischen Parteien und eine „Annäherung“ der Revolution vorhanden. Jener aber, der um sich sah und unterscheiden konnte, der war und ist ein „Liquidator“. Diese neue „Richtung“ hat anderthalb Jahre gebraucht, um nach dem Umschwung der Lage in Europa im Jahre 1923 etwas Neues zu bemerken, um sich dann panikartig ins Gegenteil zu verwandeln. Die Führung orientierte sich ohne jedes synthetische Verständnis unserer Epoche und deren inneren Tendenzen nur rein nach den Gefühlen (Stalin) und füllte die so erhaltenen Bruchstücke von Folgerungen jedes Mal durch scholastische Schemas (Bucharin) auf. Die politische Linie stellt darum im ganzen eine Zickzackkette dar. Das ideologische Band, ein Kaleidoskop von Schemas, welche die Tendenz haben, ein jedes Bruchstück des Stalinschen Zickzacks bis zur Absurdität zu führen.
Der 6. Kongress würde richtig handeln, wenn er beschließen würde, eine besondere Kommission zu wählen, welche die Aufgabe hätte, alle jene Theorien zu sammeln, die von Bucharin z.B. nur zur Begründung der verschiedenen Etappen des anglo-russischen Komitees geschaffen worden sind. Die Kommission müsste diese Theorien chronologisch zusammenstellen und in ein System bringen, um zu versuchen, eine Malariakurve der darin enthaltenen Gedanken zu zeichnen. Das würde eines der lehrreichsten strategischen Diagramme werden. Dasselbe betrifft auch die chinesische Revolution, die wirtschaftliche Entwicklung der UdSSR, und auch jede weniger bedeutende Frage. Blinder Empirismus mal Scholastik, das ist jener Kurs, der noch auf seine Verurteilung wartet. Am fatalsten hat sich die Wirkung dieses Kurses in den drei wichtigsten Fragen gezeigt: In der inneren Politik der UdSSR, in der chinesischen Revolution und in der Frage des anglo-russischen Komitees. In derselben Richtung, wenn auch nicht so offenbar und weniger mörderisch in bezug auf die Folgen, hat sich dieser Kurs der Komintern auch in allen anderen politischen Fragen wiedergespiegelt.
Was die inneren Fragen der USSR anbetrifft, so ist eine genügend ausführliche Charakterisierung der Politik des Herabgleitens in der Plattform der Bolschewiki-Leninisten (Opposition) gegeben. Wir müssen uns hier mit dem Hinweis auf diese Plattform beschränken. Diese Plattform bekommt übrigens jetzt eine anscheinend unerwartete Bestätigung, indem alle Versuche der gegenwärtigen Leitung der WKP, sich von den Folgen der Politik der Jahre 1923 bis 1928 zu befreien, durch beinahe wörtliche Zitate aus dieser Plattform begründet werden, deren Verfasser und Anhänger in den Gefängnissen und in der Verbannung verstreut sind. Jene Tatsache jedoch, dass die gegenwärtige Leitung zu der Plattform nur in ihren Teilen und Teilchen Zuflucht nimmt, ohne das eine Ende mit dem anderen zu verbinden, macht die neue Linkswendung äußerst unstetig und hoffnungslos, gibt aber gleichzeitig der Plattform, als dem verallgemeinernden Ausdruck eines wirklichen leninistischen Kurses, einen um so größeren Wert.
Die Frage der chinesischen Revolution wird in der Plattform ungenügend, nicht konkret und zum Teil direkt falsch (Sinowjew) behandelt. Wir sind gezwungen im Hinblick auf die entscheidende Bedeutung dieser Frage für die Komintern sie einer ausführlicheren Untersuchung in einem besonderen Teil (III) zu unterwerfen
Was aber das anglo-russische Komitee anbetrifft, die drittwichtigste Frage aus den strategischen Erfahrungen der Komintern in den letzten Jahren, so bleibt uns nach all dem bereits von der Opposition in einer Reihe von Artikeln, Reden und Thesen Gesagten nur noch übrig, hier ein kurzes Fazit zu ziehen.
Der Ausgangspunkt des anglo-russischen Komitees lag, wie wir bereits gesehen haben, in dem ungeduldigen Bestreben, die junge und sich zu langsam entwickelnde Kommunistische Partei zu überspringen. Dieser Umstand gab dem ganzen Experiment schon vor dem Generalstreik einen falschen Charakter.
Man erblickte in dem anglo-russischen Komitee nicht etwa nur einen rein episodischen Spitzenblock, welcher unfehlbar bei der ersten ernsten Prüfung demonstrativ zerrissen werden müsste und würde, um den Generalrat zu kompromittieren. Nein, in ihm sahen nicht allein Stalin, Bucharin, Tomski und andere, sondern auch Sinowjew eine dauerhafte „Freundschaft“, eine Waffe für die systematische Revolutionierung der englischen Arbeitermassen, und, wenn auch nicht das Tor, so doch wenigstens die Vorstufe zu demselben, über die die Revolution des englischen Proletariats schreiten wurde. Das anglo-russische Komitee verwandelte sich – je weiter, desto mehr – aus einer episodischen Verständigung zu einem unberührbaren Prinzip, welches über dem realen Klassenkampf stand. Das wurde zur Zeit des Generalstreiks offenbar.
Der Eintritt der Massenbewegung in das offene Revolutionsstadium, warf die eben etwas links gewordenen liberalen Arbeiterpolitiker in das Lager der bürgerlichen Reaktion zurück. Sie verrieten offen und bewusst den Generalstreik und unterwühlten und verrieten darauf auch den Bergarbeiterstreik. Die Möglichkeit des Verrats steckt immer im Reformismus. Das bedeutet natürlich nicht, dass etwa der Reformismus und der Verrat in jedem Augenblick ein und dasselbe ist. Man kann sich mit den Reformisten vorübergehend verständigen, wenn diese einen Schritt vorwärts machen. Mit ihnen aber einen Block zu bewahren, wenn sie noch kurz vor der Entwicklung einer Bewegung Verrat üben, bedeutet eine verbrecherische Fahrlässigkeit gegenüber den Verrätern und eine Verschleierung des Verrats.
Der Generalstreik hatte zur Aufgabe, mit der Kraft der 5 Millionen Arbeiter einen vereinigten Druck auf die Unternehmer und den Staat auszuüben, denn die Frage des Bergbaues wurde zur wichtigsten Frage der Staatspolitik. Dank dem Verrat der Führung war der Streik bereits in der ersten Etappe abgewürgt. Es war eine sehr starke Illusion, danach noch zu glauben, dass ein isolierter Wirtschaftskampf der Bergarbeiter allein das erringen würde, was der Generalstreik nicht erreicht hat.
Darin bestand gerade die Kraft des Generalrats. Er ging mit kalter Berechnung auf die Niederlage der Bergarbeiter aus, im Verfolge deren sich bedeutende Arbeiterkreise von der „Richtigkeit“ und „Vernunft“ der Judasanweisungen des Generalrats überzeugen würden.
Die Beibehaltung des Freundschaftsblocks mit dem Generalrat, bei gleichzeitiger Unterstützung des langwierigen Wirtschaftsstreiks der Bergarbeiter, gegen welchen der Generalrat auftrat, war gleichsam darauf berechnet, dem Kopf der Trade-Unions die Möglichkeit zu verschaffen, mit der möglichst geringsten Einbuße an Vertrauen aus dieser schwersten Prüfung herauszukommen.
Die Rolle der russischen Gewerkschaften war dabei vorn revolutionären Standpunkt aus eine sehr ungünstige und direkt jämmerliche. Gewiss war eine Unterstützung des Wirtschaftsstreiks, selbst eines isolierten, unbedingt notwendig. Darüber kann es unter Revolutionären keine zwei Meinungen geben. Doch diese Unterstützung durfte nicht nur einen finanziellen, sondern musste auch einen revolutionär-politischen Charakter tragen. Der Allrussische Zentralrat der Gewerkschaften hätte dem englischen Bergarbeiterverband und der gesamten englischen Arbeiterklasse offen erklären müssen, dass der Bergarbeiterstreik nur dann ernsthaft hätte auf Erfolg rechnen können, wenn er durch seine Hartnäckigkeit, seine Ausdauer und seinen Schwung den Weg zu einem neuen Ausbruch des Generalstreiks hätte bahnen können. Das wäre aber nur durch einen offenen direkten Kampf gegen den Generalrat, diese Agentur der Regierung und der Bergbauunternehmer, zu erreichen gewesen. Der Kampf um die Verwandlung des Wirtschaftsstreiks in einen politischen Streik bedeutete also einen heftigen politischen und organisatorischen Krieg gegen den Generalrat. Der erste Schritt zu einem solchen Kriege musste der Bruch mit dem anglo-russischen Komitee sein, das zu einem reaktionären Hindernis, zu einer Kette an den Füßen der Arbeiterschaft geworden war.
Kein Revolutionär, der seine Worte abwägt, wird behaupten, dass der Sieg in einer solchen Richtung gesichert gewesen wäre. Doch auf diesem Wege war der Sieg überhaupt nur möglich. Eine Niederlage auf einem solchen Wege, der später zum Siege führen kann, würde Lehren zeitigen, d.h. die revolutionäre Idee in die Arbeiterklasse einpflanzen. Währenddem die bloße finanzielle Unterstützung des langwierigen und ausweglosen Zunftstreiks (Zunftstreik – nach seinen Methoden, revolutionär-politisch – nach seinem Ziel) nur Wasser auf die Mühlen des Generalrats bedeutete, welcher ruhig abwarten konnte, bis der Streikabbruch durch die Aushungerung erzwungen war und damit bewiesen war, dass er „recht hatte“. Es war für den Generalrat natürlich nicht leicht, als offener Streikbrecher mehrere Monate hindurch dieses Ende abzuwarten. Gerade für diese sehr kritische Periode hatte der Generalrat das Anglo-Russische Komitee zu seiner politischen Deckung gegenüber den Massen gebraucht. Auf diese Weise wurden die Fragen des tödlichen Klassenkampfes zwischen dem englischen Kapital und dem Proletariat, zwischen dem Generalrat und den Bergarbeitern gleichsam zu Fragen einer freundschaftlichen Diskussion – zwischen den beiden Verbündeten des Blocks, dem englischen Generalrat und dem Allrussischen Zentralrat der Gewerkschaften über das Thema, welcher der beiden Wege der bessere sei: der Weg der Verständigung oder der Weg eines isolierten Wirtschaftskampfes – verwandelt. Der unausbleibliche Ausgang des Streiks war die Verständigung, d.h. die tragische Entscheidung der freundschaftlichen „Diskussion“ zugunsten des Generalrats.
Die gesamte Politik des anglo-russischen Komitees war infolge ihrer falschen Linie vom Anfang bis zum Schluss nur eine Hilfe für den Generalrat, eine Unterstützung und Festigung desselben. Sogar die lange finanzielle Unterstützung mit der der Streik unter großer Selbstaufopferung seitens der russischen Arbeiterschaft genährt wurde, nützte nicht den Bergarbeitern und nicht der englischen Kommunistischen Partei, sondern nur demselben Generalrat. Und als Folge dieser größten revolutionären Bewegung in England seit der Zeit des Chartismus kein Wachstum der englischen Kommunistischen Partei, während der Generalrat noch fester als vor dem Generalstreik im Sattel sitzt.
Das sind die Ergebnisse dieses einzigartigen „strategischen Manövers“.
Die Hartnäckigkeit, mit der man für die Beibehaltung des Blocks mit dem Generalrat eintrat, die auf der schmachvollen Berliner Tagung im April 1927 zur direkten Kriecherei ausartete, wurde ebenfalls mit dem Hinweis auf die „Stabilisierung“ begründet. Bei einer Verzögerung in der revolutionären Entwicklung ist man halt gezwungen, sich an Purcell zu klammern. Diese Beweisführung, die vielleicht einem Sowjetbeamten oder einem Trade-Unionist vom Typus eines Melnytschanski sehr überzeugend zu sein schien, bildete in Wirklichkeit ein vollendetes Beispiel des blinden – noch dazu mit Scholastik vermischten – Empirismus. Was hatte die „Stabilisierung“ in ihrer Anwendung auf die englische Wirtschaft und Politik besonders in den Jahren 1926/27 für eine Bedeutung? Entwicklung der Produktionskräfte? Verbesserung der Wirtschaftslage? Bessere Aussichten auf die Zukunft? Verhältnismäßige Zufriedenheit und Beruhigung der Arbeitermassen? Nicht im mindesten. Die ganze sogenannte Stabilisierung des englischen Kapitalismus hält sich nur mit Hilfe der konservativen Kraft der alten Arbeiterorganisationen mit all ihren Strömungen und Schattierungen, bei gleichzeitiger Schwäche und Unentschlossenheit der englischen Kommunistischen Partei. Auf dem Gebiet der Wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen Englands ist die Revolution bereits völlig gereift. Die Frage steht jetzt rein politisch. Die Eckpfeiler der Stabilisierung werden von den Spitzen der Arbeiterpartei und den Trade-Unions gebildet, welche in England ein einheitliches Ganzes, jedoch mit Arbeitsteilung darstellt. Bei einem solchen Zustande der Arbeitermassen, welcher durch den Generalstreik offenbar wurde, nehmen den Hauptrang in der Mechanik der kapitalistischen Stabilisierung nicht mehr MacDonald und Thomas, sondern bereits Purcell, Cook & Co ein. Sie schmeißen die Sache und Thomas führt sie zu Ende. Ohne Purcell würde Thomas in der Luft hängen, und mit Thomas zugleich auch Baldwin. Die falsche diplomatische „linke“ Maskerade Purcells, die sich bald der Reihe nach, bald gleichzeitig, mit Kirchendienern und Bolschewik! verbrüdert und stets nicht nur zu Rückzügen, sondern auch zum Verrat bereit ist, ist es, die die Hauptbremse der englischen Revolution bildet. Stabilisierung ist Purcellismus. Daraus sieht man, was für ein theoretischer Unsinn und blinder Opportunismus der Hinweis auf das Vorhandensein der „Stabilisierung“ zur Entschuldigung des politischen Blocks mit Purcell ist. Ja, gerade um die Stabilisierung zu erschüttern, musste man vor allen Dingen das Purcelltum vernichten, in einer solchen Lage ist selbst ein Schatten von Solidarität mit dem Generalrat das größte Verbrechen und ein Schandmal gegenüber den Arbeitermassen.
Selbst die richtigste Strategie kann allein nicht immer zum Siege führen. Die Richtigkeit eines strategischen Gedankens wird danach beurteilt, ob er die Linie der wirklichen Entwicklung der Klassenkräfte einhält und die Elemente derselben realistisch einschätzt. Die schändlichste und für die Bewegung folgenschwerste Niederlage ist eine solche typisch menschewistische Niederlage, welche auf einer falschen Klasseneinschätzung, einer Unterschätzung der revolutionären Faktoren und auf einer Idealisierung der feindlichen Kräfte beruht. Solcherart waren unsere Niederlagen in China und in England.
Was hatte man vom anglo-russischen Komitee für die USSR erwartet?
Im Juli 1926 belehrte uns Stalin auf dem vereinigten Plenum des ZK und der ZKK folgendermaßen:
„Die Aufgabe dieses Blocks (Anglo-Russisches Komitee) besteht in der Organisierung einer breiten Bewegung der Arbeiterklasse gegen neue imperialistische Kriege überhaupt und gegen eine Intervention in unser Land, insbesondere von Seiten Englands, des mächtigsten der imperialistischen Staaten Europas.“
Indem er uns Oppositionelle solchermaßen darüber belehrte, dass man „für die Verteidigung der ersten Arbeiterrepublik der Welt gegen die Intervention sorgen müsse“, denn wir wussten das noch nicht, fügte Stalin hinzu:
„Wenn die reaktionären Gewerkschaften Englands bereit sind, mit den revolutionären Gewerkschaften unseres Landes gegen die konterrevolutionären Imperialisten ihres Landes einen Block zu schließen, warum sollten wir nicht einen solchen Block begrüßen?“
Wenn die „reaktionären Gewerkschaften“ fähig wären, einen Kampf gegen ihre Imperialisten zu führen, so waren sie nicht reaktionär. Stalin hat die Unterscheidung zwischen den Begriffen reaktionär und revolutionär verloren. Er bezeichnet die englischen Gewerkschaften nach alter Erinnerung als reaktionär, hegt aber in Wirklichkeit in bezug auf den revolutionären Charakter derselben armselige Illusionen. Nach Stalin erklärte auch das Moskauer Komitee zu der Arbeiterschaft Moskaus:
„Das anglo-russische Komitee kann und wird zweifellos eine ungeheure Rolle im Kampfe gegen alle möglichen Interventionen, die gegen die UdSSR gerichtet sind, spielen. Es wird zum organisatorischen Zentrum werden, welches die internationalen Kräfte des Proletariats für den Kampf gegen jeden Versuch der internationalen Bourgeoisie, einen neuen Krieg zu beginnen, zusammenfasst.“ (Thesen des M.K.)
Was hat die Opposition erwidert?
„Je schärfer sich die internationale Lage zuspitzen wird, um so mehr wird sich das anglo-russische Komitee zu einer Waffe des englischen und des internationalen Imperialismus verwandeln.“
Diese Kritik der Stalinschen Hoffnungen auf Purcell, als den Schutzengel des Arbeiterstaates, wurde von Stalin später auf demselben Plenum, als eine Abweichung „vom Leninismus zum Trotzkismus“ bezeichnet.
Woroschilow: „Sehr richtig.“
Eine Stimme: „Woroschilow hat sein Siegel darunter gesetzt.“
Trotzki: „Zum Glück wird das alles im Stenogramm stehen.“
Jawohl, das alles ist in dem Stenogramm des Juliplenums enthalten, auf dem es die groben und unloyalen Opportunisten gewagt haben, die Opposition des „Defätismus“ zu beschuldigen.
Dieser Dialog, den ich hier aus meinem früheren Artikel Was haben wir erwartet und was haben wir erhalten? kurz zitieren musste, ist eine strategische Lehre, die weit nützlicher ist als ein ganzes seminaristisches Kapitel über die Strategie in dem Programmentwurf. Die Frage: Was haben wir erwartet und was haben wir erhalten? bildet das grundsätzliche strategische Kriterium überhaupt. Man muss es auf dem 6. Kongress auf alle Fragen anwenden, die in den letzten Jahren auf der Tagesordnung gestanden haben. Dann wird sich unfehlbar zeigen, dass die Strategie des EKKI besonders seit dem Jahre 1926, eine Strategie mit irrealen Größen, falschen Berechnungen, Illusionen in bezug auf den Feind und Hetze gegen besonders zuverlässige und standhafte Mitkämpfer war. Mit einem Wort, es war eine faule Strategie des rechten Zentrismus.
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Zuletzt aktualisiert am 21.7.2008