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Die französische Sprache vor und nach der Revolution |
Eine Sprache wird gleich einem lebenden Wesen geboren, sie wächst und stirbt; sie hat in ihrem Lebenslauf eine Reihe von Evolutionen und Revolutionen durchzumachen, wobei sie Wörter, Wendungen und grammatikalische Formen teils sich einverleibt, teils ausstößt.
Die Wörter einer Sprache leben wie die Zellen einer Pflanze oder eines Tieres ihr eigenes Leben: ihre Lautverhältnisse, ihre Schreibweise ändern sich ohne Unterlaß; so schrieb man im Altfranzösischen „prebstre [heute prêtre – Priester]“, „cognoistre [connaitre – kennen]“, „carn [chair – Fleisch]“, „charn [charnel – fleischlich]“ usw. Ebenso wechselt ihre Bedeutung: „bon [heute fast nur mehr adjektivisch: gut]“ wurde früher als Substantiv gebraucht für Gut, Gunst, Gewinn, Vorteil, Gutdünken und anderes [2]; Jean le bon bedeutete nicht Johann der Gute, sondern der Tapfere; bonhomme war zuerst gleichbedeutend mit Mann von Mut und Klugheit, während es jetzt einen gutmütigen Schwachkopf bezeichnet. Das griechische Wort „nomos“, von dem auch „Nomade“ herstammt, hat eine ganze Reihe der verschiedensten Begriffe nacheinander bezeichnet, die auf den ersten Blick auch nicht den mindesten Zusammenhang untereinander zu haben scheinen. Anfangs hieß es „Weide, Trift“, dann „Aufenthalt, Wohnsitz, Landesteil“, bis es zu guter Letzt den Sinn „Brauch, Sitte, Gesetz“ bekam. Die verschiedenen Bedeutungen des „nomos“ kennzeichnen ebensoviele Stufen, die ein Hirtenvolk durchzumachen hatte, als es seßhaft wurde, zum Ackerbau überging und sich zum Begriff des „Gesetzes“ emporschwang, das im Grunde nur die Aufzeichnung alter Sitte und Gewohnheit darstellt. [3]
Wenn die Sprache ständig in Umwandlung begriffen ist, so rührt das daher, daß sie das unmittelbarste, charakteristischeste Produkt menschlichen Geistes darstellt. Die wilden und die barbarischen Völkerstämme teilen sich bei ihrem Wachstum in Gruppen, die geschieden voneinander leben: so kommt es, daß diese Abzweigungen sich nach einer gewissen Zeitspanne gegenseitig nicht mehr verstehen, so stark haben sich die Dialekte verändert.
Jeder Wechsel im menschlichen Wesen, im Milieu, in dem es sich entwickelt, gibt sich in der Sprache kund. Änderungen in den Lebensgewohnheiten, wie der Übergang vom Land- zum Stadtleben, politische Ereignisse, alle hinterlassen ihre Spuren in der Sprache. Völker mit rascher politischer und sozialer Entwicklung ändern ebenso rasch ihre Sprechweise, während andere, die keine Geschichte haben, zäh an der alten Sprache festhalten.
Rabelais’ [4] Französisch verstanden schon 100 Jahre nach seinem Tode nur mehr die Gelehrten; andererseits hat sich das Isländische, die Muttersprache des Norwegischen, Schwedischen und Dänischen, in Island in fast ungetrübter Reinheit erhalten.
Vico [5] hat zuerst darauf hingewiesen, daß die meisten Wörter dem „wilden, bäuerlichen [selvaggie e contadinesche]“ Zeitalter entstammen: wie die marmornen Rundtempel Roms die Form der Holz- und Lehmhütten der altlatinischen Barbaren verewigten, so tragen die Wörter einer jeden Kultursprache noch den Stempel des urmenschlichen Waldlebens. So bedeutet im Griechischen „gone“ Same, Frucht, Junges eines Tieres und Kind; „sperma“ Samenkorn, (tierischer) Same, Rasse. „bus [Ochse]“ hat im Griechischen eine Menge Wörter bilden helfen; manche davon sind auch ins Französische übergegangen, das viele Worte hellenischen Ursprungs aufzuweisen hat, so „bouvier [Kuhhirt}“, „bouvart [junger Stier]“, „bouvard [Münzhammer]“, „bousculer [herumstoßen]“, „bouse [Kuhmist]“, „bouffer [gierig fressen]“, „bouffon [Hanswurst}“: „bouphonos [Ochsentöter]“ hieß in Athen ein Priester des Zeus, der vor und nach der Opferung eines Ochsen Komödie zu spielen und ihn anzuklagen hatte, er habe vom Altar des Gottes Opfergaben gefressen (Pausanias, I, XXIV). [6]
Vielleicht noch klarer als die einzelnen Wörter lassen sprichwörtliche und ungezwungene Redewendungen erkennen, wie eng eine Sprache an die Erscheinungen des Milieus gebunden ist. Zur Zeit, als noch die Talgkerze (chandelle) das Hauptbeleuchtungsmittel darstellte, mußte sie den Dichtern zu den feinsten Vergleichen herhalten. So machte Ronsard [7] einer Dame das Kompliment, „ihre Augen strahlten wie Kerzen“. Das Wörterbuch von Trévoux (1743) [8] bemerkt: „Man sagt von sehr lebhaften glänzenden Augen, sie glänzten wie Kerzen“. „Économiser des bouts de chandelles [Lichtstümpfchen sparen – dann überhaupt knausern], „le jeu ne vaut pas la chandelle [das Spiel lohnt nicht die Kerze – die Sache ist nicht der Mühe wert], „se brûler à la chandelle [sich am Licht verbrennen, sich blenden lassen] “, sind Ausdrücke der Umgangssprache, die nun verblassen, seit uns Petroleumlampe, Stearinkerze und Gas leuchten. [9]
Eine Sprache kann sich nicht von ihrem gesellschaftlichen Milieu unabhängig machen, ebensowenig wie man eine Pflanze ohne weiteres aus ihren klimatischen Verhältnissen herausreißen kann. Die Sprachforscher wissen für gewöhnlich nichts von der Wirkung des Milieus oder wollen nichts von ihr wissen; viele von ihnen glauben den Ursprung der Wörter, ja selbst mythologischer Geschichten einfach im Sanskrit, der Sprache der Hindus, zu finden. Der Sanskrit ist für die Sprachforscher, was die Schädellehre für den Anthropologen: das „Sesam, öffne dich!“ zu allen Mysterien. Ich könnte zum Entsetzen des Lesers ein endloses Verzeichnis von Wörtern wiedergeben, die ein berühmter Orientalist aus dem Sanskritwort für „glänzen“ ableitet. Die etymologischen Resultate der Orientalisten müßten übrigens doch etwas weniger widerspruchsvoll sein, um uns dazu bewegen zu können, ihrer Methode zuliebe die Milieutheorie aufzugeben, die sich in allen Zweigen der Natur- und Geschichtswissenschaften immer uneingeschränkter Geltung zu verschaffen sucht.
Eine geniale Frau hat in Frankreich die Milieutheorie in die Literaturkritik eingeführt. Madame de Staël [10] wies 1796 in ihrem Werke: De la littérature dans ses rapports avec les institutions sociales [Die Literatur und ihr Verhältnis zu den gesellschaftlichen Einrichtungen] klar und deutlich darauf hin, daß eine neue Literatur notwendig geworden sei, um die neuerwachten Bedürfnisse des von der Revolution geschaffenen Milieus zu befriedigen, doch nur nebenbei und nur um zu tadeln kommt sie dort auf die Umwandlung zu sprechen, die die Sprache, das Werkzeug jeder Literatur, durchgemacht hat. [11] Nach der Revolution und der Zertrümmerung des „ancien regime [alten Regimes]“ war es ebenso unmöglich, sich mit der alten Literatur aus dem Zeitalter Ludwigs XIV. [12] zu begnügen, als seine Sprache weiterzusprechen.
Aufgabe unseres Artikels soll es sein, den Charakter und die Bedeutung dieser sprachlichen Umwandlung zu untersuchen.
2. Lacurne de Sainte-Palaye: Dictionnaire de l’ancien langage françois depuis son origine jusqu’au siècle de Louis XIV. * Der Schriftststeller Jean Baptiste de Lacurne de Sainte Palaye (1697-1783) war ein Briefpartner Voltaires.
3. In meinen Untersuchungen über den Ursprung der Idee des Gerechten und Ungerechten (* Revue philosophique, septembre 1885/Neue Zeit, XVII [1898-99] 421ff., 464ff., 488ff..) habe ich nachzuweisen versucht, daß man durch Zurückgreifen auf die ursprüngliche Bedeutung der Wörter dazu kam, den Ursprung abstrakter Ideen in den Köpfen der Menschen zu erklären, von denen man bislang annahm, sie seien ihnen von Natur aus angeboren.
4. * François Rabelais (1494-1553) war der führende Romancier der Frührenaissance. Sein Hauptwerk ist Gargantua und Pantagruel, ein Satire auf Mönche, Theologen und Juristen, die vom Papst sofort auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt wurde.
5. Giambattista Vico (1668-1743) war der scharfsinnige Begründer der modernen Völkerpsychologie und Geschichtsphilosophie (Anmerkung des Übersetzers).
6. * Die griechische Schriftsteller Pausanias verfaßte zwischen 160-180 n.u.Z. einen Reisebericht über Griechenland, der eine der wichtigsten Quellen für die Geschichte, Archäologie und Religionsgeschichte darstellt.
7. Pierre de Ronsard (1524-1584), der „Fürst der Dichter“, als begabtestes Mitlglied der „Pléiade“, des „Siebengestirns“, einer Schule von sieben Dichtern, Begründer des gelehrten Klassizismus in der französischen Literatur (Anmerkung des Übersetzers).
8. * In der Stadt Trévoux gab es eine Druckerei, die das Dictionnaire de Trévoux veröffentlichte.
9. Das wurde vor 20 Jahren geschrieben, ehe noch das elektrische Licht seine Herrschaft angetreten hatte (Anmerkung des Übersetzers).
10. * Ueber Literatur in ihren Verhältnissen mit den gesellschaftlichen Einrichtungen und dem Geist der Zeit – Ein historisch-philosophischer Versuch der Frau von Staël-Holstein geborene Necker, Leipzig 1801, II, 81ff., 211.
11. Taine hat sich von seinem ersten Auftreten an durch die Anwendung der Milieutheorie in seinen sehr bemerkenswerten literarischen Arbeiten den Erfolg gesichert; hätte er bei seiner großen Belesenheit Madame de Staëls Buch erwähnt, man könnte glauben, er habe sich bei ihr die Anregungen für seine literarischen Theorien geholt und von ihr seine Kritik der Schriftsteller des 17. Jahrhunderts entlehnt. – Ich werde im Verlauf des vorliegenden Artikels einige Stellen aus dem Werk von Madame de Staël zitieren, die dem Leser einen Begriff von seiner Feinheit und Tiefe geben.
12. * Absolutistischer „Sonnenkönig“ (1661-1715), der die Ausdehnung des französischen Staatsgebietes bis an den Rhein und die Hegemonie über Europa anstrebte.
Zuletzt aktualisiert am 22.8.2004