Leo Trotzki

Zur Verteidigung der Partei

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1. Zu meinen polemischen Methoden


Nach Schriften zur revolutionären Organisation, Reinbek bei Hamburg 1970, S. 212–252.


„Wenn ich dich töte, dann ist das ein bedeutungsloser Unglücksfall; wenn du mich tötest, dann – bei Georg – ist das Mord.“
(Aus Punch: Konstabler zu einem Chartisten)

Unter meinen Kritikern befindet sich Herr Prokopowitsch, Revisionist und infolgedessen „Kritiker“ aus Ehre und Profession. Herr Prokopowitsch nannte seinen Artikel über mich im Towarischtsch, Nr. 108 vielsagend Parteiliche Unverfrorenheit – womit er allem Anschein nach zu verstehen gibt, dass er selbst hinter parteiloser Unverfrorenheit stehe.

Herr Prokopowitsch schickt seiner Kritik einige völlig neue und blitzend formulierte Gedanken über das Thema voraus, dass es „Polemik und Polemik“ gebe, dass „die geistige Polemik eine ungeheure politische Bedeutung“ habe, dass ihr Antagonist „die persönliche Polemik“ sei, „die in der Beschimpfung der Persönlichkeit des Widersachers, in seiner Bewerfung mit Schmutz besteht“, und erklärt dann, dass gerade ich, Trotzki, in dieser unwürdigen Weise polemisiere, „ohne jedes Maß an fremde Adressen Verleumdungen“ richte und „aus dem Gefängnis heraus mit Verbalinjurien um mich werfe“. Herr Prokopowitsch führt allerdings keinerlei Beispiele für meine Verbalinjurien und Verleumdungen an. Er erklärt lediglich, dass er mir in meiner Manier, Polemik zu führen, nicht folgen, sondern den – angesichts meiner „intellektuellen Physiognomie“ – mühseligen Versuch unternehmen werde, das Problem auf die Ebene der geistigen Auseinandersetzung zu heben.

Verleumdungen und Verbalinjurien sind ganz ohne Zweifel eine böse Sache. Doch auch die Lüge gereichte nach meiner Meinung noch niemandem jemals zur Zierde. Und ich komme nicht umhin zu sagen, dass die mit all ihrer erhabenen Entrüstung vorgetragenen Vorwürfe des Herrn Prokopowitsch, ich verleumdete in meinem Buch die Persönlichkeit meiner Widersacher, beschimpfte und bewürfe sie mit Schmutz, geradezu bösartige Lügen darstellen. Auf den 300 Seiten meines Buches polemisiere ich mit vielen Leuten. Meine Kritik kann sich als ungerechtfertigt, unrichtig, nörglerisch, übertrieben oder talentlos erweisen, aber sie ist immer eine prinzipielle Polemik, immer eine politische Kritik, immer geistige Auseinandersetzung. Politik verwandelt sich – auf gute oder schlechte Weise – immer in konkrete Menschen zurück. Und was ich im politischen Leben für Unwahrheit, Irrtum oder Dummheit halte, steht immer als lebendiger Widersacher oder Feind vor mir. Ich greife ihn an, wenn ich der Meinung bin, die Sache, der ich verpflichtet bin, erfordere dies. Meine Angriffe können ungerechtfertigt, derb und plump sein, niemals jedoch „beschimpfe“ ich die Persönlichkeit eines Widersachers um ihrer selbst willen, niemals „verleumde“ ich sie oder „bewerfe sie mit Schmutz“. Und wenn Herr Prokopowitsch das Gegenteil behauptet, so spricht er die Unwahrheit.

Jene zwei Seiten meines Buches [0] über die russischen „Revisionisten“, die aus der Partei des Proletariats herausgegangen, aber nicht in die Partei der Bourgeoisie eingetreten sind – ohne Kraft zu Gutem wie zu Schlechtem – und die die Möglichkeit zu literarischer Äußerung nur dank der Tatsache erhalten haben, dass die liberale Gesellschaft sich bereitwillig mit jenem „kritischen Sozialismus“ aussöhnt, der nicht gegen den Liberalismus, sondern gegen die faktisch existierende Sozialdemokratie gerichtet ist –, jene zwei Seiten also, die Herr Prokopowitsch im Auge hat und die eben jetzt aufgeschlagen vor mir liegen, enthalten nicht eine einzige Zeile gegen die moralische Physiognomie des Herrn Prokopowitsch, gegen die Sauberkeit und Uneigennützigkeit seiner Absichten und gegen seinen guten Glauben in seinen Irrtümern.

Da diese zwei Seiten jedoch dem Herrn Prokopowitsch als unrichtig und übertrieben erschienen, untersuchte er, ein Autor, der nur die geistige Polemik kennt, vor allem die Frage, welche persönlichen Gründe meiner Kritik zugrunde liegen könnten. Mein Opponent schreibt: „Herr Trotzki fällt mit besonderem Eifer über mich und eine andere Person her, obwohl (!) weder in unseren früheren Schriften noch in der Zeitung Bes Saglawija, über die Herr Trotzki aus irgendeinem Grunde besonders erzürnt ist, sein Name auch nur ein einziges Mal genannt wird; das wäre auch einfach unnötig: unsere Zeitung führte nur eine geistige Polemik.“ [A]

Ja, ich, Trotzki, der nur persönliche Polemik, Verbalinjurien und Verleumdungen kennt, halte mich für berechtigt, „erzürnt“ zu sein und in Fällen, wo ich persönlich in keiner Weise angegriffen bin, über andere „herzufallen“ – und dadurch unterscheidet sich meine persönliche Polemik von der geistigen Polemik des Herrn Prokopowitsch, der unverzüglich eine Untersuchung über die Absichten seines Widersachers durchführt und, obgleich er meinen zwei Seiten drei ganze Zeitungsspalten gegenüberstellt, nicht mit einem Wort von dem Charakter meiner Polemik gegen andere Personen spricht: Nun denn, Herr Prokopowitsch, enthält mein Buch durchweg Verleumdungen, oder bin ich in allen anderen Fällen ein ehrlicher Journalist?

Nein, offensichtlich nicht. Herr Prokopowitsch schreibt nämlich, dass mein Name gerade deshalb kein einziges Mal in seiner Zeitung Bes Saglawija genannt wurde, weil ich für geistige Polemik ein untauglicher Gegner sei. Wie schade, dass Herr Prokopowitsch für diese entschiedene Behauptung keine genügend präzise Untersuchung angestellt hat: In seiner Zeitung Bes Saglawija wird mein Name genannt – und obgleich es in Zusammenhang mit meiner Streitschrift gegen Struve geschieht, wo sich die bösen Eigenschaften meiner Polemik in all ihrer Blöße hätten zeigen müssen, äußert sich der Mitarbeiter von Bes Saglawija sehr positiv über meine Broschüre, die er „interessant und talentiert“ nennt. [B] Wenn ich nach den persönlichen Gründen dieses Ausrutschers des Redakteurs einer so sanften Zeitung suchen wollte, müsste ich vermuten, dass Herr Prokopowitsch nicht wisse, wer sich hinter dem Pseudonym L. Tachokijl6? verbirgt [78] und nur deshalb ein solches Lob an die Adresse eines polemischen Journalisten über dessen Broschüre zuließ, der die ehrliche Polemik mit Verleumdungen und Beschimpfungen vertauscht.

Das ist allerdings eine bemerkenswerte Sache! Herr Prokopowitsch sagt zu Beginn seines Artikels geradeheraus, allein schon das Vorwort zu meinem Buch stelle ein „Musterbeispiel“ persönlicher Polemik dar, und einige Zeilen weiter spricht er bereits mit heftiger Entrüstung von meiner „intellektuellen Physiognomie“ im allgemeinen. Ich habe in meinem Buch gegen den Absolutismus, gegen die Reaktion, gegen den Liberalismus aller Schattierungen und schließlich gegen einige Tendenzen innerhalb unserer eigenen Partei polemisiert. Über all diese Polemik verliert Herr Prokopowitsch nicht ein Wort; er siedelt meine ganze „intellektuelle Physiognomie“ in den einzigen zwei kleinen Seiten des Vorworts an, auf denen sein Name erwähnt wird. Hätte mein Entlarver uns nicht vorher darüber informiert, dass er der Ritter der geistigen Polemik sei, müsste man annehmen, Herr Prokopowitsch mache die Beurteilung der intellektuellen Physiognomie eines Publizisten davon abhängig, wie dieser sich ihm persönlich gegenüber verhält.

Das ist eine bemerkenswerte Sache! Irgendwann einmal antwortete ich der Nascha Schisn im Natschalo den Ton dieses meines Artikels nennt Herr Prokopowitsch „völlig geziemend“; indessen bringt mein Vorwort in polemischer Hinsicht nichts, was nicht schon in meinem „völlig geziemenden“ Artikel enthalten gewesen wäre. In diesem Artikel sprach ich von meinen Widersachern als von „versteckten „Marxisten“, die sich auf den hinteren Wagentritten einer konstitutionell-demokratischen Zeitung verbergen“. Ich versuchte, mit diesen Worten die Lage der russischen Revisionisten zu charakterisieren. Zwei arme Blättchen meines Vorworts waren demselben Problem gewidmet, und sie beinhalten keine schärfere Aussage als die angeführten Zeilen des „völlig geziemenden“ Artikels. Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass Herr Prokopowitsch in jenem Artikel nicht genannt wurde, während im Vorwort sein Name erwähnt ist.

Natürlich hat das keinerlei Bedeutung; trotzdem, wie gut, dass Herr Prokopowitsch sich sofort als ein mit geistiger Polemik arbeitender Publizist zu erkennen gibt: Man müsste ihm sonst ganz entschieden die Mentalität des eingangs zitierten Konstablers aus dem Punch zuschreiben!

Die Sache ist allerdings bemerkenswert! Herr Prokopowitsch betont, wie wir bereits wissen, ich sei „aus irgendeinem Grund besonders erzürnt“ über die Zeitung Bes Saglawija, in der mein Name nicht ein einziges Mal erwähnt worden sei. Das ist, wie wir gesehen haben, nicht richtig. Dafür ist jedoch richtig, dass ich über die Zeitung Bes Saglawija nicht ein Wort verliere. Ich erwähne lediglich die Gruppe der Revisionisten „ohne Namen, ohne Titel“, mit dem Namen der Zeitung die wenig ausgeprägte Situation der Revisionisten charakterisierend. Dass ich jedoch erzürnt, ja sogar „besonders“ erzürnt sei über eine Zeitung, über die ich weder ein Wort verliere noch überhaupt irgendwie „erzürnt“ bin, das hat Herr Prokopowitsch sich einfach aus den Fingern gesogen. Wahrhaftig, bisweilen ist es durchaus nicht leicht, das moralische Pathos des geistigen Polemikers von der schlampigen Erklärung des gekränkten Philisters zu unterscheiden!

Dutzende ähnlicher Bagatellen, nichtiger Stiche und unechter polemischer Grimassen wären einer Prüfung wert, wenn ich mir die Charakterisierung der polemischen Physiognomie meines Widersachers zum Ziel setzen würde; doch da ich von einer solchen Absicht weit entfernt bin, werde ich nicht noch länger dabei verweilen, wie Herr Prokopowitsch mit herablassender (und natürlich parteiloser) Unverfrorenheit und „heißem“, wenn auch unerwünschtem „Mitgefühl“ meine „durch die lange Haft und die Aussicht auf die Prozeduren von Gerichtsverhandlung und Verbannung“ gestörten Nerven abtastet, mit welch edelmütiger Geste erklärt, dass er mir „trotzdem“ nicht das „Recht“ (!) zugestehen könne, „aus dem Gefängnis heraus mit Verbalinjurien um mich zu werfen“: Obgleich ich in meinem Buch nirgends weder vom Gefängnis noch von Gericht und Verbannung noch von meinen Nerven spreche. Doch genug davon! Ich wage allen Prokopowitschs zu versichern, dass meine Nerven ausreichend gut sind, einen Widersacher, aus dem echter und nicht mit Hintergedanken verbundener Zorn spricht, von einem Federfuchser zu unterscheiden, der mit der farblosen Flüssigkeit gekränkter Eigenliebe schreibt. Das ist vorläufig alles, was ich im Hinblick auf meine polemischen Methoden zu sagen für notwendig halte.

Was den „prinzipiellen“ Teil des Artikels von Herrn Prokopowitsch betrifft, so stellt er, wie wir noch sehen werden, eine Reihe von Versuchen dar, der Partei nach den Waden zu schnappen. Der Herr „Kritiker“ muss dabei notwendigerweise eine horizontale Stellung einnehmen, die sich auf seine perspektivischen Dimensionen in höchst unglücklicher Weise auswirkt. Nicht um Herrn Prokopowitschs willen, sondern der Sache selbst zuliebe werden wir versuchen, die tatsächlichen Konturen der Partei wieder richtig zu ziehen und ihre revolutionäre Rolle zu charakterisieren. Es versteht sich ganz von selbst, dass wir zusammen mit dem Leser bei dieser Unternehmung unsere aufrechte Stellung beibehalten werden.

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Anmerkungen

0. Nascha revoljucija, op. cit., str. XVIII u. XIX.

A. Kursiv von mir.

B. Bes Saglawija, Nr. 12, str. 494.


Zuletzt aktualiziert am 15. November 2024