Paul Lafargue

 

Die Anfänge der Romantik

 

III

Die Bourgeois des Jahres 1802 hatten ein schreckliches Jahrzehnt hinter sich. Der eine von ihnen kehrte aus dem Exil zurück, der andere aus dem Gefängnis, diesen hatte man aus dem Bette geholt, um ihn als Soldaten an die Grenze zu schicken, jener war als „lauer Patriot“ denunziert worden. Diejenigen, die dank ihrer Unbedeutendheit unbehelligt geblieben, waren durch den Anblick von Vorgängen erschreckt worden, deren bloße Erinnerung sie schaudern ließ.

Niedergeschlagen von den furchtbaren Glückswechseln, welche die politischen Ereignisse uns aufgestellt haben, schrieb 1800 Madame de Staël, scheint der größte Teil der Franzosen gegenwärtig alles Interesse für die Vervollkommnung ihrer selbst zu haben und ist noch zu sehr über die Macht des Zufalls erstaunt, um an die Überlegenheit geistiger Fähigkeiten zu glauben. [30]

Die Renés hatten für ihre Häupter gezittert. Sie hatten sich in der Zwangslage befunden, das Auftreten, die Manieren der Sansculotten nachzuäffen, „sich zu erniedrigen, um nicht verfolgt zu werden (Mercure [*de France] [31], Thermidor, Jahr VII [*Juli/August 1799])“. Chateaubriand nannte das poetischer „ein Leben herabdrücken, um es auf das Niveau der Gesellschaft zu bringen“. Laharpe [32] zitterte vor dem Bilde

jener schnauzbärtigen Patrioten, unter denen sich viele Ex-Aristokraten befanden, die sich ehedem sehr aristokratisch gebärdet, seither aber gemausert hatten, und die den Säbel oder Stock im Namen der Gleichheit gegen einen armen Teufel erhoben, der sie zu duzen vergessen hatte, und den sie in Trab zu bringen drohten. [33]

War man nicht mit eigenen Augen Zeuge entsetzlicher Vorgänge gewesen, so hatte man wenigstens von solchen in der Art derer erzählen hören, welche René in seinem Essai berichtet: Ein Nationalgardist durchbohrt mit seinem Bajonett ein kleines Mädchen, das seinen guillotinierten Vater beweint,

und legt sie so seelenruhig auf einen Haufen Leichen, als wäre es nur ein Bündel Stroh gewesen. Frauen, die rittlings auf Männerleichen saßen, welche sich in den zweirädrigen Karren türmten, suchten unter entsetzlichem Gelächter die ungeheuerlichste Geilheit zu befriedigen.

Daß derartige Episoden geglaubt und weitererzählt werden konnten, charakterisiert zur Genüge die panische Furcht, die sich der Gemüter bemächtigt hatte. Die Furcht tötete die Liebe zum Leben und lähmte sogar den Wunsch, es zu verteidigen.

Ich habe, so schrieb Riouffe, die langen Züge von Leuten gesehen, die niedergemetzelt werden sollten; keine Klage entschlüpfte ihrem Mund, schweigend gingen sie dahin [...] sie verstanden nur zu sterben. Nicht dem Tode zu trotzen müßte man die Menschen gewöhnen, sondern dem Schmerz zu trotzen. Wie viele Leute haben sich den Kopf abschneiden lassen, weil sie fürchteten, man könnte ihnen einen Knochen zerschlagen. [34]

Nachdem die Tyrannei der „anthropophages [Menschenfresser]“ (so nannte man die Jakobiner) gebrochen war, begannen die Renés, die sich durch Mogeleien mit Assignaten [35], Nationalgütern, Lieferungen von Lebensmitteln und Vorräten aller Art bereichert hatten, einen anderen Feind ihres Grundbesitzes, ihres Goldes, ihrer Position zu fürchten. Sie zitterten, daß sie der monarchischen Reaktion Rechenschaft über den Ursprung ihres Vermögens und über ihre Haltung während der Revolution abzulegen hätten. Die Priester verließen die Schlupfwinkel, in denen sie sich verborgen hatten, sie säten Haß und riefen zur Rache auf. Voll Anmaßung kehrten die Adeligen in die Heimat zurück. Sie drohten, daß sie die Schuldigen strafen, ihre früheren Güter zurücknehmen, jene schamlosen und ungerechten Vermögen in Nichts zerblasen wollten, welche Rivarol als „schreckliche Einwände gegen das Vorhandensein der Vorsehung“ bezeichnete. Die männlichen und weiblichen Renés, die seit zwei Jahren zitterten, konnten sich nun für Romane interessieren, die überladen waren mit überraschenden Begebenheiten, wilden Szenen und exzessiven Leidenschaften.

Die Lektüre sollte das Vergessen bringen: eine unglaublich große Masse von Romanen wurde auf den Markt geworfen, fünf’ bis sechs erschienen täglich.

Ein Händler mit Neuheiten im Palais du Tribunal (Palais Royal) erhielt in einem einzigen Vormittag 14 Romane zugesendet, die zum ersten Mal zum Verkauf ausgegeben wurden (Décade [*philosophique], 10. Messidor, Jahr IX [*1801]).

Eine Zeitschrift, La Bibliothèque des romans, die von Madame de Genlis [36], den Bürgern Legouvé [37], Fiévée [38], Pigault-Lebrun [39] und anderen redigiert wurde,

gab die kritische Analyse der Romane [...] nebst historischen Notizen über die Verfasser, ihre Werke und die darin vorkommenden bekannten verkleideten oder sinnbildlichen Charaktere.

Die kurze Wiedergabe des Inhalts etlicher Romane, die damals in der Mode waren, gibt am besten eine Vorstellung von dem Geschmack des Publikums in jener Zeit.

Les Chevaliers du Cygne, conte historique et moral [Die Schwanenritter, historische und moralische Erzählung] von Madame de Genlis, in drei Bänden, jeder zu 400 Seiten (1796). Die Heldin stirbt bereits auf der dreißigsten Seite des ersten Bandes, allein ihr blutiger Leichnam kehrt aus dem Grabe zurück und schläft jede Nacht neben dem Gatten, einer Art Othello aus der Zeit Karls des Großen. Die Mode der mittelalterlichen Romane begann. – Le Moine [Der Mönch] erschien 1797. [40] Dies ist die Geschichte eines spanischen Mönches – eines schönen Mannes und hinreißenden Redners. Er verliebt sich in eine Nonne, verführt sie, wird gefoltert, als Lebenslänglicher eingekerkert, beschwört den Teufel, erweckt Tote zum Leben und wandert, von Dämonen verfolgt, ruhelos, dem Ewigen Juden gleich, über die Erde. Chateaubriand schätzte diesen Roman. Ernesta (1799) von der Bürgerin d’Antraigues – die Frauen schrieben damals sehr viel – während die Tribüne und das Schlachtfeld die Energie der Männer absorbierten – ist ein Roman von einem Realismus, der nichts zu wünschen übrig läßt. Übrigens wollten alle Romane jener Zeit Studien nach dem Leben sein. Die unglückliche Ernesta vermählt sich mit einem Blaubart, einem Riesen, dessen Wissen sich auf die Genealogie des Herzogs von Sachsen-Gotha beschränkt, dessen Hofjägermeister er ist. Er spricht nur von Hunden, Wölfen, Ebern, Karten und Würfeln, richtet sich im Spiel zugrunde, stiehlt die Diamanten seines Frau, die er beschimpft, mißhandelt, an den Haaren schleift. Mit einem Fußtritt schleudert er sein zweijähriges Töchterchen gegen die Wand. Er lebt öffentlich mit einer Hure und zwingt Ernesta, sie aufzunehmen. Er hält seine Gattin in einem düsteren Schloß des Schwarzwaldes gefangen und stirbt endlich, von seiner Mätresse ermordet, indem er die Unschuld seiner Ehegattin verkündet, die eine Heilige ist.

La Décade [*philosophique] (10. Pluviôse, Jahr VII [*1799]) erklärt nach einem Hinweis auf die blinde, einseitige Vorliebe für die englischen Romane:

Wir können behaupten, daß wir echte, auf eigenem Boden gewachsene Schauerromane (des horreurs) besitzen, die den Anspruchsvollsten genügen können; daß es uns keineswegs an gräßlichen Charakteren fehlt, die gräßlich gezeichnet sind; daß auch bei uns Gespenster von Fleisch und Bein herumspuken, nämlich Gespenster, die keine sind und durch deren glückliche Erfindung Mistress Radcliffe [41] sich ungeheuer ausgezeichnet hat; daß wir reich an Schilderungen von Sonne und Mond sind, an romantischen Landschaften und romanhaften Ereignissen; kurz, daß wir nicht weniger erfahren als unsere Meister in der Wissenschaft sind, die Dinge in die Länge zu ziehen, und in der Kunst, die Bände zu vervielfältigen [...] Es ist gelungen, den Spleen in Frankreich heimisch zu machen. Man hat versucht, den Humor nachzuahmen. Aber es ist wohl leichter in der Art Radcliffes als Sternes [42] zu schreiben, wenigstens kann ich nicht von unseren Erfolgen im Genre Sternes berichten, ich muß mich mit der Erklärung begnügen, daß man bis jetzt nicht über harmlose Versuche hinausgekommen ist.

Madame de Staël konstatierte das gleiche Faktum:

Seit 10 Jahren, in den ruhigsten Zeiten der Revolution, sind die schneidenen Kontraste kein Gegenstand eines Epigramms oder eine geistreichen Ergießung von Witz gewesen.

Man nahm an, daß diese Unfähigkeit zu lachen und zu spotten eine vorübergehende Krankheit der Geister sei, die von den revolutionären Ereignissen aufs äußerste überreizt worden waren. Dem ist keineswegs so. Die Krankheit ist eine konstitutionelle; sie wird bedingt durch organische Ursachen, welche ich in dem vorliegenden Artikel nicht erörtern kann, so daß ich mich begnügen muß, auf die Tatsache selbst hinzuweisen. Die Romantik eröffnet das Zeitalter des Ernsten, der Melancholie, der Sentimentalität, der erhabenen Bilder und der sensationellen Beschreibungen.

Die heiteren Schriften, sagte Madame de Staël mit einem seltenen prophetischen Blicke vorher, werden als bloße Mittel zum Zeitvertreib verachtet werden, deren Erinnerung man nicht bewahrt“.

Sie zählt zu den Schundschriften:

Candide (von Voltaire) und andere Schriften der Art, die aus philosophischem Mutwillen mit dem Wert, den die Menschheit auf ihre wichtigen Angelegenheiten legt, bloß Spott treiben. [43]

Ein Romantiker, der ein „König der Kritik“ war, Jules Janin [44], konnte es wagen, ohne ausgepfiffen und der Lächerlichkeit preisgegeben zu werden, ein moralisches und sentimentales Gegenstück zu Le Neveu de Rameau [Rameaus Neffen] [45] von Diderot zu schreiben. Von allen neueren französischen Romanschriftstellern hat nur der einzige, von den Spitzenreitern des Romans höchlichst verachtete Paul de Kock [46] ein wenig von der grobschlächtigen, lebenstrotzenden und überschäumenden Heiterkeit Rabelais’ und der altfranzösischen Erzähler wiedergefunden. Musset und Balzac haben in ihren Jugendwerken (Mardoche und Jean Louis) den Versuch gemacht, die spöttische Philosophie wieder aufleben zu lassen, welche die zarten Empfindungen Madame de Staëls und ihrer Zeitgenossen verletzte. Beide Schriftsteller haben sich beeilt, auf weitere Versuche zu verzichten. Der moderne Naturalismus, dieser Schwanz der Romantik, hat bis jetzt aus der Natur und dem sozialen Leben weder Heiterkeit noch Geist, noch skeptischen Spott zu schöpfen vermocht.

Geist und Heiterkeit waren gleicherweise vom Theater verbannt.

Wir lachen nicht genug, bemerkte La Décade [*philosophique] (30. Fructidor, Jahr IV [*16. September 1796]). Die Schauspieler sind nicht mehr komisch. Man beklagt sich darüber, man ruft den Schriftstellern zu: „Bringt uns zum Lachen“. Aber, wenn sie eine ungeschminkte und naive Heiterkeit entfalten, so bewirkt unser Zartgefühl, daß wir sie auspfeifen, sie auf die Boulevards verweisen, als ob wir befürchten, uns durch unser Lachen zu kompromittieren.

Während der Revolution war das Theater in eine Arena politischer Kämpfe verwandelt worden. Sansculotten und Aristokraten schlugen sich im Parterre, schließlich brachte man die Tagesereignisse in flüchtig und nachlässig zusammengeschusterte Dramen auf die Bühne. Im Monat Nivôse des Jahres IV (*Dezember-Jänner 1795-96) spielten verschiedene Theater ein Stück, betitelt: Réclamations contre l’emprunt forcé [Proteste gegen die Zwangsanleihe]. Das Theater der „Cité Variété“ führte im Floréal des Jahres III (*April-Mai 1795) ein Drama auf: L’Intérieur des comités révolutionnaires ou les Aristides modernes [Das Innenleben der revolutionären Komitees oder die modernen Aristiden], in dem die besiegten Jakobiner in den Dreck gezogen werden. Im Frimaire des Jahres VI (*November-Dezember 1797) wurde Le Pont de Lodi [Die Brücke von Lodi] [47] gespielt, ein Stück, das die Episoden der siegreichen Schlacht vorführte. Im Germinal des selben Jahres (*März-April 1798) erfuhren die Franzosen durch das Drama: Les Français à Cythère >[Die Franzosen auf Kythera] [48], daß durch den Frieden von Campo-Formio [49] die genannte mythologische Insel Frankreich einverleibt worden war. Neben diesen aktuellen Dramen, die die Bühne in eine gesprochene Zeitung verwandelten, duldete das Publikum nur komische Opern, die mit Wortspielen und Kalauern gewürzt waren, sowie Tragödien, in denen es von Morden wimmelte. In folgendem zwei Beispiele dafür. Das Sujet Le Lévite d’Ephraïm [Der Levit von Ephraim] ist vom Verfasser, Lemercier [50], dem Buch der Richter entlehnt. [51] Das Stück erschien im Jahre IV (*1795). Ein Angehöriger des Stammes Levi wird von einem Scheusal verfolgt, das die Personifikation Carriers [52] ist, der soeben guillotiniert worden war. Der Levit liefert dem Scheusal seine Gattin aus und läßt sie von einer Räuberbande vergewaltigen. Darauf tötet er sie und schneidet ihren Leib in 12 Stücke, die er unter die 12 Stämme (*Israels) verteilt, um sie zur Rache anzuspornen. Das Mitglied der Akademie Française Arnault [53] ließ im Theâtre de la République eine Tragödie in fünf Akten aufführen: Oscar, Fils d’Ossian [Oskar, Ossians Sohn]. [54] Oscar liebt Malwina, die Gattin seines Freundes, der im zweiten Akte stirbt und im vierten Akte von den Toten aufersteht, gerade im rechten Augenblick, um Oscars und Malwinas Vermählung zu verhindern. Oscar wird wahnsinnig, tötet seinen Freund, erhält seine Vernunft zurück und stirbt durch Selbstmord. Eine so mit Greueltaten gepfefferte Literatur konnte nur den Leuten zusagen, welche die Zeit der Schreckensherrschaft durchlebt hatten.

Je weiter die Revolution hinter uns liegt, schrieb die Décade·[*philisophique] (20. Floreal des Jahres V [*9. Mai 1797]), um so mehr scheint sich das Geschick Frankreichs zu erhellen.

Lies: um so weniger zittern wir für unsere Köpfe und unsere Geldbörsen. Als die Gemüter allmählich ihre Ruhe wiederfanden, forderten sie eine weniger scharf gepfefferte geistige Nahrung. Wie Pilze nach einem Gewitterregen, so schossen nun die psychologischen Romane in die Höhe, die Godwins [55] kraftvollen und originellen Roman: Caleb Williams – er wurde dramatisiert – zum Muster nahmen, sowie die sentimentalen Romane, die mit Werthers Leiden in Mode gekommen waren. Während des Zeitalters der Revolution tauchen alle literarischen Gattungen, alle literarischen Strömungen auf, welche die Schulen der Romantiker, der Naturalisten, Realisten, Dekadenten usw. der Reihe nach gepflegt, entwickelt und aufgegeben haben, um sich ihnen aufs neue zuzuwenden. Auf die Überschwemmung des französischen Büchermarkts mit englischen Romanen folgte eine Flut deutscher Romane. Die tränenreichen, faden und larmoyanten Produkte, die jenseits des Rheins zusammengeschrieben wurden, fanden Übersetzer und Nachahmer in Frankreich.

Da der französische Geist, schrieb ein Anonymus, dem Bedarf des Landes nicht zu entsprechen vermag, habe ich einen ganz einträglichen Handel zum Zwecke des Imports der Erzeugnisse des nordischen Geistes gegründet. Es gibt Jahre, wo ich auf den deutschen Messen sehr ansehnliche Partien grober Literatur zusammenkaufe, die ich in Paris in einem Übersetzungsbureau verfeinern lasse. Dieser ehrliche Handel, der nicht weniger auf die Hebung des allgemeinen Geisteslebens als meines Vermögensstandes abzielt [...] verschafft mir den Ruf, kein Dummkopf zu sein, obgleich ich die Schwäche hatte, meinen Namen unter etliche der gekauften Werke zu setzen. [56]

Melancholie und Sentimentalität bemächtigen sich des Romans: Es erschien z.B. 1799 Emilie et Alphonse mit dem Untertitel: danger de se livrer à sa première impression [die Gefahr, sich dem ersten Eindruck hinzugeben], drei Bände. Alphonse, ein junger Spanier, den Schönheit, Anmut und vor allem „eine tiefe und rührende Melancholie“ auszeichnen, vergiftet auf den ersten Blick das Herz der allzu sanften, empfindsamen Emilie. – Malwina, vier Bände (1800), ist wie der eben genannte Roman von einer Frau geschrieben. Malwina hat das Gelübde abgelegt, nicht etwa wie René Chateaubriands Atala, ihre Jungfräulichkeit der unbefleckten Gottesmutter Maria zu weihen, wohl aber ihr Leben ihrem Kinde zu widmen. Madame de Staëls Delphine (*1802) gelobte das Gleiche: damals war die Zeit feierlicher Gelöbnisse. Die Menschen waren in jenen Tagen so wetterwendisch, daß man nicht wußte, was man erfinden sollte, um sie zu hindern, mit den Ereignissen ihre Überzeugungen, Grundsätze, Gefühle und ihre Haltung zu ändern. Am Ende des Sommers beschworen sie eine Konstitution, und ehe der Herbstwind die Blätter entführte, stimmten sie für eine andere. Die empfindsame Malwina beeilt sich, die Politiker nachzuahmen: sie vergißt ihren Schwur und liebt Sir Edmond, der schön, tapfer, melancholisch usw., aber ein Don Juan ist und ohne Gewissensbisse gleichzeitig mehrere Malwinas betrügt. – Palmyra, von Madame R. (1801). Ein dreifaches Mißgeschick lastet auf der Heldin: Palmyra ist arm, bürgerlicher Herkunft und ein uneheliches Kind. Die Unglückselige betet trotzdem einen Mylord an, den Simplicia, die Tochter des Herzogs von Sunderland, ebenfalls liebt. Der Don Juan von jenseits des Kanals würde ohne viel Umschweife beide Verliebte gleichzeitig mit seiner Gunst beglücken. Aber die Aristokratin und das Bürgermädchen entbrennen in edlem Wettstreit – nicht etwa wer den Gegenstand der gemeinsamen Leidenschaft erobert, sondern wer zugunsten der Nebenbuhlerin auf den Geliebten verzichtet. In öder, breiter Einförmigkeit schildert der Roman die klagende, weichliche, schmachtende, melancholische Liebe. Welcher Leser könnte ihn heutzutage zu Ende lesen? In jener Zeit hatte Palmyra einen grandiosen Erfolg.

Chateaubriands beide Romane: Atala und René dürfen das unschätzbare Verdienst beanspruchen, in einem schmalen Bande und in künstlerischer Form die wichtigsten sozial-psychologischen Charakterzüge der Zeit zu enthalten, welche zerstreut in zahllosen und jetzt unlesbar gewordenen literarischen Erzeugnissen zu finden sind, die – Eintagsfliegen gleich – heute entstanden und morgen verschwunden waren.

Das „Schicksal“ hat seit ihrer Geburt Atala wie René gezeichnet.

Meine Mutter hatte mich im Unglück empfangen, so erzählt Atala, die Tochter eines Weißen und einer Indianerin, sie gebar mich unter schweren Verletzungen, man verzweifelte an meinem Leben. Um meine Tage zu retten [...] gelobte meiner Mutter der Königin der Engel, daß ich ihr meine Jungfräulichkeit weihen würde.

„Ich habe meine Mutter bei der Geburt das Leben gekostet“, berichtet René von sich selbst. Und mit diesem Mißgeschick nicht zufrieden, fügte er hinzu: „Ich wurde mit der Zange aus ihrem Schoße gezogen.“

Diese romantische Aufschneiderei ist nicht seine eigene Erfindung. Sie ist eine Reminiszenz an Shakespeares Macbeth, den Chateaubriand in England kennen und bewundern gelernt hatte, was ihn allerdings nicht abhielt, den großen Briten zu lästern, um Fontanes und anderen reaktionären Beschützern wohlzugefallen. Das „Schicksal“, dieser religiöse Erklärungsgrund von Vorgängen, deren Ursachen sich unserer Kenntnis entziehen; das „Schicksal“, das die Romantiker von 1830 in ausgiebigster Weise gebrauchten und mißbrauchten, es war damals noch etwas anderes als ein literarisches Hilfsmittel, das man eben den alten Griechen abgeschaut hatte. Racine führt uns in seinen Dramen Griechen und Römer vor, unter deren Maske sich die Höflinge von Versailles bergen, welche die Helden seiner Tragödien sind, aber er nimmt nicht zum „Schicksal“ Zuflucht, um ihre Handlungen zu erklären. Anders zu Anfang unseres Jahrhunderts. Die Ereignisse der Revolution waren so unvorhergesehen, sie lösten einander so plötzlich ab und ihr Einfluß auf das Leben und das Geschick des einzelnen war so gewaltsam und unerwartet, daß die gewöhnlichen Begriffe von der Ordnung der Dinge verwirrt, auf den Kopf gestellt wurden. Die gewöhnlichen Erklärungen reichten nicht aus, um soziale Vorgänge verständlich zu machen, welche dem Blitze gleich trafen und zerschmetterten. Die geängstigten Gemüter setzten sie nicht auf Rechnung natürlicher Ursachen, sondern geheimnisvoller Einflüsse, sie machten Verschwörungen, schwarze Komplotte dafür verantwortlich, das Gold Pitts [57], das Gold des Herzogs von Orléans [58], Umstände, die mehr oder minder wundersamer Natur waren. Der Mensch erschien als das Spielzeug schrecklicher Ereignisse, die nur dem blinden, unbewußten „Schicksal“ gehorchten. Die Notwendigkeit, alles auf den Zufall, das „Schicksal“ zurückzuführen, trieb die Gemüter in die Arme des Aberglaubens und des Katholizismus. Noch andere, ebenso realistische Gründe erklären die Renaissance des Katholizismus und den religiösen Zug, welcher für die Romantik charakteristisch ist.

René, den das Unglück verfolgt, seitdem er den Mutterschoß verlassen hat, und den der Vater verstößt, findet nur Verständnis und Liebe bei seiner Schwester Amélie. Er belohnt die Zärtlichkeit, die sie seit seinen Kinderjahren an ihn verschwendet, indem er sie nur erwähnt, um seine Erzählung dramatisch wirksam zu gestalten, seine Person hervorzuheben und sich die Komplimente sagen zu lassen, die er sich anständigerweise nicht gut selbst sagen kann. „Die Erde bietet nichts, was Renés würdig wäre“, erklärte Amélie. Die Anbetung des Egos ist Renés hervorstechendste Eigenschaft. In jenen Tagen der Revolution mußte man seiner Zuneigung die denkbar kleinste Ausdehnung geben, sie gleichsam innerhalb der eigenen Haut kondensieren, wie der griechische Philosoph all seine Schätze in seinem Hirn mit sich trug. Nur so bot man dem Unglück eine möglichst kleine Angriffsfläche. Der kalt-grausame Egoismus war in jener Zeit eine für die Erhaltung des Individuums nötige Eigenschaft. „Interesse und menschliches Herz sind zwei gleiche Worte“, erklärte brutal Chateaubriand in seinem Essai. [59] Aber den Renés des Jahres 1802 war die naive Freimütigkeit des René vom Jahre 1797 abhanden gekommen. Sie verbargen die auf das Ego konzentrierte Liebe unter Bergen sentimentaler Phrasen, um glauben zu machen, daß sie ihr Herz an die Menschheit und die gesamte Natur in freigebigster Weise verschwendeten. Prosa und Gedichte trieften von humanitären Gefühlen. Das Wort „Philanthropie“, das vor der Revolution schüchtern in die Sprache eingeschmuggelt worden war, tönte nun von aller Lippen. Auguste Comte [60], der pedantische und beschränkte Bourgeoisphilosoph, erachtete das Wort später für abgegriffen und führte ein Synonym dafür ein: „Altruismus“.

Amélie, die ebenso wie René aus dem väterlichen Hause verstoßen wurde, hatte kein Vermögen. Die standesgemäßen Gatten waren äußerst dünn gesät, während es Überfluß von heiratsfähigen Mädchen auf dem Ehemarkte gab. Die Frage des Lebensunterhalts und Lebensinhalts dieser Mädchen war eine der sozialen Fragen jener Zeit, welche z.B. Say durch seine 1800 veröffentlichte platte Utopie Olbie [*ou Essai sur les moyens de améliorer les moeurs d’une nation] zu lösen suchte, indem er die Errichtung weltlicher Klöster für Mädchen und Witwen nach Art der flandrischen Beguinenhäuser vorschlug. [61] Der Katholizismus hatte den mitgiftlosen Töchtern der Aristokratie vor der Revolution in den Klöstern Asyl geboten. Auch Amélie konnte sich noch in ein solches zurückziehen. Aber Renés Schwester konnte unmöglich wie jede andere gewöhnliche Sterbliche den Schleier nehmen. Sie weihte ihr Leben Jesus, dem Seelenbräutigam, während ihr Herz von einer verbrecherischen Leidenschaft durchwühlt wurde. Als Atalas Mutter in ihrem Schoße das Kind des Spaniers Lopez, des Feindes ihres Volkes, sich regen fühlte, heiratete sie den

großherzigen Sinaghap, der durchaus einem König glich und von den Völkern wie ein guter Geist geehrt wurde.

Die blutschänderische Liebe seiner Schwester liefert René den Stoff zu der Hauptszene des Romans. Die Blutschande ist eines der effektvollsten literarischen Hilfsmittel der Romantiker. [62]

Die Szene, in der Amélie den Schleier nimmt, ist hochdramatisch. Ihre mit Blutschande und religiösem Mystizismus gewürzte Leidenschaft sticht kräftig ab von den endlosen und banalen Betrachtungen Renés über das Schicksal der Reiche sowie von seinen sentimentalen, tränenreichen Deklamationen über die Schwachheit der menschlichen Natur und seinen melancholischen und langweiligen Ergüssen über die Einsamkeit. Die Tendenzromane waren damals an der Tagesordnung. Der „Mercure [*de France]“ vom 1 Germinal des Jahres IX (*1801) schrieb:

Der Roman ist nur ein Vorwand, der Zweck ist, von sich selbst zu sprechen. Der Roman ist eine Arena, in der man angreift und sich verteidigt. Die Anspielungen an die persönliche Haltung, die persönlichen Überzeugungen und Ansichten des Verfassers kehren unaufhörlich wieder Im Roman führt der Verfasser seine Politik, seine Moral, seine Literatur, seinen Ruf, sein Talent, sein Geschlecht zum Siege.

La Nouvelle Héloise, ein allgemein nachgeahmtes Muster, wimmelt von moralischen Abhandlungen, politischen Traktaten, religiösen, literarischen und anderen Kontroversen. Durch das kräftig pulsierende, leidenschaftliche politische Leben, das Jahre hindurch die Gemüter und Geister so gut wie ausschließlich gefangengenommen hatte, war man an langatmige Auseinandersetzungen gewöhnt worden. Sie allein reichten nicht hin, um einen Roman von den Dutzenden anderer zu unterscheiden, die jeden Monat erschienen, und ihm eine allgemeine Popularität zu sichern. So erschien einige Jahre vor René: Les rêveries sur la nature primitive de l’homme [Träumereien über die ursprüngliche Natur des Menschen] (*1799) von Senancour . [63] Obgleich das Werk von Melancholie triefte und mit metaphysischen Geschwätz überladen war, blieb es unbeachtet. Sainte-Beuve konstatiert die Tatsache und fügt ihr hinzu: „Renés Welt wurde tatsächlich von dem entdeckt, dem nicht die Ehre zuteil wurde, ihr seinen Namen zu geben“. Sainte-Beuve irrt sich. Renés Welt war schon vor Senancour und Chateaubriand entdeckt worden, aber Chateaubriand fiel die Ehre zu, ihr das Gepräge seiner Individualität aufzudrücken. Er verstand es, sich der Sprache, der Bilder, der Leidenschaften seiner Zeit zu bedienen, die sentimentale und ideale Welt zu verkörpern, welche in Hirn und Herz seiner Zeitgenossen lebte.

Senancour, der gegen 76 Jahre alt wurde, lebte traurig und einsam. Er hatte einen zartfühlenden, krankhaft empfindsamen und düsteren Charakter. Voll tiefer Melancholie klagte er sein Leid in die Welt hinaus. Das Jahrhundert war dagegen jung, schäumte von Kraftgefühl über, es wollte leben, genießen, Raum und Zeit überwinden. Der im Käfig eingeschlossenen Lerche gleich stieß es sich die Brust an den Hindernissen blutig, die seine Bewegungen hemmten. Heftige Krisen erschütterten es aufs tiefste. Es gähnte und reckte sich, stellte sich auf die Fußspitzen und streckte die muskulösen Glieder. Sein zeitweiliges Unbehagen war nur eine Folge von Übermüdung oder von unbetätigter Lebenskraft. Die Menschen liebten die Taten und suchten die Bewegung. Diejenigen, welche durch den Gedanken wirkten, waren Tatmenschen, wie Julien Sorel in Le Rouge et le Noire, und nicht Schwächlinge und Weltschmerzler wie Obermann, Amaury in Volupté und Didier in Marion de Lorme. [64] Senancour ist innerlich viel weniger mit seinen Zeitgenossen als mit der Generation von 1830 verwandt, deren Vitalität abgenommen hatte. Außerdem lebte er in der Schweiz, in einem sozialen Milieu, das weniger leidenschaftlich erregt war als das zeitgenössische Frankreich und England. Chateaubriand ist der typische literarische Vertreter der Generation, die zu Anfang dieses Jahrhunderts 30 Jahre zählte. Er lebte untätig, die Langeweile verzehrte ihn, die Leidenschaft schüttelte ihn wie ein Fieber, und er gierte nach Abwechslung. Er verabscheute die Einsamkeit, wie Madame de Staël, Rivarol, Fontanes und alle seine Zeitgenossen sie verabscheuten. Aber während er in Wirklichkeit bemüht war, der Einsamkeit zu entfliehen und sich in den tosenden Strom der gewöhnlichen Sterblichen zu stürzen, sang er in den falschesten Tönen von seiner erlogenen schwärmerischen Liebe zur Einsamkeit. Auch das ist typisch. Als man Madame de Staël, einer begeisterten Sängerin der Einsamkeit, die Schönheiten des Genfer Sees pries, rief sie bekanntlich aus: „Oh, wie schön ist der Rinnstein der Rue de Bac“. Die Verlogenheit des Gefühls und der Überschwang des Ausdrucks sind charakteristische Merkmale der Romantik gewesen, von ihrem Ursprung an, der auf Rousseau zurückreicht, bis in unsere Zeit. Die Literatur der Bourgeoisie mußte verlogen sein wie ihre Annoncen, ihre Reklamen, ihre Prospekte, sie mußte gefälscht sein wie ihre Waren.

Die eintönigen und krankhaften Klagen Senancours sind wahr, sind empfunden. Renés Gefühle sind künstlich gewaltsam aufgebauscht und derart auf die Spitze getrieben, daß sie lächerlich wirken. Aber gerade der Überschwang der Gefühle und das Unwahre des Tones gefielen in seiner Zeit. Die Menschen jener Tage regten sich auf, spannten ihre Kräfte auf das äußerste an, um sich eine Stellung zu erobern, um über die Welt des Greifbaren hinauszuschwingen und die Glut und Leidenschaft, die Liebe zum Wechsel und zur Tat zu erschöpfen, die in ihrem Hirn loderten.

Das eintönige Alltagsleben kotzte sie an. „Was!“ so riefen sie aus, „wir sollten Tuch abmessen, Briefe abschreiben und wegen einer lumpigen Kleinigkeit Prozesse führen, wenn man nur in Getreide, Zucker, Kerzen oder sonst einer Ware zu spekulieren braucht, um als Millionär aufzuwachen. Was! Wir sollten in einem Laden hocken, bei Ausübung eines Handwerks verblöden, wenn die Bettler von gestern, die jeder kennt, die jeder mit dem Finger zeigen kann, heute in Equipagen fahren, prächtige Paläste bewohnen, von Gold strotzend und mit Juwelen bedeckt, sich spreizen und sich in den Ministerien breit machen. Haben nicht auch wir ein Anrecht auf die Millionen und die Genüsse der Marquis, der Herzöge, aller der Junker von gestern, welche wir vor die Tür geworfen haben? Das gleiche Recht auf Stellung und Vermögen, das ist die glorreichste Errungenschaft der Revolution!“ Vermögen langsam, durch die Arbeit zu erringen, das war altmodisch, das entsprach der alten Moral, der alten Routine. Die Revolution hatte doch die Bourgeois nicht befreit, um sie unter das Joch der Arbeit zu zwingen. Sie begehrten Reichtum, der ihnen plötzlich, mühelos zufiel, den ihnen ein glücklicher Wurf im Spiel, eine gelungene Spekulation brachte. Sie spielten und spekulierten mit Leidenschaft. Heftige Begierden, welche durch den Anblick des Erfolgs zum Weißglühen erhitzt, durch das Gebot der Wirklichkeit abgekühlt wurden, quälten damals auch die unbedeutendsten Köpfe der Bourgeois, deren Klasse durch die Revolution plötzlich emanzipiert worden war. Um ihre hochgradig erregten, unstillbaren Begierden einzuschläfern, berauschten sie sich an einem Ideal wie mit Opium. Sie schifften in das Land der Träume, in die Welt der Lüge, in die Welt der Poesie.

Das Versgeklingel des 18. Jahrhunderts hatte die Poesie erstarren und verknöchern lassen, sie unfähig gemacht, den neuen Gefühlen der sozialen Psyche Ausdruck zu verleihen. Die Revolution bewirkte eine Erneuerung der Sprache, die auf der Tribüne gesprochen, in Zeitungen und Romanen geschrieben wurde. Worte, Redewendungen, Satzbildungen, Bilder, Vergleiche, die aus allen Teilen Frankreichs und von allen Schichten der Nation stammten, hielten ihren Einzug in die sorgsam gedrechselte, abgeschliffene, leichte und elegante Sprache der aristokratischen Salons, in die Sprache Montesquieus und Voltaires, und revolutionierten sie. Die Prosa nahm dichterischen Schwung an, weil die Poesie in die ödeste und steifste Prosa verfallen war. Chateaubriand bemächtigte sich der von der Revolution geschmiedeten Sprache und handhabte sie als genialer Virtuose. Erst nachdem die Sprache der Romantiker in der Prosa ihre rhetorische Überlegenheit erwiesen und die Elemente einer Sprache der Poesie herausgearbeitet hatte, konnte Victor Hugo seinerseits die Romantik auf dem Gebiete der Poesie zum Siege führen.

 

 

Anmerkungen

30. Madame de Staël: De la litterature considere dans ses rapports avec les institutions sociales, Discours preliminaire, 1800. Madame de Staël entwickelt in diesem Werke geniale Ansichten über den Einfluß, den das soziale Milieu auf die Entwicklung der literarischen Form ausübt. Taine hat die Schrift geradezu schmachvoll geplündert, ohne indessen immer die Tragweite dessen zu erfassen, was er raubte.

Hier zit. nach: Ueber die Literatur, 1, XXXVIII (Vorrede zur 2. Ausgabe).

31. * Literatur- und Kulturzeitschrift, von Jean Donneau de Visé (1638-1710) als Mercure galant 1672 gegründet.

32. Jean François de Laharpe (Del[a]harpe) (1739-1803), französischer Kritiker und Dichter, berühmt wegen seines eleganten, feinen Stils. 1786-1798 war er Literaturprofessor an dem neugegründeten Lycee.

33. (*Jean François de la) Laharpe:·Sur le tutoiement, Œuvres complètes, V.

34. Mémoire d’un détenu pour servir ä l’histoire de la tyrannie des Robespierre, par Riouffe, arrêté a Bordeaux par un comité révolutionnaire [????]. Die Schrift wurde einige Wochen nach dem Sturz der Thermidoristen veröffentlicht. Die entsetzliche Furcht, welche sich der Gemüter bemächtigt hatte, hat sich auf manche Kinder vererbt. Taine zitterte sein Leben lang unter der Furcht, welche sein Großvater während der Revolutionszeit empfunden hatte. Der Umstand erklärt die törichte Wut, die ihn manch ungereimtes Zeug gegen die Revolution räsonnieren ließ. Und doch war es die Revolution gewesen, die ihn emanzipiert hatte!

35. * Papiergeld der ersten französischen Republik, das einer ungeheuren Abwertung ausgesetzt war (im Sommer 1794 war ihr Wert auf 34 Prozent des Nominales gesunken).

36. * Die Schriftstellerin Stéphanie Félicité due Crest de Saint-Aubin Comtesse de Genlis (1746-1830) war während der Revolution (bis 1802) außer Landes. Sie schrieb zahlreiche pädagogische Bücher (u.a. Erziehungstheater für junge Frauenzimmer) und vielgelesene Romane. Sie war die Vertraute des Herzogs von Orléans.

37. * Ernest Legouvé (1807-1903) begann als Schriftsteller mit Gedichten und Romanen. Bekannt wurde er allerdings durch seine Vorlesungen am Collège de France (u.a. Histoire morale des femmes [Sittengeschichte der Frauen], 1848)“.

38. * Der Schriftsteller Joseph Fiévée (1767-1739) war auch als Direktor des Journal des débats tätig.

39. * Charles Antoine Guilleaume Pigault d’Epigny (1753-1835) betätigte sich als Kaufmann, Gendarm, Schriftsteller, Professor ...

40. * Es handelt sich dabei wahrscheinlich um die Übersetzung von M.G. Lewis Schauerroman The Monk, der 1776 in England erschien.

41. * Anne Radcliffe (1764-1823) verfaßte „Gothic novels [gotische Schauerromane]“ – der bekannteste ist Mysteries of Udolpho [Udolphos Geheimnisse] (1794).

42. * Lawrence Sterne (1713-1768) feierte weltweite Triumpfe mit seinem Roman Tristram Shandy (1760) geprägt von Intellektualität und launisch-skurillem Humor; in seiner Manier verfaßte Diderot Jacques le fataliste [Jacques, der Fatalist].

43. Madame de Staël: De la litterature etc., Discours preliminaire, 1. partie, chap. XVIIl, et 2. partie, chap. V. * Hier zit. nach: Ueber die Literatur, 2, 1 und 2, 122.

44. * Jules Janin (1804-1874), Journalist und langjähriger Theaterkritiker bekannter Blätter. Seine besten Artikel sind in der sechsbändigen Histoire de la littérature dramatique (Paris 1853-1858) gesammelt.

45. Diese Charakterstudie in horazischer Satirenform, etwa 1760 geschrieben, wurde 1805 von Goethe ins Deutsche übertragen, daraus 1821 ins Französische rückübersetzt und erst 1891 im Urtext editiert.

46. Paul de Kock (1793-1871) schilderte in zahlreichen, populären Fortsetzungsromanen in Zeitungen die Welt des Pariser Kleinbürgertums.

47. * Stadt in der Provinz Mailand; 1796 siegte hier Napoleon über Österreich.

48. * Griechische Insel, deren Name zugleich ein allegorischer Begriff für Liebesfreuden war.

49. * Nach der Niederlage gegen Napoleon in der Lombardei mußte Österreich im Frieden von Campo Formio im Oktober 1797 Belgien und Mailand gegen Venedig eintauschen.

50. * Louis Jean Mepomucène Lemercier (1771-1840), Schriftsteller und überzeugter Republikaner.

51. * Die Schandtat der Männer von Gibea in: Richter 19, 1-30

52. * Der Advokat Jean Baptiste Carriere (1756-1794/ hingerichtet) war Anhänger der Montagne, 1793 Konventskommissar in Nantes.

53. * Antoine Vincent Arnault (1766-1834) war ein Vertreter der klassischen französischen Tragödie.

54. * The works of Ossian [Die Werke Ossian] ist der Titel eine Buches von James Macpherson (1736-1796), die er als Überlieferung alter gälischer Lieder des blinden Helden und Sänger Ossian ausgab.

55. * Der Schriftsteller William Godwin (1756-1836) verkündete in seinen Schriften anarchistische und atheistische Ideen. Er hatte großen Einfluß auf die englische Romantik. Seine Frau Mary (1759-1797) war die erste Frauenrechtlerin Großbritanniens.

56. Raison, folie, chacun son mot: petit conte moral à la portée des vieux enfants par P.E.I. [Vernunft, Wahnsinn, jedem sein Wort: kleines erbauliches Märchen für alte Kinder], Paris, an IX (*1801). Diese Broschüre, die nicht so drollig ist, wie man nach dem Titel schließen sollte, enthält interessante Ausführungen über die Arbeitsteilung.

57. * William Pitt der Jüngere regierte von 1783-1806 als Premier Großbritannien. Er führte den Kampf gegen die französische Revolution und Napoleon.

58. * Philippe Herzog von Orléan (1747-1793) war Mitglied der Generalstände und stimmte für die Hinrichtung seines Vettern, Ludwig XV.; deshalb erhielt er auch den Spitzname „Philippe Égalité“. Nach der Flucht seines Sohnes, der später als Louis Philippe Frankreich regierte, wurde er des Verrates beschuldigt und hingerichtet.

59. Essai, 60. Der Egoismus ist die Bourgeoistugend par excellence geblieben. Er ist das naturnotwendige Produkt des kapitalistischen Wirtschaftssystems und der f’reien Konkurrenz, welche in der kapitalistischen Gesellschaft den schonungslosen, waffenstillstandslosen Krieg aller gegen alle entfesseln und unterhalten.

60. * Der französische Philosoph Auguste Comte (1798-1857) gab der Soziologie ihren Namen und ihr erstes wissenschaftliches System. Er wollte eine auf Positivismus beruhende neue Menschheitsreligion ins Leben rufen.

61. * Jean-Baptist Say (1767-1832) beschreibt in diesem Essai eine Marktwirtschaft ohne Krisen. Der allgemeine Wohlstand läßt neue Bedürfnisse entstehen, die die Tätigkeit anspornen und den Wohlstand weiter vermehren.

62. * Das Thema der inzestiösen Liebe hatte allerdings bereits die Aufklärer beschäftigt. Für den Marquis de Sade und Restif de la Bretonne war der Inzestgedanke geradezu eine Obsession.

63. * Étienne Pivert de Senancour (1770-1846) war ein von Rousseau beeinflußter Schriftsteller der Frühromantik.

64. Obermann (*1804) – Titelgestalt des (*Bekenntnis-)Romans von Senancour; Amaury – Titelgestalt in Sainte-Beuves analytischem autobiographischem Roman Volupté [Wollust] (*1834); Didier – Liebhaber in Victor Hugos romantischem Drama Marion de Lorme (*1831) (Anmerkung des Herausgebers).

* Le Rouge et le noir [Rot und Schwarz] (1830) von Stendhal (1783-1842) ist die Geschichte eines völlig in Ehrgeiz und gesellschaftlichem Funktionieren aufgelösten Gewissens.

 


Zuletzt aktualisiert am 16.8.2004