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Zweiter Teil: Die Strategie und Taktik in der imperialistischen Epoche |
Der Programmentwurf enthält ein Kapitel, welches den Fragen der revolutionären Strategie gewidmet ist. Man muss anerkennen, dass dies der Absicht nach vollkommen richtig ist und dem Ziel und Geist eines internationalen Programms des Proletariats in der imperialistischen Epoche entspricht.
Der Begriff der revolutionären Strategie hat sich erst in den Nachkriegsjahren, und zwar anfänglich zweifellos unter dem Einfluss der Kriegsterminologie, herangebildet. Jedoch, sie ist ganz und gar nicht etwa zufällig entstanden. Vor dem Kriege haben wir nur von der Taktik der proletarischen Partei gesprochen. Dieser Begriff entsprach ganz den damals herrschenden gewerkschaftlichparlamentarischen Methoden, welche nicht über den Rahmen der laufenden Tagesforderungen und Aufgaben hinausgingen. Unter dem Begriff der Taktik wird das System von Maßnahmen, welches einer einzelnen aktuellen Aufgabe oder einem einzelnen Zweig des Klassenkampfes dient, verstanden. Die revolutionäre Strategie umfasst dagegen ein kombiniertes System von Handlungen, die in ihrer Verbundenheit, Folgerichtigkeit und in ihrer Steigerung, das Proletariat zur Eroberung der Macht führen müssen.
Die Grundprinzipien der revolutionären Strategie sind selbstverständlich seinerzeit formuliert, als der Marxismus vor die revolutionären Parteien des Proletariats die Aufgabe der Eroberung der Macht auf der Grundlage des Klassenkampfes gestellt hatte. Die 1. Internationale konnte jedoch diese Prinzipien eigentlich nur theoretisch formulieren und sie nur teilweise an den Erfahrungen verschiedener Länder erproben. Die Epoche der 2. Internationale aber hat zu solchen Methoden und Anschauungen geführt, bei denen nach dem berüchtigten Ausdruck Bernsteins „Die Bewegung – alles, das Ziel – nichts“ bedeutete. Mit anderen Worten, die strategische Aufgabe verschwand und löste sich in einer „Bewegung“ von einzelnen taktischen Tagesfragen auf. Erst die 3. Internationale stellte die Rechte der revolutionären Strategie des Kommunismus wieder her und ordnete ihr voll und ganz die taktische Methoden unter. Dank den wertvollen Erfahrungen der beiden ersten Internationalen, auf deren Schultern die dritte ruht, dank dem revolutionären Charakter der gegenwärtigen Epoche und der gigantischen historischen Erfahrungen des Oktoberumsturzes, bekam die Strategie der 3. Internationale sofort eine vollwertige Kampferprobtheit von allergrößtem historischem Ausmaße. Das zehnjährige Bestehen der 3. Internationale eröffnet aber gleichzeitig vor uns ein Panorama nicht nur von großen Schlachten, sondern auch von größten Niederlagen des Proletariats, angefangen mit dem Jahre 1918. Die Fragen der Strategie und der Taktik müssten darum gewissermaßen den Zentralpunkt in dem Programm der Komintern bilden. In Wirklichkeit gehört aber das Kapitel im Programmentwurf, welches der Strategie und Taktik der Kommunistischen Internationale mit dem Untertitel Der Weg zur Diktatur des Proletariats gewidmet ist, zu den schlechtesten und inhaltslosesten. Der Teil dieses Kapitels, der den Osten betrifft, besteht eigentlich nur aus der Verallgemeinerung der gemachten Fehler und aus der Vorbereitung von neuen Fehlern.
Der Anfang des Kapitels beschäftigt sich mit der Kritik des Anarchismus, des revolutionären Syndikalismus, des konstruktiven Sozialismus und anderem mehr. Hier liegen eine Reihe von literarischen Nachahmungen des „Kommunistischen Manifestes“ vor, das seinerzeit die Ära der wissenschaftlich begründeten Politik des Proletariats durch eine genial zusammengedrängte Charakteristik der wichtigsten Abarten des utopischen Sozialismus eröffnet hatte. Sich aber jetzt zum zehnjährigen Bestehen der Komintern mit einer flüchtigen, mageren Kritik der „Theorien“ Cornelissens, Arthur Labriolas, Bernard Shaws oder weniger bekannten Gildensozialisten zu beschäftigen, bedeutet, dass man, anstatt politische Bedürfnisse zu beantworten, ein Opfer rein literarischen Pedantentums wird. Dieser Ballast hätte ruhig aus dem Programm verschwinden und in dem Gebiet der Agitationsliteratur Verwendung finden können.
Was nun die strategischen Aufgaben im eigentlichen Sinne des Wortes anbetrifft, so beschränkt sich der Programmentwurf auf solche Abc-Weisheiten wie:
„Die Ausdehnung ihres Einflusses auf die Mehrheit ihrer eigenen Klasse..., wie auf die breiten Schichten der werktätigen Massen überhaupt...“
„Eine besonders hohe Bedeutung besitzt die tagtägliche Arbeit zur Eroberung der Gewerkschaften ...“
„Von hervorragender Bedeutung ist auch (?) die Gewinnung der breitesten Schichten der ärmsten Bauernschaft ...“
Alle diese Binsenwahrheiten werden hier einfach der Reihe nach aufgezählt. Dass heißt also, dass sie hier ohne jede Verbindung mit dem historischen Charakter der Epoche angeführt werden und deshalb in ihrer gegenwärtigen abstrakten, schulmäßigen Form ohne Schwierigkeit auch in eine Resolution der 2. Internationale aufgenommen werden könnten. Ganz trocken und knapp werden hier in einem kleinen schematischen Absatz, der viel kürzer ist als der Absatz von dem „konstruktiven“ oder dem „Gilden“-Sozialismus, die wichtigsten Probleme des Programms behandelt. Das heißt also: Die Strategie des revolutionären Umsturzes, die Bedingungen und die Wege zum bewaffneten Aufstand selbst und die Eroberung der Macht, all das wird hier abstrakt und pedantisch und ohne die geringste Anknüpfung an die lebendigen Erfahrungen unserer Epoche dargelegt.
Wir finden hier die Erwähnung der großen Kämpfe des Proletariats in Finnland, Deutschland, Osterreich, der ungarischen Sowjetrepublik, der Septembertage in Italien, der Ereignisse des Jahres 1923 in Deutschland, des Generalstreiks in England usw. lediglich in der Form einer nackten, chronologischen Aufzählung. Jedoch steht auch dies nicht etwa im 6. Kapitel, das von der Strategie des Proletariats handelt, sondern im 2. – über „Die allgemeine Krise des Kapitalismus und die erste Entwicklungsphase der Weltrevolution“. Mit anderen Worten: Es werden hier die großen Kämpfe des Proletariats nur als objektive Vorgänge, als ein Ausdruck der „allgemeinen Krise des Kapitalismus“ und nicht als strategische Versuche des Proletariats zur Machtergreifung geschildert. Es genügt, darauf zu verweisen, dass die an sich notwendige Zurückweisung des revolutionären Abenteurertums („Putschismus“) im Entwurf vorgenommen wird, ohne dass ein Versuch gemacht wird, die Frage zu beantworten, ob z.B. der Aufstand in Estland oder die Explosion der Kathedrale in Sofia 1924 oder der letzte Aufstand in Kanton heroische Äußerungen des revolutionären Abenteurertums oder im Gegenteil, planmäßige Handlungen der Revolutionsstrategie des Proletariats gewesen sind. Ein Programm, das in seinem Absatz über den „Putschismus“ diese brennenden Fragen nicht beantwortet, ist lediglich eine diplomatische Büroarbeit und kein Dokument der kommunistischen Strategie.
Diese abstrakte, überhistorische Behandlung der Fragen des revolutionären Kampfes des Proletariats ist natürlich für dieses Programm kein Zufall.
Neben der Art Bucharins, die Fragen allgemein literarisch, pedantisch, räsonierend und nicht aktiv revolutionär zu behandeln, ist hierbei die Ursache auch jener Umstand, dass die Verfasser des Programms aus zu leicht verständlichen Gründen es vorziehen, sich überhaupt nicht näher mit den strategischen Lehren des letzten Jahrzehnts zu befassen.
Aber ein Programm der revolutionären Tat darf natürlich keine bloße Sammlung abstrakter Feststellungen sein, die auf alles das, was sich in diesen historischen Jahren ereignet hat, keinen Bezug nimmt. Ein Programm kann natürlich nicht die Ereignisse der Vergangenheit beschreiben, es muss aber von diesen Ereignissen ausgehen und sich auf diese stützen, sie umfassen und sich auf sie beziehen. Ein Programm muss durch seine Stellungnahme ermöglichen, dass man alle wichtigen Tatsachen aus dem Kampfe des Proletariats und aus dem Meinungsstreit innerhalb der Komintern verstehen kann. Wenn das schon in bezug auf das Programm als Ganzes richtig ist, so um so mehr in bezug auf jenen Teil desselben, der besonders den Fragen der Strategie und der Taktik gewidmet ist. Hier müsste man nach dem Ausdruck Lenins neben dem Eroberten auch das Entgangene vermerken, welches auch zum „Eroberten“ werden kann, wenn man es begriffen und sich angeeignet hat. Die proletarische Avantgarde braucht keinen Katalog der Gemeinplätze, sondern eine Anleitung zur Tat. Wir werden daher hier die Probleme des „strategischen“ Kapitels in engster Verbindung mit den Erfahrungen der Kämpfe der Nachkriegszeit, insbesondere der letzten 5 Jahre, der Jahre der tragischen Fehler der Führung betrachten.
Das Kapitel, das der Strategie und der Taktik gewidmet ist, gibt nicht einmal eine einigermaßen zusammenhängende „strategische“ Charakteristik der imperialistischen Epoche als einer Epoche der proletarischen Revolution, in ihrer Gegenüberstellung zur Vorkriegsepoche.
Allerdings wird in dem ersten Kapitel des Programmentwurfs die Periode des Industriekapitalismus insgesamt als eine „Periode der verhältnismäßig stetigen Evolution und Expansion des Kapitalismus über den ganzen Erdball in Form der Aufteilung oder bewaffneten Besitzergreifung von kolonialen Gebieten ...“ geschildert.
Diese Charakteristik ist gewiss recht widerspruchsvoll und idealisiert die gesamte Epoche des Industriekapitalismus, welche eine Epoche der größten Erschütterungen, der Kriege und Revolutionen gewesen ist, die alles bis dahin Gewesene übertraf. Diese Idealisierung in der Charakteristik war scheinbar deshalb notwendig, um wenigstens einigermaßen die absurde Behauptung der Verfasser entschuldigen zu können, dass zur Zeit Marx’ und Engels’ von dem Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung noch „keine Rede sein konnte“. Es ist wichtig, aus der ganzen Geschichte des Industriekapitalismus, die hier fälschlich als eine gleichmäßige Evolution bezeichnet wird, eine besondere europäische Epoche herauszutrennen, welche die Jahre von 1871 bis 1914 oder wenigstens bis 1905 umfasst. Das war eine Epoche der organischen Ansammlung von Widersprüchen, die, was das innere Klassenverhältnis Europas anbetrifft, fast niemals die Grenzen des legalen Kampfes überschritten, und was die internationalen Beziehungen anbetrifft, sich im Rahmen des bewaffneten Friedens bewegten. Das war das Zeitalter der Entstehung, der Entwicklung und der Verknöcherung der 2. Internationale, dessen fortschrittliche historische Rolle mit dem Beginn des imperialistischen Krieges völlig abgeschlossen war.
Die Politik, als ein historischer Faktor betrachtet, bleibt gegenüber der Ökonomik stets zurück, So, wenn die Herrschaft des Finanzkapitals und des Trustmonopols z.B. schon gegen das Ende des 19. Jahrhunderts beginnt, beginnt die neue Epoche der internationalen Politik, welche diese Tatsache widerspiegelt erst mit dem imperialistischen Krieg, mit der Oktoberrevolution und mit der Gründung der 3. Internationale. Dem explosiven Charakter dieser neuen Epoche mit ihrem jähen Wechsel der politischen Flut und Ebbe, mit ihrem ständigen, krampfartigen Klassenkampf zwischen dem Faschismus und Kommunismus, liegt jene Tatsache zugrunde, dass das internationale kapitalistische System sich historisch bereits ausgegeben hat und nicht mehr fähig ist, als Ganzes wieder zu steigen. Das bedeutet nicht etwa, dass einzelne Industriezweige und einzelne Länder nicht mehr steigen und nicht mehr wachsen werden. Sie werden das vielleicht in einem unerhörten Tempo tun. Jedoch, diese Entwicklung geht vor sich und wird vor sich gehen müssen auf Kosten der Entwicklung anderer Industriezweige und anderer Länder. Und da das an die Weltherrschaft gewöhnte Europa mit seinem raschen, fast ununterbrochenen Wachstum in der Vorkriegszeit viel schärfer als die anderen Erdteile jetzt auf die neuen Kräfteverhältnisse, die neue Einteilung des Weltmarktes und die durch den Krieg vertieften Widersprüche gestoßen ist, war gerade bei ihm der Übergang von der organischen Epoche zur revolutionären Epoche besonders jäh.
Theoretisch ist natürlich auch ein neues Kapitel eines allgemeinen kapitalistischen Wachstums in den besonders mächtigen, herrschenden und führenden Ländern nicht ausgeschlossen. Dazu müsste jedoch der Kapitalismus erst ungeheure Barrieren sowohl klassenmäßigen als auch internationalen Charakters überwinden. Er müsste für lange Zeit die proletarische Revolution abwürgen, er müsste China endgültig unterjochen, er müsste die Sowjetrepublik stürzen usw. Dies alles liegt jedoch nicht auf der Hand. Diese theoretische Möglichkeit gleicht am allerwenigsten der politischen Wahrscheinlichkeit. Sehr vieles hängt dabei natürlich auch von uns ab, d.h. von der revolutionären Strategie der Komintern. Letzten Endes wird diese Frage durch den Kampf der internationalen Kräfte gelöst. Jedoch in der gegenwärtigen Epoche, für die das Programm geschaffen ist, steht die allgemeine kapitalistische Entwicklung vor unüberwindlichen Hindernissen und Widersprüchen und schlägt wie besessen um sich herum. Und gerade das verleiht dieser Epoche ihren revolutionären und der Revolution ihren permanenten Charakter.
Der revolutionäre Charakter der Epoche besteht nicht darin, dass er in jedem gegebenen Augenblick es gestattet, die Revolution durchzuführen und die Macht zu ergreifen, sondern er besteht in scharfen Schwankungen und Übergängen von einer unmittelbaren revolutionären Situation, d.h. einer Situation, in der die Kommunistische Partei die Macht beanspruchen könnte, zu einem Siege der faschistischen oder halbfaschistischen Konterrevolution, und von dieser letzteren zu einem Regime der goldenen Mitte (Der „Linksblock“, Einbeziehen der Sozialdemokraten in die Koalition, Übergang der Macht an die Partei Macdonalds usw.), um gleich darauf wieder die Gegensätze auf die Spitze zu treiben und die Machtfrage zu stellen.
Was gab es in Europa im Laufe der letzten Jahrzehnte vor dem Kriege? In der Wirtschaft – ein ungeheurer Aufschwung der Produktionskräfte unter normalen Schwankungen der Konjunktur. In der Politik – eine wachsende Sozialdemokratie auf Kosten des Liberalismus und der Demokratie bei ganz geringfügigen Schwankungen. Mit einem Wort, ein Prozess einer planmäßigen Verschärfung der wirtschaftlichen und politischen Gegensätze und in diesem Sinne eine Entstehung der Voraussetzungen der proletarischen Revolution.
Was haben wir in Europa in der Nachkriegszeit? In der Wirtschaft – unregelmäßige, krampfhafte Einschränkungen und Erweiterungen der Produktion, wobei trotz großer technischer Erfolge in den einzelnen Industriezweigen im allgemeinen das Vorkriegsniveau nicht überschritten wird. In der Politik – tollwütige Schwankungen der politischen Situation nach links und nach rechts. Es ist ganz offenbar dass die scharfen Änderungen in der politischen Situation irr Laufe von 1 bis 3 Jahren nicht durch eine Änderung der wirtschaftlichen Grundfaktoren hervorgerufen werden, sondern einen rein überbaumäßigen Charakter tragen und damit die äußerste Unbeständigkeit des Systems kennzeichnen, dessen Fundament durch unversöhnliche Gegensätze zerrissen wird.
Gerade daraus entspringt in vollstem Maße die Bedeutung der revolutionären Strategie gegenüber der Taktik. Daraus entspringt auch die neue Bedeutung der Partei und der Parteiführung.
Der Entwurf beschränkt sich auf rein formale Bestimmungen der Partei (Avantgarde, Theorie des Marxismus, Verkörperung der Erfahrungen usw.), weiche sich vielleicht nicht so schlecht in einem Programm der linken Sozialdemokratie anhören würden. Jetzt ist das vollkommen ungenügend.
In einer Zeit des wachsenden Kapitalismus konnte selbst die beste Parteileitung den Werdegang einer Arbeiterpartei höchstens beschleunigen. Umgekehrt konnten Fehler der Leitung diesen Werdegang nur verzögern. Die objektiven Voraussetzungen einer proletarischen Revolution reiften erst langsam heran, und die Arbeit der Partei hatte lediglich einen vorbereitenden Charakter.
Jetzt dagegen legt eine jede neue scharfe Wendung der politischen Situation nach links, die Entscheidung in die Hände der revolutionären Partei. Wenn diese die kritische Situation versäumt, so schlägt die letztere in ihr Gegenteil um. Unter diesen Bedingungen bekommt die Rolle der Parteiführung eine ausschlaggebende Bedeutung. Die Worte Lenins, dass 2 bis 3 Tage das Schicksal der internationalen Revolution entscheiden können, wären in der Epoche der 2. Internationale beinahe unverständlich gewesen. In unserer Epoche haben sich diese Worte dagegen nur zu oft bestätigt, und zwar mit Ausnahme des Oktobers, immer von der negativen Seite aus. Nur aus diesen allgemeinen Bedingungen heraus wird jene Ausnahmestellung verständlich, welche die Kommunistische Internationale und deren Führung hinsichtlich der gesamten Mechanik der gegenwärtigen historischen Periode einnimmt.
Man muss sich darüber klar sein, dass die Ausgangs- und Grundursache der sogenannten „Stabilisierung“ der Widerspruch bildet, der zwischen der allgemeinen Zerrüttung der wirtschaftlichen und sozialen Lage des kapitalistischen Europas und des kolonialen Ostens einerseits und der Schwäche, Nichtbereitschaft, Unentschlossenheit der kommunistischen Parteien und den groben Fehlern ihrer Führungen andererseits besteht.
Nicht die sogenannte Stabilisierung, von der man nicht weiß, woher sie gekommen sein soll, hat die Entwicklung der revolutionären Situation 1918/19 aufgehalten, sondern umgekehrt, die nicht ausgenutzte revolutionäre Situation ist in ihr Gegenteil umgeschlagen und hat so der Bourgeoisie die Möglichkeit gegeben, verhältnismäßig erfolgreich für die Stabilisierung zu kämpfen. Die sich verschärfenden Widersprüche dieses „Stabilisierungskampfes“ oder, besser gesagt, des Kampfes für eine weitere Existenz und Entwicklung des Kapitalismus bereiten mit jeder ihrer neuen Etappen die Voraussetzungen neuer internationaler Klassenerschütterungen vor, d.h. also neue revolutionäre Situationen, deren Ausbeutung voll und ganz von der proletarischen Partei abhängt.
Die Rolle des subjektiven Faktors kann in dieser Periode einer langsamen organischen Entwicklung eine völlig untergeordnete bleiben.
Dann können solche lauen Sprichwörter entstehen, wie: „Wer langsam fährt, kommt auch zum Ziel“ und „Man kann mit dem Kopf nicht durch die Wand rennen“ usw., welche sozusagen die ganze taktische Weisheit einer organischen Epoche zusammenfassen, die kein „Überspringen einer Etappe“ verträgt. Sobald aber die objektiven Voraussetzungen herangereift sind, wird der Schlüssel zu dem ganzen historischen Prozess in die Hand des subjektiven Faktors, d.h. der Partei und der revolutionären Leitung derselben, gegeben. Das alles geht aus den Diskussionen über die Lehren des deutschen Oktober, des Anglo-Russischen Komitees und der chinesischen Revolution klar hervor, in allen diesem, wie auch noch anderen weniger bedeutsamen Fällen äußerte sich die opportunistische Tendenz darin, dass sie sich lediglich auf die Massen verließ und die Frage einer revolutionären Führung völlig vernachlässigte. Eine solche Einstellung, die überhaupt falsch ist, wirkt sich in dieser Epoche direkt vernichtend aus.
Die Oktoberrevolution war ein Ergebnis des allgemeinen Verhältnisses der Klassenkräfte in Russland und in der ganzen Welt und der bestimmten Entwicklung derselben aus dem Prozess des imperialistischen Krieges. Diese allgemeine Feststellung gehört zum Abc des Marxismus. Nichtsdestoweniger stände eine solche Fragestellung, wie: ob wir im Oktober die Macht ergriffen hätten, wenn Lenin nicht rechtzeitig nach Russland gekommen wäre, durchaus nicht im Widerspruch mit dem Marxismus. Vieles spricht dafür, dass wir in einem solchen Falle vielleicht die Macht nicht ergriffen hätten. Der Widerstand der Parteispitzen – wir erwähnen hier, dass es zum größten Teil dieselben Leute waren, die auch jetzt noch an der Spitze stehen – war sogar unter Lenin sehr stark. Und er wäre ohne Lenin zweifellos noch viel stärker gewesen. Die Partei hätte es sehr wohl versäumen können, rechtzeitig den notwendigen Kurs einzuschlagen, zumal die Frist damals recht kurz war. In einem solchen Moment entscheiden oft nur wenige Tage. Die Arbeitermassen hatten zwar von unten her mit großem Heldenmut gedrängt, aber ohne eine überzeugte, bewusst zum Ziele führende Leitung wäre der Sieg unwahrscheinlich gewesen. In der Zwischenzeit aber hätte die Bourgeoisie Petrograd den Deutschen ausgeliefert und nach einer Unterdrückung des proletarischen Aufstandes durch einen Separatfrieden mit Deutschland und andere Maßnahmen ihre Macht wahrscheinlich in der Form des Bonapartismus wieder befestigt. Der gesamte Verlauf der Ereignisse wäre für eine ganze Reihe von Jahren ein anderer gewesen.
In der deutschen Revolution von 1918, in der ungarischen Revolution von 1919, in der Septemberaktion des italienischen Proletariats im Jahre 1920, bei den deutschen Ereignissen 1923, in dem englischen Generalstreik 1926, im Wiener Aufstand des Jahres 1927 und in der chinesischen Revolution von 1925/27, überall äußerte sich, wenn auch der Form und dem Grade nach verschieden, ein und derselbe politische Widerspruch des vergangenen Jahrzehnts. In einer objektiv reifen revolutionären Situation, reif nicht nur in bezug auf die sozialen Voraussetzungen, sondern nicht selten auch in bezug auf die Kampfstimmung der Massen, fehlte der subjektive Faktor, d.h. eine revolutionäre Massenpartei, oder dieser Partei fehlte eine weitsichtige und mutige Führung.
Gewiss ist die Schwäche der kommunistischen Parteien und deren Führungen nicht etwa vom Himmel gefallen, sondern sie ist ein Ergebnis der ganzen Vergangenheit Europas.
Immerhin könnten sich die kommunistischen Parteien bei der gegenwärtig vorhandenen Reife der objektiv revolutionären Widersprüche in einem weit rascheren Tempo entwickeln, wenn natürlich eine richtige Führung von Seiten der Komintern vorhanden wäre, welche diesen Entwicklungsprozess fördern und nicht verlangsamen würde. Wenn die Widersprüche an sich den Hauptantrieb der Vorwärtsbewegung bilden, so müsste augenblicklich für die Komintern, wenigstens für den europäischen Teil derselben, das Begreifen der Widersprüche zwischen einer im allgemeinen reifen revolutionären Situation (trotz der Ebbe und Flut) und der Unreife der Partei des Proletariats den Hauptantrieb der Vorwärtsbewegung bilden.
Ohne ein umfassendes, allgemeines, dialektisches Erfassen der gegenwärtigen Epoche, als einer Epoche der jähen Wendungen ist eine wirkliche Erziehung der jungen Parteien, eine richtige strategische Führung der Klassenkämpfe, eine richtige Anwendung der Taktik und ein scharfes und kühnes Sichumstellen bei einer Wendung der Situation, unmöglich. Und gerade bei einer solchen Wendung entscheiden oft 2-3 Tage das Geschick der internationalen Revolution auf Jahre hinaus.
Das der Strategie und Taktik gewidmete Kapitel des Programmentwurfs spricht von einem Kampf der Partei um das Proletariat überhaupt, es spricht vom Generalstreik vom bewaffneten Aufstand überhaupt. Es erwähnt aber überhaupt nicht den eigenartigen Charakter und den inneren Rhythmus der gegenwärtigen Epoche. Ohne dass man diese theoretisch erfasst und politisch „fühlt“, ist eine wirkliche revolutionäre Führung unmöglich.
Darum ist dieses Kapitel von Anfang bis zu Ende so pedantisch, so mager und so unzulänglich ausgefallen.
Man kann in der politischen Entwicklung Europas nach dem Kriege drei Zeitabschnitte feststellen. Der erste Zeitabschnitt läuft von 1917 bis 1921, der zweite vom März 1921 bis Oktober 1923 und der dritte endlich vom Oktober 1923 bis zum englischen Generalstreik oder gar bis zur Gegenwart.
Die revolutionäre Massenbewegung war unmittelbar nach dem Kriege stark genug, um die Bourgeoisie zu stürzen. Jedoch gab es niemanden, der das durchgeführt hätte. Die Sozialdemokratie, die die Führung der althergebrachten Organisationen der Arbeiterklasse innehatte, wendete alle ihre Kräfte zur Rettung des Regimes der Bourgeoisie an. Indem wir zu jener Zeit eine unmittelbare Machtergreifung durch das Proletariat erwarteten, rechneten wir darauf, dass eine revolutionäre Partei im Feuer des Bürgerkrieges rasch heranreifen würde. Aber die beiden Zeitpunkte sind nicht zusammengetroffen. Die revolutionäre Welle der Nachkriegszeit ebbte früher ab, als die Kommunistische Partei im Kampfe mit der Sozialdemokratie herangewachsen und herangereift war, um die Führung des Aufstandes zu übernehmen.
Im März 1921 unternahm die deutsche Kommunistische Partei den Versuch die abfallende Welle dazu zu benutzen, um mit einem Schlage den bürgerlichen Staat zu stürzen. Der leitende Gedanke des deutschen ZK war dabei, die Sowjetrepublik zu retten (die Theorie des Sozialismus in einem Lande war damals nämlich noch nicht verkündet worden). Es stellte sich aber heraus, dass die Entschlossenheit der Führung und die Unzufriedenheit der Massen für einen Sieg noch nicht genügen. Es bedarf dazu noch einer Reihe anderer Voraussetzungen, in erster Linie aber einer engen Verbindung der Führung mit den Massen und des Vertrauens der Massen zu der Führung. Diese Voraussetzungen waren damals noch nicht vorhanden.
Der 3. Kongress der Komintern war der Wegweiser, der zwischen dem ersten und dem zweiten Zeitabschnitt stand. Dieser stellte fest, dass die Hilfsmittel der kommunistischen Parteien, politisch wie organisatorisch, für eine Eroberung der Macht ungenügend sind. Er stellte die Parole auf: „Heran an die Massen“, d.h. also die Eroberung der Macht mittels einer vorausgehenden Eroberung der Massen, indem man diese bei den Tagesfragen und Tageskämpfen anfasst. Denn die Masse lebt auch in einer revolutionären Epoche ihr Alltagsleben, wenn auch etwas andersgeartet.
Diese Feststellung begegnete auf dem Kongress einem heftigen Widerstand, welcher theoretisch von Bucharin entfacht wurde. Er stand damals auf dem Standpunkt seiner eigenen und nicht der marxistischen permanenten Revolution.
„Weil der Kapitalismus sich erschöpft hat, so muss man durch fortwährende revolutionäre Vorstöße den Sieg erzwingen.“ Die Stellungnahme Bucharins wird stets durch derartige Syllogismen erschöpft.
Selbstverständlich habe ich die Bucharinsche Auffassung der Theorie der „permanenten“ Revolution, laut welcher in dem revolutionären Prozess keinerlei Unterbrechungen, Stillstandsperioden, Rückzüge, Übergangsforderungen oder dergleichen möglich sind, niemals geteilt. Im Gegenteil, ich habe stets, seit den ersten Oktobertagen diese Karikatur der permanenten Revolution bekämpft.
Wenn ich, wie auch Lenin, behauptete, dass ein Sowjet-Russland mit der Welt des Imperialismus unvereinbar ist, so hatte ich dabei die große strategische Kurve im Auge und nicht deren taktische Windungen. Bucharin aber hat im Gegensatz dazu, bevor er zum Gegenteil übergegangen ist, stets eine scholastische Karikatur von der Auffassung einer fortlaufenden Revolution nach Marx vertreten. Bucharin erklärte in der Zeit seines „linken Kommunismus“, dass die Revolution weder Rückzüge noch vorübergehende Abmachungen mit dem Feinde zulasse.
Nachdem die Frage des Friedens von Brest, in welcher mein Standpunkt mit dem Bucharins gar nichts gemein hatte, längst erledigt war, vertrat Bucharin mit dem gesamten damaligen ultralinken Flügel der Komintern die Linie der Märztage von 1921 in Deutschland. Er war der Auffassung, dass ohne neue revolutionäre Durchbrüche, ohne eine „Elektrisierung“ des Proletariats in Europa der Sowjetmacht unfehlbar der Untergang drohe. Das Bewusstsein, dass in der Tat wirkliche Gefahren die Sowjetmacht bedrohen, hat mich nicht daran gehindert, auf dem 3. Weltkongress Schulter an Schulter mit Lenin gegen diese putschistische Parodie einer marxistischen Auffassung der permanenten Revolution anzukämpfen. Wir haben auf dem 3. Kongress mehr als einmal der ungeduldigen Linken erklärt: „Übereilt euch nicht, uns zu retten, ihr werdet dadurch nur selbst untergehen und dadurch also auch unseren Untergang herbeiführen. Geht ganz systematisch den Weg des Kampfes um die Massen, um so zu dem Kampf um die Macht zu gelangen. Wir brauchen euren Sieg, nicht aber eure Bereitwilligkeit, unter ungünstigen Bedingungen zu kämpfen. Wir werden uns in der Sowjetrepublik mit Hilfe der NEP schon noch halten und sogar vorwärtsgehen können. Ihr werdet uns noch rechtzeitig zu Hilfe kommen können, wenn ihr eure Kräfte gesammelt habt und die günstige Situation ausnützt.“
Obwohl diese Vorgänge nach dem 10. Parteitage stattfanden, der bekanntlich Fraktionen verboten hatte, übernahm Lenin trotzdem damals die Initiative, um den Kopf einer neuen Fraktion für den Kampf gegen die damals sehr starken Ultralinken zu bilden. In unseren engen Beratungen stellte Lenin die Frage zur Entscheidung, wie man den weiteren Kampf führen müsse, falls der 3. Weltkongress dem Standpunkte Bucharins beitreten sollte. Unsere damalige „Fraktion“ hat sich nur darum nicht weiterentwickelt, weil die Gegner bereits während des Kongresses umgefallen sind.
Bucharin schwenkte natürlich noch weiter als die anderen links vom Marxismus ab. Bereits auf dem 3. Kongress und auch später bekämpfte er meine Auffassung, dass die Wirtschaftskonjunktur in Europa unfehlbar steigen werde, wobei er trotz einer ganzen Reihe von Niederlagen des Proletariats und trotz eines unfehlbaren Steigens der Konjunktur keinen Niedergang, sondern ein neues Anschwellen des revolutionären Kampfes erwartete. Bucharin, der auf diesem Standpunkte einer scholastischen Permanenz sowohl der wirtschaftlichen Krise wie der Revolution überhaupt stand, bekämpfte lange Zeit hindurch meine Auffassung in dieser Frage, bis die Tatsachen ihn zwangen, endlich einzusehen, dass er sich geirrt hatte, allerdings – wie immer – mit einer sehr großen Verspätung. Auf dem 3. und 4. Kongress bekämpfte Bucharin die Politik der Einheitsfront und die Übergangslosungen, indem er von seiner mechanischen Auffassung der Permanenz des revolutionären Prozesses ausging.
Man kann den Kampf zwischen diesen beiden Tendenzen der synthetischen, marxistischen Auffassung des permanenten Charakters der proletarischen Revolution und der scholastischen Parodie des Marxismus, welche ganz und gar nicht etwa nur eine individuelle Schrulle Bucharins war, durch eine ganze Reihe anderer Fragen – großer wie kleiner – verfolgen. Jedoch ist das überflüssig, denn im Grunde genommen ist ja die jetzige Einstellung Bucharins dieselbe ultralinke Scholastik der „permanenten Revolution“, nur dass sie sich auf die andere Seite gedreht hat. Wenn z.B. Bucharin bis 1923 der Auffassung war, dass ohne eine permanente Wirtschaftskrise und ohne einen permanenten Bürgerkrieg in Europa die Sowjetrepublik untergehen müsse, so hat er jetzt dafür ein Rezept für den Aufbau des Sozialismus überhaupt ohne jede internationale Revolution entdeckt. Allerdings ist die umgestülpte Bucharinsche Permanenz dadurch nicht besser geworden, dass die gegenwärtigen Führer der Komintern viel zu oft ihrem Abenteurertum von gestern mit ihrer opportunistischen Einstellung von heute vereinigen, und umgekehrt.
Der 3. Kongress war ein großer Wegweiser. Seine Lehren sind noch heute lebendig und fruchtbar. Der 4. Kongress hatte lediglich diese Lehren konkretisiert.
Die Parole des 3. Kongresses lautet nicht einfach: „Heran an die Massen“ sondern „Heran an die Macht durch eine vorherige Eroberung der Massen!“ Nachdem, während des ganzen Kongresses, die von Lenin geführte Fraktion (Lenin bezeichnete sie demonstrativ als den „rechten“ Flügel) die Mehrheit des Kongresses ständig zurückreißen musste, veranstaltete Lenin gegen Ende des Kongresses eine private Besprechung, in der er prophetisch warnte: „Vergesst nicht, dass es sich hierbei nur um einen guten Anlauf zum revolutionären Sprung handeln soll. – Im Kampf um die Massen – für den Kampf um die Macht.“
Die Ereignisse von 1923 haben bewiesen, dass diese Stellungnahme Lenins nicht nur von den „Geführten“, sondern auch von vielen Führern nicht erfasst wurde.
Den Wendepunkt, der einen neuen, nachleninschen Zeitabschnitt in der Entwicklung der Komintern eröffnet, bilden die deutschen Ereignisse von 1923. Die Ruhrbesetzung durch die französischen Truppen 1923 bedeutete einen Rückfall in das Kriegschaos in Europa. Obwohl das zweite Auftreten dieser Krankheit unvergleichlich schwächer als das erste war, so musste man doch, da der bereits völlig entkräftete Organismus Deutschlands davon ergriffen wurde, heftige revolutionäre Folgen erwarten.
Die Führung der Komintern hat das nicht rechtzeitig erwogen. Und die deutsche Kommunistische Partei fuhr fort, bei der einseitig verstandenen Parole des 3. Kongresses zu verharren, die sie von dem bedrohlichen Weg des Putschismus abwenden sollte. Wir haben oben bereits erwähnt, dass es für eine revolutionäre Leitung in unserer Zeit der jähen Wendungen das schwerste ist, in dem betreffenden Augenblick den Puls der politischen Ereignisse zu fühlen, um jede scharfe Schwenkung abzufangen und rechtzeitig das Steuer zu wenden. Solche Eigenschaften einer revolutionären Führung werden nicht dadurch allein erworben, dass man auf jedes neue Rundschreiben der Komintern schwört. Sie können nur bei Vorhandensein der nötigen theoretischen Voraussetzungen durch selbständige Erfahrungen und wirkliche Selbstkritik erworben werden.
Die jähe Wendung von der Taktik der Märztage von 1921 zu einer systematischen revolutionären Arbeit in der Presse, in den Versammlungen, Gewerkschaften und Parlamenten war natürlich nicht leicht. Nachdem die Krise dieser Wendung überstanden war, entstand die Gefahr der Entwicklung einer direkt entgegengesetzten Einseitigkeit. Der Tageskampf um die Massen verschlingt die gesamte Aufmerksamkeit. Er schafft eine eigene taktische Routine und lenkt den Blick von den aus einer Veränderung der objektiven Situation entspringenden strategischen Aufgaben ab.
Im Sommer 1923 war die innere Lage Deutschlands, besonders in Verbindung mit dem Zusammenbruch der Taktik des passiven Widerstandes, direkt katastrophal. Es wurde ganz klar, dass die deutsche Bourgeoisie nur dann aus dieser „ausweglosen“ Lage einen Ausweg finden konnte, wenn es die Kommunistische Partei nicht rechtzeitig begriff, dass die Lage der Bourgeoisie „ausweglos“ war und nicht die nötigen revolutionären Folgerungen daraus zog. Jedoch die Kommunistische Partei, in deren Hand der Schlüssel lag, war es gerade, die mit diesem Schlüssel die Tür für die Bourgeoisie öffnete.
Warum hatte die deutsche Revolution nicht zu einem Siege geführt? Die Gründe liegen vollständig in der Taktik, nicht in den Vorbedingungen. Wir besitzen hier ein klassisches Beispiel einer entgangenen revolutionären Situation. Nach alledem, was das deutsche Proletariat in den letzten Jahren durchgemacht hatte, konnte man es nur dann zu einem Entscheidungskampfe führen, wenn es überzeugt war, dass die Frage diesmal wirklich zur Entscheidung gebracht wird, und dass die Kommunistische Partei bereit ist zu kämpfen, und fähig, den Sieg zu erringen. Aber die Kommunistische Partei ging dabei nur sehr unentschlossen und verspätet zu Werke. Nicht allein die Rechten, sondern auch die Linken, trotzdem sie sich sehr scharf bekämpft haben, betrachteten vor dem September-Oktober 1923 den Prozess der revolutionären Entwicklung ziemlich fatalistisch.
Jetzt nach den Ereignissen zu untersuchen, wie weit die Eroberung der Macht bei einer richtigen Politik „gesichert“ gewesen wäre, ist etwas für einen Pedanten und nicht für einen Revolutionär. Ich beschränke mich darauf, hier nur ein diesbezügliches wundervolles, wenn auch zufälliges Zeugnis der Prawda anzuführen, das allerdings mit allen übrigen Urteilen dieses Organs in Widerspruch steht:
„Wenn die Kommunisten im Mai 1924 während der Stabilisierung der Mark und gewisser Festigung der Bourgeoisie, nach dem Übergang der Mittelschichten und des Kleinbürgertums zu den Nationalisten, nach einer tiefen Parteikrise und nach einer schweren Niederlage des Proletariats, wenn sie also nach alledem vermochten, 3.760.000 Stimmen auf sich zu vereinigen, so ist es klar, dass im Oktober des Jahres 1923 während der unerhörten Wirtschaftskrise, während einer völligen Zersetzung der Mittelschichten, während eines schrecklichen Durcheinanders in den Reihen der Sozialdemokratie infolge der scharfen Widersprüche innerhalb der Bourgeoisie selbst und einer noch nicht dagewesenen Kampfstimmung der proletarischen Massen in den Industriezentren, die Kommunistische Partei die Mehrheit der Bevölkerung auf ihrer Seite hatte, kämpfen konnte und musste und alle Chancen des Erfolges für sich hatte.“ (Prawda, 23. Mai 1924.)
Und hier die Worte eines mir unbekannten deutschen Delegierten auf dem 5. Weltkongress:
„Es gibt in Deutschland nicht einen einzigen Arbeiter, der nicht wüsste, dass die Partei in den Kampf gehen musste und ihn nicht vermeiden durfte. Die Führer der KPD. hatten die selbständige Rolle der KPD. vergessen. Das war eine der Hauptursachen der Oktoberniederlage.“ (Prawda, 24. Juni 1924.)
Darüber, was im Jahre 1923, besonders in seiner zweiten Hälfte, in den Spitzen der deutschen Partei und der Komintern vor sich gegangen war, ist bereits sehr viel gesprochen und diskutiert worden, wenn auch nicht immer zutreffend. Besonders hat Kuusinen viel Verwirrung in diese Fragen hineingetragen; derselbe Kuusinen, dessen Aufgabe in den Jahren 1924-26 darin bestand, zu beweisen, dass nur in der Führung Sinowjews die Rettung lag und der von dem und dem Datum des Jahres 1926 ab zu beweisen begann, dass die Führung Sinowjews vernichtend war. Die für eine solche verantwortungsvolle Beurteilung der Lage erforderliche Autorität wird Kuusinen wohl durch die Tatsache verliehen, dass er selber im Jahre 1918 alles, was in seinen schwachen Kräften lag, getan hatte, um die Revolution des finnischen Proletariats dem Untergange zu weihen.
Der Versuch, mir nachträglich eine Solidarität mit der Linie Brandlers zu unterschieben, ist bereits mehr als einmal unternommen worden. Zwar wurde das in der .UdSSR nur in maskierter Form zu machen versucht, da hier viele wussten, wie die Sache in Wirklichkeit stand, dagegen in Deutschland ganz offen, da dort niemand etwas wüsste. Ganz zufällig befindet sich in meinem Besitz ein im Druck erschienenes Bruchstück jenes ideologischen Kampfes, der damals in unserem ZK über die Frage der deutschen Revolution geführt worden ist. In dem Material zur Januarkonferenz 1924 werde ich vorn Politbüro direkt eines feindseligen Misstrauens gegen das deutsche ZK in der, der Kapitulation desselben vorangehenden Periode beschuldigt. Es heißt dort wörtlich:
„... Genösse Trotzki hielt, bevor er die Sitzung des ZK verließ (September, Plenum 1923) eine Rede, welche sämtliche ZK-Mitglieder sehr erregte. Er erklärte in dieser Rede, dass die Leitung der deutschen Kommunistischen Partei gar nichts tauge, und dass das ZK der KPD angeblich vom Fatalismus und von Schlafmützigkeit durchdrungen sei usw. Genösse Trotzki erklärte weiter, dass unter diesen Umständen die deutsche Revolution zum Untergange verurteilt sei. Diese Rede hatte einen ungeheuren Eindruck hervorgerufen. Doch die Mehrheit der Genossen war der Ansicht, dass diese Philippika durch einen Vorfall hervorgerufen sei (?), der sich auf dem Plenum des ZK ereignete und gar nichts mit der deutschen Revolution zu tun hatte und diese Darlegung mit der objektiven Sachlage in Widerspruch stünde.“ (Material zur Konferenz der RKP, Januar 1924, S.14. Hervorhebung von mir – L.T.)
Es ist ganz gleich, wie die ZK-Mitglieder sich meine Warnung – übrigens nicht die erste – erklären wollten, sie war nur von der Sorge um das Schicksal der deutschen Revolution diktiert worden. Leider ist meine Befürchtung voll und ganz in Erfüllung gegangen. Zum Teil auch deshalb, weil die Mehrheit des ZK der führenden Partei nach ihrem eigenen Eingeständnis es nicht rechtzeitig begriffen hatte, dass meine Warnung der „objektiven Sachlage“ sehr wohl entsprach. Gewiss ging mein Vorschlag nicht darauf hinaus, das ZK Brandlers durch irgendein anderes zu ersetzen, denn das wäre am Vorabend der entscheidenden Ereignisse das reinste Abenteurertum gewesen. Ich forderte seit dem Sommer 1923 eine zeitgemäße und entschlossene Stellungnahme zu der Frage des bewaffneten Aufstandes und eine entsprechende Mobilisierung der Kräfte zur Unterstützung des deutschen Zentralkomitees. Die späteren Versuche, mir eine Solidarität mit der Linie des ZK Brandlers unterzuschieben, dessen Fehler eigentlich nur eine Widerspiegelung der Fehler der Komintern-Führung waren, sind hauptsächlich durch den Umstand hervorgerufen worden, dass ich nach der Kapitulation der deutschen Partei mich dagegen wandte, dass man Brandler allein zum Sündenbock machte, obwohl, oder richtiger, weil ich die deutsche Niederlage viel ernster nahm als die Mehrheit des ZK. Hier, wie auch in anderen Fällen, bekämpfte ich das unzulässige System, welches nur die Unfehlbarkeit der zentralen Führung durch periodische Absetzungen der nationalen Führungen zu beweisen sucht, wobei diese einer wilden Hetze und oft sogar dem Ausschluss aus der Partei verfallen.
In meinen, unter dem Eindruck der Kapitulation des deutschen ZK entstandenen Lehren des Oktober wird von mir der Gedanke entwickelt, dass in der gegenwärtigen Epoche, eine revolutionäre Situation, die man nur einige Tage auszunützen versäumt hat, erst nach Jahren wiederkehren wird. Dieser Gedanke – es ist kaum zu glauben – ist als „Blanquismus“ und „Individualismus“ bezeichnet worden.
Die unzähligen Artikel, die gegen die „Lehren des Oktobers“ gerichtet wurden, beweisen nur, wie gründlich bereits die Erfahrungen des Oktoberumsturzes vergessen worden sind, und wie wenig die Lehren daraus ins Bewusstsein gedrungen sind. Die Verantwortung für die Fehler der Führung den Massen zuschieben zu wollen oder die Bedeutung der Führung überhaupt herabzusetzen, das ist eine typische menschewistische Gewohnheit. Sie entspringt der Unfähigkeit, den „Überbau“ überhaupt dialektisch zu verstehen, nämlich den Überbau über die Klasse, welchen die Partei bildet, und den Überbau über die Partei, d.h. die zentrale Leitung derselben. Es gibt Zeitabschnitte, in welchen sogar Marx und Engels die Entwicklung nicht um einen Zoll breit hätten vorwärts treiben können. Es gibt aber auch Zeiten, in denen Leute von viel geringerem Ausmaße, am Steuer stehend, die Entwicklung der internationalen Revolution für eine ganze Reihe von Jahren aufhalten können.
Die in der letzten Zeit unternommenen Versuche, die Sache so darzustellen, als ob ich auf meine „Lehren des Oktobers“ verzichtet hätte, sind vollkommen unsinnig.
Gewiss, einen „Fehler“ zweiter Ordnung gemacht zu haben, habe ich eingestanden. Mir schien nämlich, als ich meine „Lehren des Oktobers“ schrieb, also im Sommer 1924, als ob Stalin im Herbst 1923 eine weiter links stehende – d.h. linkszentristische – Stellung als Sinowjew eingenommen hätte.
Ich war eben in das innere Lehen der Gruppe, die die Rolle des Zentrums, der Apparatfraktion der Mehrheit, inne hatte, nicht eingeweiht. Die nach der Spaltung dieser Fraktionsgruppe veröffentlichten Dokumente, besonders der rein brandlerische Brief Stalins an Sinowjew und Bucharin, überzeugten mich, dass meine Einschätzung dieser persönlichen Gruppierung, die übrigens mit dem Wesen der gestellten Probleme an sich nichts zu tun hatte, unrichtig war. Aber auch dieser Personenfehler ist gar nicht so groß. Der Zentrismus ist wohl einzelner großer Ausschläge nach links fähig, doch wie es die „Evolution“ Sinowjews wieder gezeigt hat, ist er ganz unfähig eine einigermaßen systematische revolutionäre Linie innezuhalten.
Die von mir in den „Lehren des Oktober“ ausgeführten Gedanken bleiben auch jetzt vollkommen in Kraft. Ja, noch mehr, sie bekommen nach 1924 immerzu neue und neue Bestätigung.
Unter den zahlreichen Schwierigkeiten bei einem proletarischen Umsturz befindet sich eine besondere, bestimmte, spezifische Schwierigkeit. Sie entspringt aus der Lage und den Aufgaben einer revolutionären Parteileitung. Selbst die revolutionärsten Parteien riskieren bei sich scharf überstürzenden Ereignissen, Parolen und Kampfmaßnahmen von gestern den neuen Aufgaben und Bedürfnissen gegenüberzustellen. Und eine schärfere Wendung der Ereignisse als die, welche den bewaffneten Aufstand erfordert, kann es doch überhaupt nicht geben. Gerade hier entsteht auch die Gefahr, dass die Politik der Parteiführung und der Partei überhaupt dem Auftreten der Klasse und den Bedürfnissen der Situation nicht entspricht. Bei einem verhältnismäßig ruhigen Gang des politischen Lebens kann ein solcher Widerspruch, wenn auch mit Verlust, so doch ohne eine Katastrophe, ausgeglichen werden. Zur Zeit einer heftigen Krise aber fehlt es gerade an der Zeit, um diesen Widerspruch zu beseitigen und die Front sozusagen unter Feuer auszugleichen. Die Perioden der höchsten Verschärfung einer revolutionären Krise sind ihrer Natur nach stets nur kurz. Dieser Widerspruch zwischen einer revolutionären Führung (Schwankungen, abwartende Haltung trotz des Ansturms der Bourgeoisie) und der objektiven Situation kann im Laufe einiger Wochen und sogar Tage zu einer Katastrophe und zu einem Verlust des in jahrelanger Arbeit Vorbereiteten führen.
Gewiss kann dieser Widerspruch zwischen der Führung und der Partei oder der Partei und der Klasse auch den entgegengesetzten Charakter tragen. Das ist dann der Fall, wenn die Führung die Entwicklung der Revolution überholt und den fünften Monat der Schwangerschaft für den neunten hält. Ein krasses Beispiel für einen derartigen Widerspruch sind die Vorgänge in Deutschland im März 1921. Dort hatten wir in der Partei ein krasses Auftreten der „Kinderkrankheit des Radikalismus“, deren Folgen der Putschismus (revolutionäres Abenteurertum) war. Diese Gefahr war auch für die Zukunft aktuell. Deshalb behalten die Lehren des 3. Kongresses der Komintern ihre Kraft. Allein die deutsche Erfahrung von 1923 hat uns die entgegengesetzte Gefahr in harter Wirklichkeit vorgeführt. Die Situation war reif, und die Führung blieb zurück. Bis dieser Widerspruch ausgeglichen war, hatte sich die Situation schon geändert, die Massen fluteten zurück, und das Kräfteverhältnis wurde wesentlich schlechter.
Die deutsche Niederlage von 1923 hatte natürlich viel nationale Eigenart gehabt. Sie enthielt aber auch schon viele typische Merkmale, die eine allgemeine Gefahr signalisierten. Diese Gefahr konnte man als die Krise der revolutionären Führung am Vorabend des Übergangs zum bewaffneten Aufstand bezeichnen. Die Tiefen einer proletarischen Partei sind ihrer Natur nach schon weit weniger empfänglich gegenüber der bürgerlichen öffentlichen Meinung. Bestimmte Elemente der Parteispitze und der mittleren Parteischicht werden stets im entscheidenden Moment unfehlbar in größerem oder kleinerem Maße dem materiellen und ideologischen Terror der Bourgeoisie unterliegen. Man darf eine solche Gefahr nicht einfach von sich weisen. Gewiss, es gibt dagegen kein für alle Fälle gültiges Mittel. Jedoch der erste Schritt zu ihrer Bekämpfung – das bedeutet ihre Natur und ihre Quelle zu erfassen. Die unfehlbare Erscheinung oder Entwicklung rechter Gruppierungen in allen kommunistischen Parteien in der „Vor-Oktober“-Periode ist einerseits eine Folge der größten objektiven Schwierigkeiten und Gefahren dieses „Sprunges“, andererseits aber die Folge eines wütenden Ansturms der öffentlichen Meinung der Bourgeoisie. Darin besteht auch der ganze Sinn der rechten Gruppierungen. Und gerade darum entstehen unfehlbar Unschlüssigkeit und Schwankungen in den kommunistischen Parteien in dem Augenblick, wo diese gerade am gefährlichsten sind. Bei uns wurde 1917, innerhalb der Parteispitze, nur eine Minderheit von solchen Schwankungen ergriffen, die aber dank der scharfen Energie Lenins überwunden wurden. In Deutschland dagegen hatte die Führung insgesamt geschwankt, und das wurde auf die Partei und durch diese auf die Klasse übertragen. Die revolutionäre Situation wurde dadurch versäumt. In China, wo die Arbeiter und armen Bauern für die Machtergreifung kämpften, hat die zentrale Führung gegen diesen Kampf gearbeitet. Das alles waren natürlich nicht die letzten Krisen der Führung in einem entscheidenden historischen Augenblick. Diese unabwendbaren Krisen auf ein Minimum zu beschränken, ist eine der wichtigsten Aufgaben der kommunistischen Parteien und der Komintern. Das kann man nur erreichen, wenn man die Erfahrungen des Oktobers 1917 und den politischen Inhalt der damaligen rechten Opposition innerhalb unserer Partei begreift und sie den Erfahrungen der deutschen Partei im Jahre 1923 gegenübersteht. Darin liegt der Sinn der Lehren des Oktober.
Wir besitzen, angefangen seit Ende 1923, eine ganze Reihe sowohl schriftlicher Dokumente der Komintern, wie mündliche Auslassungen ihrer Führer über den „Fehler des Tempo“ im Herbst 1923, wobei alle mit den unausbleiblichen Hinweisen auf Marx versehen sind, der sich ja auch in den Fristen verrechnet habe. Dabei wurde aber ganz bewusst verschwiegen, ob der „Fehler des Tempo“ der Komintern in einer Unterschätzung oder umgekehrt in einer Überschätzung der Nähe des kritischen Augenblicks der Machtergreifung bestand. Gemäß dem Regime der doppelten Buchführung, das in den letzten Jahren für die Führung traditionell geworden ist, wurde eine Möglichkeit für beide Auslegungen offen gelassen.
Es ist aber nicht schwer, aus der ganzen Politik der Komintern in jener Zeit den Schluss zu ziehen, dass die Führung der Komintern während des Jahres 1924 und des größten Teils von 1925 der Meinung war, dass der Höhepunkt der deutschen Krise noch vor uns liegt. Der Hinweis auf Marx war darum wenig am Platze. Denn wenn Marx wegen seiner Weitsichtigkeit manchmal die Revolution auch näher sah als sie war, so konnte ihm aber niemals passieren, dass er die Revolution von Angesicht zu Angesicht nicht erkannt hätte, während sie unmittelbar vor ihm stand, und dass er später, nachdem die Revolution schon den Rücken gekehrt hatte, diesen entgegengesetzten Teil hartnäckig für das Gesicht der Revolution gehalten hätte.
Auf der 13. Konferenz der RKP erklärte Sinowjew, nachdem er seine doppelsinnige Formel über den „Fehler des Tempo“ geprägt hatte, folgendes:
„Das EK der Komintern muss euch erklären, dass bei einer Wiederholung derselben Ereignisse in ein und derselben Situation wir ebenso handeln müssten.“ (Prawda vom 25. Januar 1924.)
Dieses Versprechen klang wie eine Drohung. Am 20. Februar 1924 sprach Sinowjew in einer Konferenz der Internatioalen Roten Hilfe über die gegenwärtige Lage in Europa:
„Wir dürfen jetzt keine, selbst noch so kurze Periode auch nur einer äußerlichen Pazifizierung, irgendeines Erlöschens erwarten ... Europa tritt in das Stadium entscheidender Ereignisse ein ... Deutschland geht augenscheinlich einem verschärften Bürgerkrieg entgegen“ (Prawda vom 2. Februar 1924.)
Anfang Februar 1924 spricht das Präsidium des EKKI in seiner Erklärung über die Lehren der deutschen Ereignisse:
„Die KPD darf die Frage des Aufstandes und der Machtergreifung nicht von der Tagesordnung streichen. Diese Frage muss vor uns in ihrer ganzen Leibhaftigkeit und Dringlichkeit stehen ...“ (Prawda 7. Februar 1924.)
Am 26. März 1924 schrieb das EKKI an die deutsche Partei:
„Der Fehler in der Bewertung des Tempos der Ereignisse (was für ein Fehler? L.T.) im Oktober 1923 hat der Partei viele Schwierigkeiten gebracht. Doch trotzdem war das nur eine Episode. Die grundsätzliche Einschätzung bleibt dieselbe.“ (Prawda vom 20. April 1924. Hervorhebung von mir – L.T.)
Aus alledem zieht das EKKI die Schlussfolgerung:
„Die deutsche Partei muss wie bisher mit aller Kraft die Bewaffnung der Arbeiterschaft fortsetzen“ (Prawda vom 19. April 1924.)
Das große historische Drama von 1923 – die kampflose Übergabe der wundervollen revolutionären Stellung – wird hier nur als eine Episode bezeichnet. Europa leidet heute noch unter den schweren Folgen dieser „Episode“. Die Tatsache, dass die Komintern vier Jahre lang keinen Kongress einzuberufen brauchte, ist ebenso wie die Tatsache, dass der linke Flügel in den Parteien der Komintern nacheinander zerschlagen wurde, in gleichem Maße ein Ergebnis dieser „Episode“ von 1923.
Der 5. Kongress trat acht Monate nach der Niederlage des deutschen Proletariats zusammen, als bereits sämtliche Folgen dieser Katastrophe klar zutage traten. Hier brauchte man nicht so sehr etwas kommen sehen, als das zu sehen, was war. Die grundsätzliche Aufgabe des 5. Kongresses bestand darin, dass man erstens klar und rücksichtslos diese Niederlage beim Namen nannte, die „subjektiven“ Gründe derselben aufdeckte und es niemandem erlaubte, sich hinter die objektiven Bedingungen zu verstecken. Zweitens musste der Kongress den Beginn einer neuen Etappe feststellen, während welcher die Massen unfehlbar vorübergehend absacken werden, die Sozialdemokratie wachsen und die KP an Einfluss einbüßen wird. Drittens bestand die Aufgabe des Kongresses darin, die Komintern zu alledem vorzubereiten, damit sie nicht überrascht würde und sie mit den notwendigen neuen Methoden der Abwehrkämpfe und organisatorische Festigung bis zum Eintreffen einer neuen Änderung der Situation vertraut zu machen. Der Kongress nahm aber in allen diesen Fragen eine direkt entgegengesetzte Stellung ein. Sinowjew bestimmte auf dem Kongress den Sinn der deutschen Ereignisse folgendermaßen:
„Wir haben die deutsche Revolution erwartet, sie ist aber nicht gekommen.“ (Prawda vom 22. Juni 1924.)
In Wirklichkeit aber hätte die Revolution das Recht zu antworten gehabt: „Ich bin wohl gekommen, aber Sie, meine Herrschaften, sind zum Rendezvous zu spät erschienen.“
Die Komintern-Führung glaubte zusammen mit Brandler, dass sie die Lage „überschätzt“ hatte. In Wirklichkeit hatten sie sie viel zu gering und zu spät eingeschätzt. Sinowjew fand sich mit dieser seiner angeblichen Überschätzung ziemlich leicht ab. Die Hauptgefahr sah er in anderen Dingen.
„Die Überschätzung der Lage war nicht das Schlimmste. Viel schlimmer ist es, dass – wie es das Beispiel Sachsen gezeigt hatte – in der Partei noch zahlreiche sozialdemokratische Überbleibsel vorhanden sind.“ (Prawda vom 24. Juni 1924.)
Sinowjew sah die Katastrophe nicht, doch stand er damit nicht allein. Der gesamte 5. Weltkongress ging eigentlich mit ihm zusammen an dieser größten Niederlage der Weltrevolution vorbei. Die deutschen Ereignisse wurden dort hauptsächlich unter dem Gesichtspunkt der Politik der Kommunisten ... im sächsischen Landtag behandelt. Der Kongress billigte in seiner Resolution, dass das EKKI
„das opportunistische Vorgehen des deutschen ZK und in erster Linie die verkehrte Anwendung der Taktik der Einheitsfront durch dasselbe während des sächsischen Regierungsexperiments verurteilt hat.“ (Prawda vom 24. Juni 1924.)
Nachdem nun das „sächsische Experiment“ verurteilt und Brandler abgesetzt worden war, folgte ein einfacher Übergang zur Tagesordnung.
„Die allgemeine politische Perspektive“, spricht Sinowjew, und mit ihm der Kongress, „bleibt im Grunde dieselbe. Die Lage ist schwanger mit Revolution. Es sind bereits wieder neue Klassenkämpfe im Gange. Es geht ein gigantischer Kampf vor sich“ (Prawda vom 24. Juni 1924.)
Wie zerbrechlich und unbeständig ist solche „Linksheit“, welche jede Mücke eingehend beachtet und die Kamele übersieht. Jene aber, welche mit sehenden Augen die Situation betrachteten und die Bedeutung der Oktoberniederlage in den Vordergrund schoben, jene, welche nun auf die darauffolgende längere Periode der revolutionären Ebbe und vorübergehenden Festigung („Stabilisierung“) des Kapitalismus mit all den daraus entspringenden politischen Folgen hinwiesen, versuchte die Führung des 5. Kongresses zu Opportunisten und Liquidatoren der Revolution zu stempeln. Sinowjew und Bucharin sahen darin ihre Hauptaufgabe. Ruth Fischer, die mit ihnen gemeinsam die vorjährige Niederlage unterschätzte, sah bei der russischen Opposition den Verlust der Perspektive der Weltrevolution von, das Fehlen des Glaubens an die Nähe der deutschen und der europäischen Revolution, einen hoffnungslosen Pessimismus und die Liquidierung der europäischen Revolution usw. (Prawda vom 25. Juni 1924.) Es braucht nicht erwähnt werden, dass jene, welche die Niederlage unmittelbar verschuldet hatten, am meisten gegen die Liquidatoren, d.h. gegen jene, die die Niederlage nicht als einen Sieg bezeichnen wollten, schimpften. So wetterte Kolarow gegen Radek, der die Niederlage der bulgarischen Partei als entscheidende charakterisiert hatte:
„Die Niederlagen der Partei sind weder im Juni noch im September entscheidend gewesen. Die KP Bulgariens steht fest und bereitet sich zu neuen Kämpfen vor.“ (Rede des Gen. Kolarow auf dem 5. Kongress.)
Anstatt einer marxistischen Analyse der Niederlage – eine bürokratische Selbstbeweihräucherung auf der ganzen Linie. Eine bolschewistische Strategie ist indessen mit einem selbstzufriedenen seelenlosen Kolarowtum nicht vereinbar.
Die Arbeit des 5. Weltkongresses enthält nicht wenig, was richtig und notwendig war. So war der Kampf gegen die rechten Tendenzen, welche ihr Haupt zu erheben versuchten, unbedingt unaufschiebbar. Dieser Kampf wurde aber durch die falsche, grundsätzliche Beurteilung der Lage verwickelt und verzerrt, so dass auch jene zum Lager der Rechten gezählt wurden, die lediglich die Ereignisse von gestern, heute und morgen besser und klarer sahen. Wenn seinerzeit auf dem 3. Weltkongress die damaligen Linken gesiegt hätten, so hätte man aus denselben Gründen auch Lenin, zusammen mit Levi, Klara Zetkin und anderen, zum rechten Flügel gerechnet. Die beim 5. Kongress durch die falsche politische Orientierung entstandene Ideenverwirrung wirkte sich als eine Quelle weiterer großer Misshelligkeiten aus.
Die politische Einschätzung des Kongresses wurde ebenfalls vollständig auf das Wirtschaftsgebiet übertragen. Die bereits in Erscheinung getretenen Symptome einer wirtschaftlichen Festigung der deutschen Bourgeoisie wurden einfach abgeleugnet oder ignoriert. Varga, welcher die wirtschaftliche Lage stets so serviert, wie es die gerade herrschende politische Tendenz erfordert, referierte denn auch diesmal:
„eine Perspektive zur Gesundung des Kapitalismus gibt es nicht.“ (Prawda vom 28. Juni 1924.)
Übers Jahr aber, als die Gesundung verspätet zur „Stabilisierung“ umgetauft wurde, wurde diese, sorgsamerweise, nachträglich von Varga entdeckt. Die Opposition wurde damals bereits beschuldigt, dass sie die Stabilisierung nicht anerkennt, denn sie hatte es gewagt, den Beginn derselben bereits anderthalb Jahre früher zu konstatieren und erblickte im Jahre 1925 bereits Tendenzen, welche diese Stabilisierung untergruben. (Wohin treibt England)
Der 5. Kongress sah die politischen Vorgänge und politische Gruppierungen nur in dem schiefen Spiegel der falschen Orientierung. Diesem Umstand ist auch seine Resolution entsprungen, welche die russische Opposition als eine „kleinbürgerliche Abweichung“ bezeichnet. Die Geschichte hat diesen Fehler auf ihre Art korrigiert, indem sie Sinowjew, den Hauptankläger auf dem 5. Kongress, nach zwei Jahren gezwungen hat einzugestehen, dass der Kern der Opposition von 1923 in allen grundsätzlichen Kampffragen recht gehabt hat.
Dem strategischen Grundfehler des 5. Kongresses musste notwendigerweise auch das Nichtverstehen des innerhalb der deutschen und internationalen Sozialdemokratie vor sich gehenden Prozesses entspringen. Auf dem Kongress wird nur von einem Niedergang, Zerfall und Zusammenbruch derselben gesprochen
Sinowjew sagte unter Bezug auf die letzten Parlamentswahlen, welche für die KPD 3.700.000 Stimmen ergeben hatten, folgendes:
„Wenn wir in Deutschland auf dem Gebiet des Parlamentarismus ein Verhältnis von 62 Kommunisten zu 100 Sozialdemokraten haben, so musste das für jeden einzelnen ein Beweis dafür sein, dass wir einer Eroberung der Mehrheit der deutschen Arbeiterklasse nahe sind.“ (Prawda vom 22. Juni 1924.)
Sinowjew verstand gar nichts von der Dynamik dieses Prozesses. Der Einfluss der KP in diesen und den folgenden Jahren wuchs nicht, sondern ging dauernd zurück. Die 3.700.000 Stimmen stellten nur einen eindrucksvollen Rest jenes Einflusses dar, den die Partei gegen Ende 1923 auf die Mehrheit des deutschen Proletariats besessen hatte. Diese Zahl musste bei den nachfolgenden Abstimmungen unzweifelhaft sinken.
Die Sozialdemokratie indessen, die 1923 wie ein verfaultes Bund Stroh auseinander fiel, begann nach der Niederlage der Revolution Ende 1923 im Gegenteil sich ganz zu erholen, sich zu erheben und zu wachsen, und zwar zum großen Teil auf Kosten der Kommunisten.
Der Umstand, dass wir das vorausgesehen haben – und wie hätte man das übersehen können –, wurde uns als der Ausdruck unseres „Pessimismus“ angerechnet. MUSS man jetzt, nach den letzten Maiwahlen, bei denen die Sozialdemokraten über 9 Millionen Stimmen erhalten haben, überhaupt noch beweisen, dass wir recht hatten, als wir Anfang 1924 davon sprachen und auch schrieben, dass in einer bestimmten Periode eine Wiedergeburt der Sozialdemokratie unfehlbar kommen müsse, während die „Optimisten“ welche der Sozialdemokratie bereits die Totenmesse gelesen hatten, sich schwer geirrt haben? Vor allem hat auch der 5. Kongress der Komintern sich schwer geirrt.
Die zweite Jugend der Sozialdemokratie ist selbstverständlich nicht dauerhaft. Der Untergang der Sozialdemokratie ist unabwendbar, doch die Frist bis zu ihrem Untergang ist unbestimmt. Sie hängt auch von uns ab. Um diese Frist zu verkürzen, muss man vor allem verstehen, den Tatsachen ins Auge zu sehen, rechtzeitig den Umschwung der politischen Situation zu erkennen, die Niederlagen als solche zu bezeichnen und den morgigen Tag voraussehen zu lernen.
Wenn die deutsche Sozialdemokratie heute noch eine Kraft von vielen Millionen darstellt, die gerade aus der Arbeiterklasse stammt, so gibt es dafür zwei unmittelbare Gründe. Erstens, die Niederlage der deutschen Partei im Herbst des Jahres 1923 und zweitens die falsche strategische Orientierung des 5. Kongresses.
Wenn Anfang 1924 das Verhältnis zwischen den Kommunisten und den Sozialdemokraten bei den Wahlen fast wie 2 zu 3 war, so verschlechterte sich dieses Verhältnis nach vier Monaten so, dass es nur wenig mehr wie 1 zu 3 wurde. Also haben wir uns, im Ganzen genommen, in dieser Zeit der Eroberung der Mehrheit der Arbeiterklasse nicht genähert, sondern davon entfernt. Und das trotz einer zweifellosen Verstärkung unserer Partei im letzten Jahre, welche bei einer richtigen Politik zum Ausgangspunkt einer wirklichen Eroberung der Mehrheit werden kann und muss.
Wir werden später noch auf die politischen Folgen der Stellungnahme des 5. Kongresses zurückkommen. Doch, ist etwa nicht schon jetzt klar, dass man nicht ernstlich von einer bolschewistischen Strategie reden kann, wenn man nicht versteht, die Grundkurve unserer Epoche, sowohl im Ganzen wie auch während einzelner Windungen, die in den einzelnen Momenten für die Parteiführung dieselbe Bedeutung besitzen, wie die Bahnkurven für den Lokomotivführer, zu erfassen? Bei einer jähen Kurve Volldampf zu geben, bedeutet unbedingt, dass man die Böschung hinunterstürzt.
Indessen ist es erst einige Monate her, dass die Prawda mit mehr oder minder großer Deutlichkeit die Richtigkeit jener Bewertung, die ich bereits gegen Ende des Jahres 1923 gegeben habe, anerkennen musste. Am 28. Januar 1928 schrieb die Prawda:
„Die Welle einer gewissen Apathie und Bedrücktheit, welche nach der Niederlage des Jahres 1923 eingetreten ist und dem deutschen Kapital gestattet hat, seine Position zu festigen, beginnt vorüberzugehen.“
Also die „gewisse“ Bedrücktheit, die bereits seit Herbst 1923 herrschte, beginnt erst im Jahre 1928 vorüberzugehen. Diese Worte, welche mit einer Verspätung von vier Jahren auf die Welt gekommen sind, bilden eine unbehilfliche Verurteilung der falschen Orientierung, die vom 5. Kongress gegeben wurde, gleichzeitig aber auch jenes Systems der Führung, welches die begangenen Fehler nicht aufdeckt und untersucht, sondern verschleiert, und so den ideologischen Wirrwarr nur noch vergrößert. Ein Programmentwurf, welcher keine Bewertung der Ereignisse des Jahres 1923 und des Grundfehlers des 5. Kongresses bringt, dreht damit den wirklichen Fragen einer revolutionären Strategie des Proletariats in der imperialistischen Epoche einfach den Rücken zu.
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Zuletzt aktualisiert am 22.7.2008