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Erster Teil:
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8. Der Widerspruch zwischen den Produktivkräften und den nationalen Rahmen als Ursprung für die reaktionäre, utopische Theorie des „Sozialismus in einem Lande“ |
Wie wir gesehen haben, ruht die ganze Begründung der Theorie des Sozialismus in einem Lande lediglich auf einigen sophistisch ausgelegten Worten Lenins einerseits und einer scholastischen Auslegung des „Gesetzes der ungleichmäßigen Entwicklung“ andererseits.
Bei einer richtigen Auslegung sowohl dieses Gesetzes wie der Zitate müssen wir zu einer direkt entgegengesetzten Schlussfolgerung gelangen. Diese Schlussfolgerung hatte auch Marx, Engels, Lenin, Stalin und Bucharin bis zum Jahre 1923 gezogen. Die ungleichmäßige, sprunghafte Entwicklung des Kapitalismus bedingt zugleich den ungleichmäßigen, sprunghaften Charakter der sozialistischen Revolution, die überall zu verschiedenen Zeiten ausbricht. Die bis zur Höchstspannung gestiegene gegenseitige Abhängigkeit der verschiedenen Länder bedingt die Unmöglichkeit, den Sozialismus in einem Lande aufzubauen. Wir werden jetzt unter diesem Gesichtswinkel uns das Programm noch etwas näher ansehen. In der Einleitung haben wir gelesen, dass:
„der Imperialismus ... den Widerspruch zwischen dem Wachstum der Produktivkräfte der Weltwirtschaft und den ihre Entwicklung hemmenden nationalen Schranken bis zur Höchstspannung verschärft ...“
Wir haben bereits gesagt, dass dieser Satz den Eckstein eines internationalen Programms bildet, d.h. bilden sollte. Doch gerade diese Feststellung verneint und schließt von vornherein die Theorie des Sozialismus in einem Lande aus. Denn diese Theorie ist reaktionär und steht in stetem Widerspruch nicht nur zu der Grundtendenz der Entwicklung der Produktivkräfte, sondern auch zu denjenigen materiellen Errungenschaften, welche diese Entwicklung bereits gebracht hatte. Produktivkräfte sind mit dem nationalen Rahmen nicht vereinbar. Daraus geht hervor, nicht nur der Außenhandel, Export von Maschinen und Kapital, Gebietseroberungen, Kolonialpolitik, der letzte imperialistische Krieg, sondern auch die wirtschaftliche Unmöglichkeit einer selbsttätigen sozialistischen Gesellschaft. Die Produktivkräfte des kapitalistischen Staates sind schon längst über den nationalen Staatsrahmen hinausgewachsen. Eine sozialistische Gesellschaft lässt sich aber nur aufbauen mit Hilfe der fortgeschrittensten Produktionsfaktoren, wie die Elektrifizierung und Chemisierung des Produktionsprozesses einschließlich der Landwirtschaft und überhaupt die Zusammenfassung, Verbreitung und Verstärkung der höchsten Elemente der gegenwärtigen Technik. Wir hatten seit Marx ständig wiederholt, dass der Kapitalismus unfähig ist, den von ihm her neuen Geist der Technik zu bändigen.
Dieser zerstört nicht nur die reinen Rechtsgrenzen des bürgerlichen Eigentums, sondern, wie es der Krieg von 1914 uns gezeigt hat, auch die nationalen Grenzen des bürgerlichen Staates. Der Sozialismus soll nicht allein die vom Kapitalismus entwickelten Produktivkräfte übernehmen, sondern diese auch sofort über die kapitalistische Entwicklung weiter und höher hinaus- und hinaufführen. Wie soll nun aber der Sozialismus die Produktivkräfte wieder in den Rahmen des nationalen Staates zurückdrängen, welchen diese schon unter dem Kapitalismus längst gesprengt hatten? Oder sollten wir etwa auf diese ungebändigten Produktivkräfte verzichten, denen es in dem Rahmen des nationalen Staates, also auch im Rahmen der Theorie des Sozialismus in einem Lande zu eng ist, und uns nur auf gezähmte, sozusagen Haus-Produktivkräfte, also auf die Technik der wirtschaftlichen Rückständigkeit beschränken? Dann müssten wir aber nicht vorwärtsgehen, sondern rückwärts. Selbst noch unter unser armseliges gegenwärtiges technisches Niveau, welches bereits das bürgerliche Russland mit der Weltwirtschaft verbunden und zu dessen Beteiligung an dem imperialistischen Kriege geführt hatte.
Nachdem der Arbeiterstaat diese Produktivkräfte übernommen und wiederhergestellt hat, ist er gezwungen zu exportieren und zu importieren.
Leider setzt der Programmentwurf die These von der Unvereinbarkeit der gegenwärtigen kapitalistischen Technik mit dem nationalen Rahmen nur rein mechanisch in seinen Text hinein. Gleich weiter wird dort aber so gesprochen, als ob von dieser Unvereinbarkeit noch nie die Rede war. Richtig genommen bildet der ganze Entwurf lediglich eine Kombination von fertigen revolutionären Thesen von Marx und Lenin und von opportunistischen und zentristischen Folgerungen daraus, die sich mit den revolutionären Thesen gar nicht vereinbaren lassen. Gerade darum ist es notwendig, sich nicht von den einzelnen revolutionären Formulierungen dieses Entwurfes bestechen zu lassen, sondern erst sorgfältig zu prüfen, wohin die Grundtendenzen desselben führen. Wir erwähnten bereits die Stelle im ersten Kapitel, wo von der „Möglichkeit des Sieges“ des Sozialismus in einem einzelnen kapitalistischen Lande gesprochen wird. Noch schärfer und krasser wird dieser Gedanke im 4. Kapitel ausgedrückt. Dort heißt es: „Die Diktatur des Weltproletariats kann jedoch nur auf dem Wege eines Sieges des Sozialismus in einzelnen Ländern verwirklicht werden, ... wenn sich die neu entstandenen proletarischen Republiken mit den bereits bestehenden ... zu einer Föderation vereinigen werden.“ Wenn unter dem „Sieg des Sozialismus“ nur ein anderer Ausdruck für die Diktatur des Proletariats zu verstehen wäre, dann wäre das eine unbestreitbare richtige Feststellung, die man nur hätte weniger zweideutig ausdrücken sollen. Doch die Verfasser meinen etwas anderes. Unter dem Sieg des Sozialismus verstehen sie nicht die Eroberung der Macht und die Verstaatlichung der Produktionsmittel, sondern den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft in einem Lande. Wenn man diese Auslegung annehmen würde, so würden wir keine sozialistische Weltwirtschaft bekommen, die auf dem Prinzip der internationalen Arbeitsteilung bestehen würde, sondern eine Föderation von selbständigen sozialistischen Gemeinden im Sinne des Anarchismus seligen Angedenkens, nur dass hier die Gemeinden zur Größe der gegenwärtigen nationalen Staaten erweitert werden. In seinem Bestreben, die neue Stellungnahme eklektisch durch alte gewohnte Formeln zu verdecken, nimmt der Programmentwurf zur folgenden These Zuflucht:
„Erst auf den endgültigen Weltsieg des Proletariats und die Befestigung seiner Weltmacht wird eine längere Periode rastlosen Aufbaues der sozialistischen Wirtschaft folgen.“ (Kapitel 4.)
Anstatt aber die theoretische Begründung zu liefern, deckt dieser Satz den ganzen grundsätzlichen Widerspruch auf. Wenn man ihn so verstehen würde, dass die wirkliche Periode des sozialistischen Aufbaus erst nach dem erfolgten Siege des Proletariats mindestens in einigen fortgeschrittenen Ländern beginnen könne, dann würde das einfach den Verzicht auf die Theorie des Aufbaus des Sozialismus in einem Lande und den Übergang zur Auffassung von Marx und Lenin bedeuten. Wenn man aber von der neuen Theorie Stalin-Bucharins, die sich in dem Programmentwurf überall eingenistet hat, ausgehen würde, so würde man folgendes Bild bekommen. Vor dem völligen internationalen Sieg des Proletariats wird in einer ganzen Reihe von Ländern bereits der sozialistische Aufbau vollständig durchgeführt. Und erst später wird aus diesen sozialistischen Ländern die sozialistische Weltwirtschaft aufgebaut, ungefähr so, wie die Kinder aus fertigen Bauklötzen Häuser zu bauen pflegen.
In Wirklichkeit wird sich die sozialistische Weltwirtschaft niemals aus einer Summe von nationalen sozialistischen Wirtschaftssystemen zusammensetzen. Sie kann nur in ihren Grundzügen auf dem Prinzip der internationalen Arbeitsteilung entstehen, die bereits von der vorangehenden kapitalistischen Entwicklung geschaffen wurde. Die Grundzüge der sozialistischen Weltwirtschaft werden im Sturm und Gewitter der proletarischen Revolution gebaut und geschaffen werden und nicht nach einem „vollständigen Aufbau des Sozialismus“ in einer ganzen Reihe einzelner Länder. Die wirtschaftlichen Erfolge der ersten Länder der proletarischen Diktatur werden nicht nach dem Grade der Annäherung derselben an einen „selbsttätigen vollständigen Sozialismus“ gemessen werden, sondern nach dem Grade der politischen Festigkeit der Diktatur selbst und der erfolgreichen Vorbereitung der Elemente der zukünftigen sozialistischen Weltwirtschaft. Deutlicher und darum, wenn es noch möglich wäre, gröber wird der revisionistische Gedanke in dem 5. Kapitel ausgedrückt. Die Verfasser des Entwurfs behaupten dort, indem sie sich hinter die verzerrt wiedergegebenen 1½ Zeilen eines nachgelassenen Artikels Lenins verstecken, dass die UdSSR, „im Lande genügend die notwendigen Mittel besitzt, die nicht nur die materielle Voraussetzung für den Sturz der Gutsbesitzer und der Bourgeoisie, sondern auch für den Aufbau des vollständigen Sozialismus bilden“.
Durch welche Umstände sind uns nun ausnahmsweise solche historischen Vorzüge zuteil geworden? Darüber können wir in dem 2. Kapitel des Programms nachlesen:
„Die imperialistische Front wurde an ihrer schwächsten Stelle, im zaristischen Russland, durchbrochen.“ (hervorgehoben von mir.– L.T.)
Das ist eine wundervolle Leninsche Formulierung. Das wesentliche darin ist, dass Russland der rückständigste und wirtschaftlich schwächste imperialistische Staat war. Gerade darum musste die herrschende Klasse desselben, welche die ungenügenden Produktivkräfte des Landes übermäßig belastet hatte, zu allererst Schiffbruch erleiden. Die ungleichmäßige, sprunghafte Entwicklung hat somit das Proletariat des rückständigsten imperialistischen Landes zuerst gezwungen, die Macht zu ergreifen. Früher hatten wir gelernt, dass gerade aus diesem Grunde die Arbeiterklasse, „des schwächsten Kettengliedes“ im Vergleich zu dem Proletariat der fortgeschrittenen Länder, mehr Schwierigkeiten auf seinem Wege zum sozialistischen Aufbau zu überwinden haben wird. Das letztere wird es zwar schwerer haben, die Macht zu erobern, doch nachdem es diese, lange bevor wir unsere Rückständigkeit überwunden haben, erobert haben wird, wird es uns nicht nur überflügeln, sondern auch ins Schlepptau nehmen, um uns so zum wirklichen sozialistischen Aufbau auf der Grundlage der höher entwickelten internationalen Technik und der internationalen Arbeitsteilung heranzuziehen. Das war die Vorstellung, mit der wir in die Oktoberrevolution hineingingen und welche die Partei Hunderte und Tausende Male in der Presse und in den Versammlungen ausgesprochen hatte. Und nun versucht man seit 1925 diese Vorstellung durch eine direkt entgegengesetzte zu ersetzen. Jetzt stellt sich heraus, dass das schwächste Kettenglied, das zaristische Russland, seinem Erben, dem Proletariat der UdSSR zugleich mit seiner Schwäche einen unschätzbaren Vorzug vererbt hat, und zwar nicht mehr und nicht weniger als das Vorhandensein sämtlicher eigener nationaler Voraussetzungen, die für den vollständigen Aufbau des Sozialismus notwendig sind.
Das arme England besitzt diesen Vorzug nicht, denn für seine übermäßig entwickelten Produktivkräfte ist zur Beschaffung des Rohmaterials und für den Absatz seiner Erzeugnisse beinahe die ganze Welt erforderlich. Wenn die Produktivkräfte in England etwas mäßiger wären und mehr Gleichgewicht zwischen Industrie und Landwirtschaft bewahren würden, dann könnte offenbar das englische Proletariat ebenfalls auf seiner „einsamen“ Insel, das durch die Flotte vor ausländischen Interventionen geschützt wäre, den vollständigen Sozialismus aufbauen.
Im vierten Kapitel des Programmentwurfs werden die kapitalistischen Länder in drei Gruppen eingeteilt: 1. die hochentwickelten kapitalistischen Länder (Vereinigte Staaten, England, Deutschland usw.), 2. Länder auf der mittleren Stufe der kapitalistischen Entwicklung (Russland vor 1917, Polen usw.), 3. die kolonialen und halbkolonialen Länder (China, Indien usw.). Obwohl Russland vor 1917 eigentlich dem heutigen China näher als den heutigen Vereinigten Staaten stand, wäre im allgemeinen gegen diese Einteilung nichts einzuwenden gewesen, wenn sie nicht wieder zu einer Quelle für falsche Folgerungen gemacht worden wäre. Da die Länder auf der mittleren Stufe der kapitalistischen Entwicklung im Entwurf als im Besitz von „genügendem Minimum an Industrie für einen selbständigen sozialistischen Aufbau“ bezeichnet werden und das erst recht von den Ländern mit dem Hochkapitalismus gilt, so bedürfen also einer Hilfe von außen nur die kolonialen und halbkolonialen Länder. Das gerade wird als eine Eigenschaft dieser Länder in einem anderen Kapitel des Entwurfs hervorgehoben.
Allein, wenn wir an die Frage des sozialistischen Aufbaus nur mit diesem Kriterium herantreten werden, ohne all die anderen Bedingungen zu beachten, wie den natürlichen Reichtum des Landes, das Verhältnis zwischen der Industrie und der Landwirtschaft desselben, dessen Stellung in dem System der Weltwirtschaft, so werden wir unfehlbar in neue, nicht weniger große Fehler und Widersprüche verfallen. Wir hatten vorhin England erwähnt, das zweifellos ein Land mit hochkapitalistischer Entwicklung ist. Doch gerade deshalb hat es gar keine Aussicht auf einen siegreichen Aufbau des Sozialismus im Rahmen seiner Inselgrenzen. Eine Blockade würde England ganz einfach in wenigen Wochen abwürgen.
Gewiss bieten höher entwickelte Produktivkräfte unter sonst gleichen Bedingungen einen großen Vorteil für den Aufbau des Sozialismus. Sie verleihen der Wirtschaft eine außerordentliche Elastizität sogar in dem Falle, wo diese durch einen Blockadering zusammengepresst wird. Das hat uns das Beispiel des bürgerlichen Deutschlands während des Krieges bewiesen. Doch ein Aufbau des Sozialismus im nationalen Rahmen würde für diese fortgeschrittenen Länder ein Herabsetzen und Beschneiden ihrer Produktivkräfte bedeuten, was den Aufgaben des Sozialismus direkt entgegengesetzt ist. Der Programmentwurf vergisst dabei die Grundthese von der Unvereinbarkeit der gegenwärtigen Produktivkräfte mit dem nationalen Rahmen. Aus dieser These folgt, dass die hochentwickelten Produktivkräfte genau so ein Hindernis für den sozialistischen Aufbau in einem Lande bedeuten wie die gering entwickelten, wenn auch anders herum. Denn wenn für die letzteren ihre Basis ungenügend ist, so reicht für die ersteren die Basis nicht aus. Das Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung wird gerade dort vergessen, wo seine Anwendung am nötigsten erscheint. Die Frage des sozialistischen Aufbaus wird eben nicht durch die „Reife“ oder „Unreife“ der Industrie eines Landes allein gelöst. Die Unreife selbst ist auch schon ungleichmäßig. Während in der UdSSR, z.B. einige Industriezweige (vor allem der Maschinenbau) nicht einmal zur Befriedigung der elementarsten Bedürfnisse ausreichen, können wieder andere Zweige unter den gegenwärtigen Bedingungen sich gar nicht weiterentwickeln, da sie eines umfassenden, wachsenden Exports bedürfen. Das betrifft vor allem den Holzhandel, Rauchwarenhandel, Handel mit Erdöl und Manganerzen, gar nicht zu sprechen von dem Handel mit den landwirtschaftlichen Erzeugnissen. Andererseits können sich auch die „unzureichenden“ Zweige nicht weiterentwickeln, falls man die Erzeugnisse der „überschüssigen“ Zweige (bedingt gesprochen) nicht ausführen kann. Die Unmöglichkeit des Aufbaus einer isolierten sozialistischen Gesellschaft (nicht in einer Utopie natürlich oder im sagenhaften Atlantis, sondern unter den historischen und geographischen Bedingungen unserer Erdenwirtschaft) wird somit für verschiedene Länder auf verschiedene Weise bestimmt. Es kann sowohl von einer „zu starken“ Entwicklung eines Teils der Industriezweige, wie von einer ungenügenden Entwicklung der anderen abhängen. Zusammengenommen bedeutet das, dass die gegenwärtigen Produktivkräfte mit dem nationalen Rahmen unvereinbar sind.
„Was ist eigentlich der imperialistische Krieg gewesen? Nichts anderes als ein Aufstand der Produktivkräfte nicht nur gegen die bürgerlichen Formen des Eigentums, sondern auch gegen die engen Rahmen der kapitalistischen Staaten. Der imperialistische Krieg war ein Ausdruck des Umstandes, dass es den Produktivkräften unerträglich eng geworden war innerhalb der nationalen Staatengrenzen. Wir haben stets behauptet, dass der Kapitalismus nicht imstande ist, die von ihm entwickelten Produktivkräfte zu regieren, und dass es nur der Sozialismus vermag, diese Kräfte, welche über die Rahmen der kapitalistischen Staaten hinausgewachsen sind, zu einem höheren Wirtschaftsganzen zusammenzufügen. Zu einem isolierten Staat zurück aber führt kein Weg mehr.“ (Stenogr. Bericht des 7. EKKI-Plenums, Die Rede von Trotzki, S.100.)
In seinem Bestreben, die Theorie des Sozialismus in einem Lande aufzunehmen, macht der Entwurf doppelte, dreifache und vierfache Fehler. Er überschätzt das Niveau der Produktivkräfte der UdSSR. Er schließt die Augen vor dem Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung der verschiedenen Industriezweige. Er übersieht die internationale Arbeitsteilung. Und er verneint endlich den in der imperialistischen Epoche herrschenden Widerspruch zwischen Produktivkräften und staatlichen Grenzen.
Damit wir kein Argument übersehen, werden wir hier noch eine mehr allgemeine Betrachtung Bucharins zur Verteidigung seiner neuen Theorie anführen:
„Das Verhältnis zwischen dem Proletariat und dem Bauerntum im internationalen Maßstabe“, spricht Bucharin, „ist nicht günstiger als in der UdSSR. Also, wenn man den Sozialismus wegen der Rückständigkeit in der UdSSR, nicht aufbauen könnte, so könnte man es ebenso wenig im weltwirtschaftlichen Maßstab tun.“
Dieses Argument sollte man in sämtliche Lehrbücher der Dialektik als ein klassisches Beispiel des scholastischen Denkens aufnehmen.
Es ist natürlich sehr wahrscheinlich, dass sich das Kräfteverhältnis zwischen Proletariat und Bauerntum im Weltmaßstab nicht wesentlich von dem in der UdSSR .unterscheidet. Doch die Weltrevolution wird ebenso wenig wie die nationale Revolution nach der Methode einer mathematischen Verhältnisrechnung vor sich gehen.
So ist der Oktoberumsturz zuerst in dem proletarischen Petrograd vor sich gegangen, und er hat sich erst dort befestigt und nicht etwa in einem Bezirk, in welchem das Verhältnis zwischen Arbeiterschaft und Bauerntum dem mittleren Durchschnitt für ganz Russland entspricht. Nachdem Petrograd und später auch Moskau die revolutionäre Gewalt und revolutionäre Armee geschaffen hatten, mussten sie erst im Laufe von mehreren Jahren die Macht der Bourgeoisie an den Grenzen des Landes brechen. Das gegenwärtige Verhältnis zwischen Proletariat und dem Bauerntum innerhalb der Grenzen der Sowjetunion ist erst das Ergebnis dieses Prozesses, den man Revolution nennt. Die Revolution geht nämlich nicht nach der Methode der mathematischen Verhältnisrechnung vor sich. Sie kann auch in einem weniger günstigen Lande beginnen. Doch solange sie sich noch nicht in den entscheidenden Teilen, sowohl der nationalen wie der internationalen Front befestigt hat, kann von einem endgültigen Sieg keine Rede sein. Zweitens ist das Verhältnis zwischen dem Proletariat und dem Bauerntum bei einem „Durchschnittsniveau“ der Technik nicht der einzige entscheidende Faktor für dieses Problem. Es existiert außerdem noch der Klassenkampf zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie. Die UdSSR ist nicht von einer Arbeiter- und Bauernwelt, sondern von einer kapitalistischen Welt umgeben. Gewiss, wenn die Bourgeoisie bereits in der ganzen Welt erledigt wäre, so würde das an sich weder das Verhältnis zwischen dem Proletariat und dem Bauerntum noch das Durchschnittsniveau der Technik in der UdSSR und in der ganzen Welt ändern. Nichtsdestoweniger würde das ganz andere Möglichkeiten und ganz andere Ansätze für den Aufbau des Sozialismus in der UdSSR ergeben, die mit den jetzigen gar nicht zu vergleichen sind.
Drittens, wenn die Produktivkräfte in allen fortgeschrittenen Ländern in verschiedenen Maßen die nationalen Grenzen überschritten hätten, so würde daraus nach Bucharin folgen, dass die Produktivkräfte aller Länder zusammen die Grenzen des Erdballs überschritten hätten, so dass man den Sozialismus nur noch in dem Maßstab des Sonnensystems aufbauen könnte. Wir wiederholen, dass der Bucharinsche Beweis über das mittlere Durchschnittsverhältnis zwischen dem Bauerntum und dem Proletariat in die Lehrbücher für politische Anfänger aufgenommen werden muss. Doch darf er natürlich nicht, wie gegenwärtig, zur Verteidigung der Theorie des Sozialismus in einem Lande eingeführt werden, sondern als ein Beweis dafür, dass die scholastische Chaotik mit der marxistischen Dialektik völlig unvereinbar ist.
Die neue Lehre lautet: Der Sozialismus kann auf dem Boden eines nationalen Staates aufgebaut werden, wenn nur nicht eine Intervention dazwischenkommt. Daraus kann und muss trotz aller feierlichen Versicherungen in dem Programm unbedingt eine Verständigungspolitik gegenüber der ausländischen Bourgeoisie entspringen. Das Ziel ist die Umgehung einer Intervention, denn dadurch wird ja der Aufbau des Sozialismus gesichert, d.h. also eine historische Grundfrage gelöst. Die Aufgaben der Parteien der Komintern bekommen dadurch lediglich einen Hilfscharakter. Sie sollen die UdSSR vor einer Intervention schützen und nicht etwa für die Eroberung der Macht kämpfen. Es handelt sich hierbei natürlich nicht um subjektive Absichten, sondern um die objektive Logik des politischen Gedankens.
„Die Meinungsverschiedenheit besteht hier darin,“ spricht Stalin, „dass die Partei es für möglich hält, diese inneren Widersprüche und möglichen Konflikte voll und ganz aus der eigenen Kraft unserer Revolution heraus zu überwinden, während der Gen. Trotzki und die Opposition meinen, dass diese Widersprüche und Konflikte nur ‚im internationalen Maßstab in der Arena der internationalen proletarischen Revolution‘ gelöst werden können.“ (Prawda Nr. 262, vom 12. November 1926.)
Richtig, die Meinungsverschiedenheit besteht gerade darin. Besser und genauer könnte man den Widerspruch zwischen dem Nationalreformismus und dem revolutionären Internationalismus gar nicht aufzeichnen. Wenn man diese unsere inneren Schwierigkeiten, Widerstände und Widersprüche, die im Grunde den Spiegel der internationalen Widersprüche bilden, mit den „eigenen Kräften unserer Revolution allein“ lösen kann, ohne „dass man in die Arena der Internationalen Revolution steigt“, so ist also die Internationale zum Teil lediglich eine Hilfsorganisation und zum Teil eine Prunkorganisation, deren Kongresse sich alle vier oder zehn Jahre oder auch überhaupt nicht zu versammeln brauchen. Selbst wenn man betont, dass das ausländische Proletariat unseren Aufbau vor einer militärischen Intervention bewahren soll, so spielt die Internationale nach diesem Schema lediglich die Rolle eines pazifistischen Instruments. Ihre Hauptaufgabe, die Waffe der internationalen Revolution zu sein, tritt dabei unabwendbar in den Hintergrund. Und das alles – wir wiederholen: es – geschieht nicht mit irgendwelcher bewusster Absicht –, denn, im Gegenteil, eine ganze Reihe von Stellen im Programm zeugen von den besten Absichten ihrer Verfasser –, sondern als Folge der inneren Logik der neuen Theorie. Und das ist noch tausendmal gefährlicher, als auch die schlechtesten subjektiven Absichten es sein könnten. Hat doch Stalin bereits auf dem 7. Plenum folgende Gedanken entwickelt und zu beweisen versucht:
„Unsere Partei hat nicht das Recht, die Arbeiterklasse zu belügen (!). Sie muss geradeheraus sagen, dass ein Fehlen der Überzeugung (!), dass ein Aufbau des Sozialismus in unserem Lande möglich sei, unfehlbar zu einem Abtreten von der Macht und zum Übergang unserer Partei in die Opposition führen müsste.“ (Sten. Bericht, Band 2, S.10. Hervorhebung von mir – L.T.)
Das bedeutet also, dass man nur das Recht hat, auf die mageren Hilfsmittel der nationalen Wirtschaft zu hoffen, und nicht mit den unerschöpflichen Hilfsmitteln des internationalen Proletariats rechnen darf. Und wenn man nicht ohne die Weltrevolution auskommt, muss man also die Macht wieder fahren lassen, jene Macht, die wir im Oktober für die internationale Revolution erobert haben. Da sieht man wieder, bis zu welchem ideologischen Sündenfall man kommen kann, wenn man von einer grundfalschen Auffassung ausgeht.
Das Programm spricht einen unbestreitbar richtigen Gedanken aus, wenn es sagt, dass die wirtschaftlichen Erfolge der UdSSR einen unabtrennbaren Teil der internationalen Revolution bilden. Doch die politische Gefahr der neuen Theorie besteht in der falschen vergleichenden Bewertung der beiden Hebel des internationalen Sozialismus: des Hebels unserer wirtschaftlichen Errungenschaften und des Hebels der internationalen proletarischen Revolution. Ohne eine siegreiche internationale proletarische Revolution werden wir niemals den Sozialismus aufbauen können. Das müssen die europäischen Arbeiter und die Arbeiter der ganzen Welt klar begreifen. Gewiss hat der Hebel des wirtschaftlichen Aufbaus eine ungeheure Bedeutung. Bei einer falschen Leitung desselben würde die Diktatur des Proletariats geschwächt werden. Der Fall der Diktatur würde aber für die internationale Revolution einen solchen Schlag bedeuten, von dem sie sich im Laufe einer langen Reihe von Jahren nicht erholen würde. Allein die Entscheidung des grundsätzlichen historischen Streites zwischen der sozialistischen und kapitalistischen Welt hängt von dem zweiten Hebel ab, d.h. also von der internationalen proletarischen Revolution. Die kolossale Bedeutung der S9wjetunion liegt darin, dass sie den Stützpunkt der Weltrevolution bildet, ganz unabhängig davon, ob sie imstande sein wird, den Sozialismus aufzubauen oder nicht. Bucharin hatte uns mehrfach im Tone größter Überlegenheit, die durch nichts begründet war, gefragt:
„Wenn in der Sache des Aufbaus des Sozialismus die Voraussetzungen, Ausgangspunkte, eine genügende Basis und sogar gewisse Erfolge vorhanden sind, wo liegt dann also jene Grenze, von der ab sich alles ins ‚Gegenteil‘ kehrt? Eine solche Grenze gibt es nicht.“ (Sten. Bericht des 7. EKKI-Plenums, S.116.}
Das ist eine schlechte Geometrie und nicht eine historische Dialektik. Eine solche „Grenze“ ist möglich. Es kann mehrere solche Grenzen geben, sowohl innere wie internationale, politische, wirtschaftliche und militärische. Die wichtigste und bedrohlichste „Grenze“ würde eine lange ernsthafte Befestigung des internationalen Kapitalismus und dessen neuer Aufstieg sein. Diese Frage führt uns also wirtschaftlich und politisch in die Weltarena. Kann die Bourgeoisie sich eine neue Epoche des kapitalistischen Aufbaus sichern? Diese Möglichkeit von Grund aus verneinen und nur auf die „ausweglose“ Lage des Kapitalismus hoffen, würde einfach eine revolutionäre Phrasendrescherei sein. „Es gibt keine absolut ausweglose Lage“ (Lenin). Doch die gegenwärtige labile Klassenlage in den Ländern Europas kann gerade deshalb, weil sie labil ist, nicht von allzu langer Dauer sein.
Wenn Stalin und Bucharin beweisen wollen, dass die UdSSR auch ohne die „staatliche Hilfe des ausländischen Proletariats“, d.h. also ohne dessen Siege über die Bourgeoisie, auskommen kann, denn die gegenwärtige aktive Sympathie der Arbeitermassen schützt uns vor der Intervention, so ist das genau dieselbe Blindheit, wie überhaupt die gesamten Folgerungen ihres Grundfehlers. Gewiss ist es unbestreitbar, dass die Sympathie der Arbeitermassen die Sowjetrepublik vor einer Intervention gerettet hat, nachdem die Sozialdemokratie den Nachkriegsaufstand des europäischen Proletariats gegen die Bourgeoisie abgewürgt hatte. Die europäische Bourgeoisie war in diesen Jahren außerstande, gegen den Arbeiterstaat einen großen Krieg zu beginnen. Doch nun zu glauben, dass ein solches Kräfteverhältnis durch viele Jahre hindurch anhalten könne, z.B. bis zu dem Aufbau des Sozialismus in der UdSSR, das würde die größte Kurzsichtigkeit bedeuten Genau so, als wenn man eine Kurve nach einem ganz kleinen Teil derselben bestimmen wollte. Eine solch labile Lage, wo das Proletariat die Macht noch nicht in die Hand nehmen kann und die Bourgeoisie sich nicht mehr als starker Herr im Hause fühlt, muss sich früher oder später jäh entscheiden, entweder nach der einen, oder anderen Seite. Entweder nach der Seite der Diktatur des Proletariats oder nach der Seite einer ernsten langjährigen Befestigung der Bourgeoisie auf dem Rücken der Volksmassen, auf den Knochen der Kolonialvölker und ... wer weiß, ob nicht auch auf unseren Knochen. „Es gibt keine absolut ausweglose Lage.“ Einen dauernden Ausweg aus den schweren Widersprüchen kann die europäische Bourgeoisie nur auf dem Wege der Niederlage des Proletariats und der Fehler der revolutionären Führung finden. Aber auch die umgekehrte Lage ist richtig. Es wird nur dann keinen neuen Aufstieg des internationalen Kapitalismus geben (selbstverständlich mit einer neuen Epoche großer Erschütterungen), wenn das Proletariat es verstehen wird, den Ausweg aus dem gegenwärtigen labilen Gleichgewicht zur Revolution zu finden.
„Wir müssen jetzt durch die Praxis der revolutionären Parteien beweisen,“ sagte Lenin am 19. Juli 1920 auf dem 2. Kongress, „dass sie genügend Bewusstheit, Organisiertheit, Verbindung mit den ausgebeuteten Massen Entschlossenheit und Fähigkeit besitzen, um diese Krise für eine erfolgreiche, für eine siegreicne Revolution auszunutzen.“ (Lenin, Referat über die internationale Lage und die Hauptaufgaben der Kommunistischen Internationale, 19. Juli 1920, Lenin, Werke, Band 31, S.203-222, hier S.215)
Unsere inneren Widersprüche, die unmittelbar von dem Gang des europäischen und des internationalen Kampfes abhängen, können bei einer richtigen inneren Politik, welche auf einer marxistischen Analyse und Perspektive begründet ist, verständig reguliert und abgeschwächt werden. Doch beseitigt können diese Gegensätze nur zusammen mit der Beseitigung der Klassengegensätze überhaupt werden. Wovon natürlich vor einer siegreichen europäischen Revolution nicht die Rede sein kann. Stalin hat recht. Die Meinungsverschiedenheit besteht gerade darin – und das ist eine grundsätzliche Meinungsverschiedenheit-, nämlich zwischen dem nationalen Reformismus und dem revolutionären Internationalismus.
Die Theorie des Sozialismus in einem Lande muss unabwendbar zu einer Unterschätzung der Schwierigkeiten, die man überwinden muss, und zu einer Übertreibung der erreichten Erfolge führen. Man könnte wirklich keine andere Behauptung finden, die mehr antisozialistisch und konterrevolutionär wäre wie die Erklärung Stalins, dass der Sozialismus bei uns bereits zu neun Zehnteln verwirklicht sei, war speziell auf den selbstzufriedenen Bürokraten berechnet. Auf diese Weise kann man die Idee der sozialistischen Gesellschaft in den Augen der arbeitenden Massen nur hoffnungslos kompromittieren. Die Erfolge des Sowjetproletariats sind grandios, besonders wenn man die Bedingungen Betracht zieht, unter welchen diese Erfolge errungen worden sind, und wenn man an das vererbte frühere, niedere Kulturniveau denkt. Doch alle diese Errungenschaften bilden eine recht kleine Größe auf der Waage des sozialistischen Ideals. Damit der Arbeiter, Landarbeiter oder der arme Bauer, der im elften Jahre nach der Revolution um sich herum nichts als Armut, Arbeitslosigkeit, lange Brotschlangen, Analphabetentum, verwahrloste Kinder, Trunkenheit und Prostitution sieht, nicht die Hände sinken lässt, braucht man die harte Wahrheit und keine aufgeputzte Lüge. Anstatt dass man ihnen vorlügt, dass wir den Sozialismus bereits zu neun Zehnteln verwirklicht haben, müsste man ihnen sagen, dass wir gegenwärtig nach unserem Wirtschaftsniveau und nach unseren Daseins- und Kulturbedingungen noch viel näher zu einer kapitalistischen, dabei noch rückständigen und unzivilisierten Gesellschaft stehen, als zu einer sozialistischen Gesellschaft. Wir müssen ihnen sagen, dass wir nur dann auf den. Weg eines wirklichen sozialistischen Aufbaus gelangen werden, wenn das Proletariat in den fortgeschritteneren Ländern die Macht ergreifen wird, und dass wir, ohne die Hände in den Schoß zu legen, unermüdlich daran arbeiten müssen. Und zwar müssen wir dabei mit zwei Hebeln arbeiten: sowohl mit dem kurzen Hebel unserer inneren wirtschaftlichen Anstrengungen, wie mit dem langen Hebel des internationalen Kampfes des Proletariats.
Mit einem Worte, wir müssen ihnen anstatt der Stalinschen Behauptung von dem zu neun Zehnteln verwirklichten Sozialismus die Worte Lenins sagen:
„Russland [das Land der Armut] wird das [ein reiches Land] werden, wenn es allen Kleinmut und alle Phrasen abstreift, wenn es die Zähne zusammenbeißt, alle seine Kräfte ballt, wenn es jeden Nerv anstrengt, jeden Muskel anspannt wird, wenn es begreift, dass die Rettung nur auf dem Wege einer internationalen sozialistischen Revolution möglich ist, den wir bereits beschriften haben.“ (Lenin, Die Hauptaufgabe unserer Tage, 11. März 1918, Lenin, Werke, Band 27, S.146-151, hier S.148)
Man kann oft von hervorragenden Mitarbeitern der Komintern die Begründung hören: Die Theorie des Sozialismus in einem Lande ist selbstverständlich unhaltbar, aber sie gibt den russischen Arbeitern unter den schweren Bedingungen eine Perspektive, welche sie ermuntert. Es ist schwer die Tiefe des theoretischen Niedergangs jener zu ermessen, die durch das Programm nicht eine wissenschaftlich begründete, klassenmäßige Orientierung erreichen wollen, sondern nur eine moralische Vertröstung. Eine Vertröstungstheorie, welche sich in Widerspruch mit den Tatsachen befindet, gehört auf das Gebiet der Religion und nicht der Wissenschaft. Und Religion ist Opium für das Volk.
Unsere Partei hat ihre heroische Periode mit einem Programm bestanden, das voll und ganz auf die internationale Revolution orientiert war und nicht nach dem Sozialismus in einem Lande. Auch der Komsomol hat die kampfreichen Jahre des Bürgerkriegs, des Hungers und der Kälte, der schweren kommunistischen Samstage und Sonntage, der Epidemien, des Lernens ohne Nahrung und der zahllosen anderen Opfer, mit denen man jeden Schritt vorwärts bezahlen müsste, unter der Fahne bestanden, auf der geschrieben stand: dass das rückständige Russland mit seinen eigenen Kräften den Sozialismus niemals aufbauen kann. Die Partei und die Jugendgenossen haben nicht deshalb an den Fronten gekämpft, oder die Balken auf den Bahnhöfen geschleppt, weil sie gehofft hatten, aus diesen Balken das Gebäude des nationalen Sozialismus aufzubauen, sondern weil sie damit der internationalen Revolution dienen wollten, welche verlangt, dass die Sowjetfestung gehalten werden muss. Und für die Sowjetfestung war jeder einzelne Balken wichtig. So haben wir zu dieser Frage gestanden. Die Fristen haben sich geändert und verschoben, wenn auch nicht besonders stark, die prinzipielle Voraussetzung aber bleibt auch heute noch voll und ganz in Kraft. Der Proletarier, der arme Bauer und Partisan, der Komsomolze, haben bereits vor 1925, als das neue Evangelium zum ersten Male verkündet wurde, durch ihr Handeln gezeigt, dass sie es gar nicht brauchen. Doch der Beamte braucht es, der von oben herab auf die Masse schaut, der Kleinigkeitskrämer, der Administrator braucht es, wenn er wünscht, dass man ihn in Ruhe lässt, der Apparatmensch braucht es, der, durch diese rettende und tröstende Formeln gedeckt, alles befehlen möchte. Sie sind es, die da glauben, dass für die dunkle Volksmasse solch „frohe Mär“ nötig ist, und dass man ohne diese Vertröstung mit dem Volk nicht fertig wird. Und sie sind es auch, die die lügenhaften Worte von dem „Neunzehntelsozialismus“ aufgreifen, denn diese Formel heiligt ihre privilegierte Lage, ihr Recht auf Befehl, auf Kommando und ihr Bedürfnis, sich von Kritik der „Kleingläubigen“ und der „Skeptiker“ zu befreien.
Die Klagen und die Beschuldigungen, als ob das Verneinen der Möglichkeit, den Sozialismus in einem Lande aufbauen, den Geist und die Energie ertöten könnte, sind theoretisch und psychologisch, trotz der gänzlich verschiedenen Bedingungen, sehr nahe jenen Beschuldigungen verwandt, welche die Reformisten stets auf derselben Linie gegen die Revolutionären erhoben haben. „Ihr sagt zu den Arbeitern, dass sie keine entscheidende Besserung ihrer Lage im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaft erreichen können,“ so sprechen die Reformisten, „damit ertötet ihr in ihnen jede Kampfenergie.“ In Wirklichkeit haben die Arbeiter natürlich nur unter einer revolutionären Führung – auch für wirtschaftliche Verbesserungen und für parlamentarische Reformen gekämpft.
Der Arbeiter, der versteht, dass man kein sozialistisches Paradies als eine Oase inmitten der Hölle des internationalen Kapitalismus aufbauen kann, dass das Schicksal der Sowjetrepublik, und somit auch sein eigenes, voll und ganz von der internationalen Revolution abhängt, wird mit einer viel größeren Energie seine Pflicht gegenüber der UdSSR erfüllen, als jener Arbeiter, zu dem man sagt, dass das bereits neun Zehntel des Sozialismus sei. „Lohnt es sich denn, in diesem Fall dann überhaupt den Sozialismus anzustreben?“ Also schlägt die reformistische Einstellung auch hier, wie immer, nicht nur gegen die Revolution, sondern auch gegen die Reformen.
In dem bereits zitierten Artikel von 1915, der der Parole der Vereinigten Staaten von Europa gewidmet ist, schrieb ich:
„Wenn, man die Perspektive der sozialen Revolution im nationalen Rahmen betrachten würde, so würde das bedeuten, dass man ein Opfer derselben nationalen Beschränktheit wäre, die auch den Hauptbestandteil des Sozialpatriotismus bildet. Vaillant hatte bis zuletzt noch Frankreich für das gelobte Land der sozialen Revolution gehalten und ist gerade aus diesem Grunde bis zum Ende für dessen Verteidigung eingetreten. Lensch und andere – die einen heuchlerisch, die anderen aufrichtig – halten eine Niederlage Deutschlands für eine Zerstörung der Grundlage der sozialistischen Revolution ... Man darf überhaupt nicht vergessen, dass innerhalb des Sozialpatriotismus neben dem vulgärsten Reformismus, sich auch ein nationaler revolutionärer Messianismus breit macht, der gerade seinen Nationalstaat, sei es wegen dessen Industrie, oder dessen demokratischer Formen und revolutionärer Errungenschaften, für berufen hält, die Menschheit in den Sozialismus, oder die .Demokratie’ einzuführen. Wenn eine siegreiche Revolution in den Grenzen einer vorbereiteteren Nation wirklich denkbar wäre, so wäre dieser Messianismus, verbunden mit dem Programm der nationalen Verteidigung, historisch verhältnismäßig gerechtfertigt. Doch er ist es natürlich nicht. Denn der Kampf für die Erhaltung der nationalen Basis der Revolution mit solchen Methoden, welche die internationalen Verbindungen des Proletariats untergraben, bedeutet tatsächlich die Untergrabung der Revolution selber. Denn diese muss natürlich auf einer nationalen Basis beginnen, doch kann sie niemals auf ihr – bei der gegenwärtigen wirtschaftlichen und militärpolitischen gegenseitigen Abhängigkeit der europäischen Staaten, die noch nie so zutage getreten ist wie gerade während des gegenwärtigen Krieges – vollendet werden. Die Parole der Vereinigten Sowjetstaaten von Europa gibt am besten den Ausdruck für diese gegenseitige Abhängigkeit, die direkt und unmittelbar die Übereinstimmung in den Handlungen des europäischen Proletariats bei der Revolution erfordert.“ (Trotzki, Band 3, T.1, S.90/91.)
Von seiner falschen Auslegung der Polemik des Jahres 1915 ausgehend, hat Stalin bereits mehrfach versucht, die Sache so darzustellen, als ob die Worte „nationale Beschränktheit“ sich auf Lenin beziehen. Es ist schwer, sich einen größeren Unsinn vorzustellen. Als ich gegen Lenin polemisierte, bin ich stets ganz offen vorgegangen, denn ich wurde nur von ideellen Bestrebungen geleitet. In diesem Falle ging die Rede ganz und gar nicht von Lenin. In dem Artikel werden jene genannt, gegen die diese Beschuldigung gerichtet waren. Das sind Vaillant, Lensch und andere. Man darf nicht vergessen, dass das Jahr 1915 ein Jahr der sozialpatriotischen Orgien gewesen ist und der Höhepunkt unseres Kampfes gegen sie war. Wir hatten jede Frage damals an diesem Prüfstein ausprobiert.
Der Grundgedanke dieses angeführten Zitats ist zweifellos ganz richtig; die Einstellung auf den sozialistischen Aufbau in einem Lande ist eine sozialpatriotische Einstellung.
Der Patriotismus der deutschen Sozialdemokraten begann als der ganz gesetzmäßige Patriotismus der eigenen Partei, der mächtigsten von den Parteien der 2. Internationale. Die deutsche Sozialdemokratie beabsichtigte, auf Grund der hochentwickelten deutschen Technik und der hohen organisatorischen Eigenschaften des deutschen Volkes ihre „eigene sozialistische Gesellschaft“ aufzubauen. Wenn wir die durchtriebenen Bürokraten, Karrieristen, Parlamentarier und politischen Schurken überhaupt beiseite lassen, so sehen wir, dass der Sozialpatriotismus des einfachen Sozialdemokraten dieser Hoffnung auf den Aufbau des deutschen Sozialismus entsprungen ist. Man kann doch nicht so denken, als ob die Hunderttausende einfachen sozialdemokratischen Mitglieder, nicht zu sprechen von den Millionen einfacher Arbeiter, bestrebt waren, die Hohenzollern oder die Bourgeoisie zu verteidigen. Nein, sie wollten einfach die deutsche Industrie, die deutschen Eisenbahnen und Straßen, die deutsche Technik und Kultur und vor allen Dingen die Organisationen der deutschen Arbeiterklasse verteidigen, als „die notwendigen und genügenden“ nationalen Vorbedingungen für den Sozialismus.
Ein gleichartiger Prozess ging auch in Frankreich vor sich. Guesde, Vaillant und mit ihnen Tausende der besten Parteimitglieder und Hunderttausende einfacher Arbeiter glaubten, dass gerade Frankreich mit seiner revolutionären Tradition, mit seinem heroischen Proletariat und seiner hochzivilisierten, geschmeidigen und talentierten Bevölkerung, das gelobte Land des Sozialismus sei. Der alte Guesde, der Kommunarde Vaillant und Tausende und Hunderttausende ehrlicher Arbeiter mit ihnen, haben doch nicht die Bankiers und die Rentiers verteidigt. Sie glaubten aufrichtig, dass sie den Boden und die Schöpferkraft der kommenden sozialistischen Gesellschaft verteidigen. Sie gingen völlig von der Theorie des Sozialismus in einem Lande aus und opferten dieser Idee, „vorübergehend“, wie sie dachten, die internationale Solidarität.
Auf diese Gleichstellung mit den Sozialpatrioten wird man natürlich die Antwort bekommen, dass der Patriotismus im Sowjetstaat eine revolutionäre Pflicht sei, der Patriotismus gegenüber einem bürgerlichen Staat aber Verrat bedeute. Das ist natürlich richtig. Kann es darüber unter erwachsenen Revolutionären überhaupt eine Meinungsverschiedenheit geben? Allein, diese unstreitbar richtige Feststellung verwandelt sich – je weiter desto mehr – zu einer scholastischen Verdeckung etwas wissentlich Falschem. Der revolutionäre Patriotismus kann nur den Klassencharakter tragen. Er beginnt als der Patriotismus der Parteiorganisation, Gewerkschaft und steigt bis zum Staatspatriotismus, nachdem das Proletariat die Macht erobert hat. Dort, wo die Macht in den Händen der Arbeiter ist, ist der Patriotismus eine revolutionäre Pflicht. Doch muss dieser Patriotismus einen untrennbaren Teil des revolutionären Internationalismus bilden. Der Marxismus hatte stets schon die Arbeiterschaft gelehrt, dass sogar der Kampf um den Arbeitslohn und den Arbeitstag nur dann erfolgreich geführt werden kann, wenn er als ein internationaler Kampf geführt wird. Und nun stellt sich heraus, dass das Ideal der sozialistischen Gesellschaft nur durch nationale Kräfte verwirklicht werden kann. Das ist ein tödlicher Schlag gegen die Internationale. Die festgewurzelte Überzeugung, dass man das Hauptklassenziel noch viel weniger als Detailaufgabe mit nationalen Mitteln oder in nationalem Rahmen verwirklichen kann, bildet den Kern des revolutionären Internationalismus. Wenn das Endziel innerhalb der nationalen Grenzen durch die Anstrengungen des nationalen Proletariats verwirklicht werden kann, so ist damit das Rückgrat des Internationalismus gebrochen. Die Theorie der Verwirklichung des Sozialismus in einem Lande zerreißt die innere Verbindung zwischen dem Patriotismus des siegreichen Proletariats und dem Defätismus des Proletariats in den bürgerlichen Ländern. Das Proletariat der fortgeschrittenen Länder befindet sich erst auf dem Wege zur Macht. Wie und auf welchem Wege es zu ihr schreiten wird, hängt vollständig davon ab, ob es den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft für eine nationale oder internationale Aufgabe hält.
Wenn es überhaupt möglich ist, den Sozialismus in einem Lande zu verwirklichen, so kann man doch an diese Theorie nicht nur nach der Ergreifung der Macht, sondern auch vor der Ergreifung derselben glauben. Wenn sogar in der rückständigen UdSSR der Sozialismus im nationalen Rahmen verwirklicht werden kann, so ist das bei dem fortgeschrittenen Deutschland erst recht der Fall. Morgen wird sich also die Führung der deutschen Kommunistischen Partei mit der Entwicklung dieser Theorie beschäftigen. Das Programm bevollmächtigt sie dazu. Übermorgen wird die Reihe an der französischen Partei sein. Das wird der Anfang des Zerfalls der Komintern auf der Linie des Sozialpatriotismus sein. Eine kommunistische Partei irgendeines kapitalistischen Landes, die von dem Gedanken durchdrungen ist, dass innerhalb ihres Staates alle „notwendigen und genügenden“ Voraussetzungen für den selbständigen Aufbau der „vollen sozialistischen Gesellschaft“ vorhanden sind, wird sich in Wirklichkeit in nichts mehr von der sozialpatriotischen Sozialdemokratie unterscheiden, welche nicht etwa erst bei Noske angefangen hat, sondern über die gleiche Frage bereits am 4. August 1914 gestolpert ist.
Wenn man davon spricht, dass die Tatsache der Existenz UdSSR, an sich schon eine Versicherung gegen den Sozialpatriotismus ist -denn gegenüber einer Arbeiterrepublik ist doch der Patriotismus eine revolutionäre Pflicht –, so zeigt in dieser einseitigen Ausnutzung eines richtigen Gedankens gerade die nationale Beschränktheit. Man hat nur die UdSSR im Auge, und das schließt die Augen gegenüber dem internationalen Proletariat.
Man kann diesen Gedanken auf die Position des Defätismus gegenüber dem bürgerlichen Staate nur überführen mit einer internationalen Einstellung des Programms in zentralen Fragen und durch eine rücksichtslose Zurückweisung jeder vorläufig noch maskierten sozialdemokratischen Schmuggelware, welche versucht, sich in dem Programm der Internationale Lenins einzunisten.
Es ist noch nicht zu spät, auf den Weg von Marx und Lenin zurückzukehren. Diese Rückkehr gibt die einzig denkbare Möglichkeit zum Vorwärtsschreiten. Um diese rettende Rückkehr zu erreichen, haben wir uns mit dieser Programmkritik an den 6. Kongress der Komintern gewandt.
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Zuletzt aktualisiert am 22.7.2008