Paul Lafargue

 

Die Bürgerliche Korruption [1]

(Juli 1866)


La corruption bourgeoise, La rive gauche, 27. Juli 1866.
Übersetzer: Rudolf Segall.
Deutschsprachige Erstveröffentlichung: Paul Lafargue, Essays zur Geschichte, Kultur und Politik (Hrsg. Fritz Keller), Karl Dietz Verlag, Berlin 2004.
Stellen, die mit einem Stern * versehen sind, sind Einfügungen des Herausgebers.
Transkription: Fritz Keller.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Die Bourgeoisie ist verfault, so wie es der Adel zur Zeit Ludwig XV. [2] war. Sie besitzt keine Lebenskraft mehr – diese wurde völlig zerstört. Das war unvermeidlich.

Schon unmittelbar nach dem Sieg schwanden ihre Kräfte, ihre Moral. Solange sie sich in Gegenwart des Adels befand, war sie zahlenmäßig und ihrer Begabung nach eine mächtige Klasse. Sie wollte, dachte, produzierte, stellte Überlegungen an, kämpfte – heute handelt, spekuliert sie, treibt Börsenwucher. Sie ist ein elender Haufen.

Das Leben tierisch zu genießen ist ihr einziges Ziel. Um das zu erreichen, ist ihr jedes Ziel recht.

Ihr moralischer und körperlicher Verfall ist erschreckend.

Die Macht ist zu einem Hindernisrennen geworden. Die politische Welt besteht nur aus Prostitution. Alle, die Herren wie die Diener, sind nur gedungene Knechte – die einen des Geldes, die anderen eines Ranges oder Titels wegen.

Die Stützen des Empire [3], ob sie sich dessen rühmen oder es verbergen, ob sie sich eingliedern oder auf es geschworen haben, jubelten in ihrer Jugend allen nach 1830 aufgetretenen Systemen zu und haben ihnen zugestimmt. Die Gerissensten, die Männer mit großen Philosphenbärten und langen Trauerweidenhaaren, haben stets fest an der Position der Regierungsopposition festgehalten. Sie kennen aus Erfahrung ausgezeichnet die Vorteile einer solchen Situation. Entsteht eine Bewegung, dann bereiten sie ihre angeblich geleisteten Dienste und ihre politische Ehrenhaftigkeit vor den Massen aus und rechnen damit, sie zu gewinnen; aber noch sind wir da, wir werden sie demaskieren. Denn hinter den Kulissen vertragen sie gut mit den Leuten an der Macht, sehen sie, besuchen sie häufig, natürlich rein privat, erweisen kleine Gefälligkeiten, mal ein bißchen Belästigung, dort ein kleiner Angriff ... Alles ganz freundlich und höflich. – Pack schlägt sich, Pack verträgt sich!

Haben wir sie nicht alle gesehen, alle, Katholiken und Legitmisten, Orléanisten und Bonapartisten, eingeschworene Demokraten und republikanische Demokraten, wie sie bei dem berühmten Fest von Nancy die Verbrüderung feierten. – Das war ein rührender Anblick. – Der wahre Ort des allgemeinen Friedens ist dort gefunden worden. Die feudale Gemeinde, mit dem Gutsherren des Dorfes, dem Pfarrer, begleitet von Feldschützen und Gendarmen – das ist dieser vom Glück begünstigte Ort. – Mein herrliches Zeitalter! Du kannst dich ausruhen, du hast genug für die Menschheit getan, du hast die räuberischen Wölfe mit den sanften Schafen versöhnt!

Für unsere guten verschworenen Redner bleibt ein Gedanke ein Mythos. Im Munde führe sie die großen Worte „Freiheit“, „Gleichheit“, „Republik“ und die ganze alte Leier – aber das ist auch alles. Sie sind außerstande, den Sinn zu erfassen, und sie stoßen Schreie aus und schleudern den Bannfluch gegen den kühnen Unvorsichtigen, der es wagt, sie bei ihrer scheinheiligen und einträglichen Unwissenheit zu stören. Ganz sicher steht ihnen das Himmelreich offen. Nur immer hinein mit ihnen – aber bitte dort bleiben!

Die politische Presse, die „große“ im Gegensatz zur „kleinen“ genannt, weil die sich nur mit den Taten und Gebärden der galanten und großen Damen befaßt, hat nicht den geringsten Grund auf sie neidisch zu sein. Die einen verschleiern ihre Schandtaten mit klangvollen Phrasen und einem Schein der Tugend, die andere setzt ihre scheußliche Nacktheit dem vollen Tageslicht aus. Wir jedoch ziehen den Zynismus der Prüderie vor.

Obwohl sich die große Presse den Anschein einer griesgrämigen Prüden gibt, läßt sie sich bereitwillig von der Macht streicheln. Ein aus dem Büro des Ministeriums gesandter diskreter Bote unterrichtet sie über das, was sie behandeln oder vermeiden soll.

Die Launenhaftigkeit der Presse ist sehr ausgeprägt. Nachdem sie den Herren von Bismarck [4] angegriffen und kritisiert hatte, hat sie ihn neuerdings zu einem großen Mann erklärt und war dabei, ihm zur Belohnung einen Lorbeerkranz für seine unerschütterliche Treue beim Halten seiner Schwüre und seine Größe, sich den Gesetzen seines Landes zu unterwerfen, zu winden. Da aber haben die unseligen Zündnadelgewehre dieses schöne Loblied in schrille Dissonanzen verwandelt. [5] Kein Wunder! Das Empire war über die Erfolge Preußens erschrocken, und dieses, durch seinen leichten Sieg überheblich geworden, vergaß seine Versprechungen. Schnell ist darauf die Presse, auf einen Wink von oben, wieder streitsüchtig geworden und zeigt die Zähne.

Die Götter der Finanz haben freien Zutritt zur großen Presse und können sie leicht beeinflussen. Auch bewahrt sie ein gottesfürchtiges Stillschweigen über die faulen Geschäfte der Börsenspekulation. Man denke an den Prozeß der Marseiller Docks und die scheue, reservierte Haltung der französischen Presse. Eine zaghafte Messalina [6], wahrlich!

Und hier wollen wir nicht von den offiziellen Zeitungen – wie Le Pays [Das Land] [7], Le Constitutionnel [Der Verfassungsmäßige] [8] und anderen – sprechen. Nein. Der Skandalprozeß des Constitutionnel hat uns hinreichend über ihre Moral belehrt. Diese versuchen zumindest nicht, ihr Spiel zu verbergen, sie bekennen sich ganz offen als verächtlich, als bonapartistisch; aber wir wollen von dieser sogenannten oppositionellen imperialen Presse sprechen ... der dynastischen und bürgerlichen. [9]

Die Geschäfte gedeihen prächtig.

Hallali! Das ist das Recht der Jäger! – Drauf los, mehr Moral, mehr falsche Scham. – Los, bedient euch der Zähne und Krallen. – Ja, die Stärksten, die Gerissensten sind die Könige! – Warum sich denn schämen? – Ist das Gold nicht der einzige vorhandene Gott? Gereicht es nicht zur Ehre, zur Tugend? Man richtet ganze Generationen zugrunde, man tötet sie, was macht’s? Geld stinkt nicht. Aus welcher Hand es kommt, welchem Sumpf es entstiegen ist: es ist immer gut.

Im Handel werden die Rohmaterialien frech verfälscht; die Wachsamkeit der ganzen Polizei reicht nicht aus, um das aufzudecken. Der Bankrott hat sich zur Höhe einer gesellschaftlichen Einrichtung aufgeschwungen. – Man meldet einen Konkurs an, wie man ein Glas Wasser trinkt. – Aber zuvor hat man dafür gesorgt, seine Tochter zu verheiraten und sie mit einer üppigen Mitgift auszustatten. – Nachher teilt man mit dem Schwiegersohn.

In den Handelsstädten heißt es: „Kurz und schmerzlos“. Gewaltige Reichtümer entstehen und vergehen im Verlauf einiger Jahre, und während der Prosperität treibt die Familie eine zügellose Verschwendung. Die Frau leistet sich eine phantastische Toilette – der Gatte baut kleine Häuser, wo er seine Mätressen unterbringt – ach ja, sie verstehen zu leben!

Hast Du Geld, dann wirst du glücklich sein: das ist der oberste Grundsatz, der den Kindern vom frühesten Alter an beigebracht wird. Das junge Mädchen wird aus finanziellen Überlegungen entjungfert, – man wirft sie völlig verstört in das Bett eines Unbekannten, – er ist reich, das genügt. Sie wird glücklich sein, sie wird Spitzen und Diamanten haben.

Die Verheiratung ist zu einem Handelsobjekt geworden.

Die beiden Väter treffen sich, klopfen sich auf die Schultern:

„Wieviel bekommt Eure Tochter?“

„100.000 Francs bar und 200.000 aus der Erbschaft“.

„Und Euer Sohn?“

„Es geht ihm gut, er hat ein Einkommen von 500.000 Francs, er wird an der Firma beteiligt sein. Was sagen Sie dazu?“

„In Ordnung. Möchten Sie meine Tochter?“

„Jawohl.“

„Bringen Sie morgen den jungen Mann; wir werden das Aufgebot nächst Woche bekanntgeben, und in einem Monat wird das Liebespärchen vereint sein.“

Sind das nicht wirklich Glückspilze? Sie besitzen Väter, die alle ihre Angelegenheiten regeln.

In Paris gibt es eine Heiratsvermittlung (die Firma Foy). Ihr schreibt: „Ich bin Arzt, Rechtsanwalt oder Hausmeister – ich habe soundso viel (wichtig!) und brauche eine Frau, rot oder braun; Jungfrau oder Witwe, jung oder alt, mit (wichtig!) einer Mitgift von ...“ Und der Lieferant bemüht sich, sie zu finden. Alles geht über Vermittler, Beauftragte, wie für Könige.

Von jeher antireligiös fühlt die Bourgeoisie ihr nahes Ende und wird reumütig. Sie hat sich blindlings in die Arme der Kirche geworden. Sie ist fromm geworden. Aber die Kirche ist für sie keine ernste Angelegenheit mehr, sondern eine Sache der Mode und des guten Tons. Unser Jahrhundert wird keine religiösen Märtyrer mehr erleben. Nach dem Gelage, in der Gesellschaft von Erzbischof und Pfarrer, macht sich die Bourgeoisie über die gegen die Kirche gerichteten Schmähschriften, über das ganze Affentheater lustig.

Da gab es die finstere Religion des Mittelalters mit ihren Pechfackeln, ihren Scheiterhaufen, mit ihren von Kopf bis Fuß schwarz gekleideten Inquisitoren, mit den düsteren und schweigsamen Gängen in den Klöstern, wo die vom menschlichen Kummer ermüdeten Herzen sich im Gebet und Vergessen ausruhten, mit seinen schrecklichen Gefängnissen, in die Sünder lebendig für immer begraben wurden, mit ihrer mystischen und schmerzhaften Kunst, mit ihren hohen Kathedralen, deren hochragende Turmspitzen die schmerzerfüllten Klagen der endlichen Sterblichen zu den Füßen des Allerhöchsten zu tragen schienen ... Bestimmt war die Religion mit all diesen schrecklichen Begleiterscheinungen eine schöne und große Sache, das war der Kult Gottes in seiner ganzen Logik, in seinem ganzen Schrecken. Ihr Inquisitoren des Mittelalters, wir bewundern euch – ohne daß je eure Hand gezittert, ohne daß es euch das Herz gebrochen hätte, habt ihr die Menschheit an den Marterpfahl gefesselt. – Ihr habt dafür gesorgt, daß Gott gehaßt und verwünscht wurde. – Ihr wart Revolutionäre.

Oh großer Papst Gregor VII. [10], unter dessen Sandale sich die stolzesten Könige beugten, du konntest in deinem berechtigten Stolz folgende großartigen Worte äußern:

„Es gibt nur meinen Namen in der Welt, und er füllt sie gänzlich aus. Nur er soll in den Kirchen und außerhalb der Kirchen ausgesprochen werden, nur er hat das Recht auf Achtung und Verachtung aller, wer sie auch sein mögen: Schurken, Ritter, Könige oder Kaiser. Ich bin der Sitz Gottes, durch den er seine Urteile verkündet. Ich kann über alle Menschen zu Gericht sitzen, und niemand kann es über mich. Alle Gerichtsbarkeiten sind mir unterworfen. Ich kann alle Urteile aufheben, indessen kann niemand Berufung gegen die von mir ausgesprochenen einlegen“.

Gregor VII., oh sieh’ dir deine Religion an, sie hat sich auf einen Vergleich eingelassen, sie ist entartet, heruntergekommen – sie schont die fette Bourgeoisie und macht ihr den Hof.

Das von den Evangelien, den Konzilen und den Kirchenvätern mißbilligte Zinsdarlehen ist als erlaubt zugelassen worden. Ein Papst, dein Nachfolger, hat bei einem Juden, bei Rothschild [11], eine Anleihe aufgenommen. [12] Man muß gut in sein Jahrhundert hineinpassen. Die Erzbischöfe und hohen Würdenträger deiner Kirche leben in gutem und besten Einvernehmen mit den Finanzkönigen, die Pereire [13], den Mirès [14] usw.

Die Scheiterhaufen, die Foltern, die Fasten, die Kasteiungen sind verschwunden. Deine Religion, voller Sanftmut gegenüber der Bourgeoisie, nimmt sich ihrer Interessen an, verteidigt von der Kanzel herab ihre von den Sozialisten angegriffenen Privilegien, fordert die Mitrailleuse [15] gegen die Atheisten, diese Störenfriede der sozialen Ordnung, vertuscht ihre Laster. Sie profitiert von ihnen. – Pfui Teufel!

Wenn unsere tapferen Bourgeois sich über die Religion lustig machen oder sie bei Bedarf angreifen, erkennen sie doch, mit ihrer zarten Seele, ihren hohen Nutzen für das Volk an. Es macht so viel Schlimmes durch, damit sie, die Brahmanen [16], ohne Schweiß und Mühe genießen können. Für sie die süße Muße, für den Plebs die harte Mühsal. Was kann man da schon tun? Gott mischt sich hier ein und billigt alles: „Es wird immer Arme unter euch geben“ [17]) Man muß ihnen Trost spenden, ihnen eine Bibel in die Hand drücken und ihnen die Pforten des Paradieses öffnen. Diese Theorie wird lang und breit bereits in den Études religieuses [Religiöse Studien] von Renan [18] entwickelt, sowie auf den letzten Seiten des Claude Gueux [19] von Victor Hugo, das aber sein bestes Buch ist. [20] Trotzdem fühlen diese guten Leute das Bedürfnis, die Elenden hier unten ein wenig zu trösten; sie preisen die Wohltätigkeit, hängen sich ein Mäntelchen um, verteilen (öffentlich) Fünf-Francs-Stücke, laden Bettler an ihren Tisch und verkünden das in ganz Europa.

Ja, meine guten Herren, meine lieben Opiumspender [21], was werdet ihr dem Volk sagen, wenn es sich, des Leidens überdrüßig, eines Tages empört und das Recht einfordert, arbeitend ein Leben zu führen; ihr werde auf das Volk schießen, wie man es im Juni (*1848) erlebte. – Fort mit Euch Heuchlern, ihr seid noch weniger wert als die Inquisitoren, die zumindest logisch und aufrichtig waren, sie folterten die Körper, glaubten jedoch, die Seele zu retten.

Die Wissenschaft ist der Bourgeoisie weder etwas Heiliges noch Ehrwürdiges, für das man Geld und Leben opfern könnte. Nein. – Sie dient nur der Zerstreuung, sie vertreibt die Müdigkeit, hier findet sie von ihren Plänen, ihren Handelsgeschäften Erholung. Seht euch nur an, wie die fette Bourgeoisie geistesabwesend und gähnend die kleinen wissenschaftlich, von unseren weisen Eunuchen fabrizierten Bücher überfliegt.

Dabei braucht ihr keine Angst zu haben – nichts wird ihre religiösen und gesellschaftlichen Auffassungen verletzen. Alles ist so zurechtgestutzt, um ihr zu gefallen ... Man muß sagen, daß es genügend feige, niederträchtige Gelehrte gibt, die die Wissenschaft verstümmeln und sie derart umgewandelt als Nahrung für den Müßiggang unserer bürgerlichen Rohlinge anbieten. Es gibt hingegen auch andere, die ihr in Ehrfurcht vor der göttlichen Wissenschaft ihre letzten Formulierungen – den Atheismus, den Sozialismus – an den Kopf werfen. Diese aber treibt man in den Ruin, man jagt sie: man würde sie selbst verbrennen, wenn man es wagen könnte.

Die Kunst hat sich auf das Niveau der gesellschaftlichen Korruption begeben. Unsere Künstler haben völlig den Geschmack der Epoche begriffen, und sich bemüht, ihn zu treffen. Es ist ihnen gelungen.

Die Spartakus-, die sterbenden Lucretia-Statuen [22] ermüden. Deshalb fertigen sie für uns schöne Dirnen, Wollustgöttinnen an. Sicher liebte die Antike und ihre Bildhauer das Nackte; aber ihre Statuen sind rein. Unsere nackten Frauen sind nur Venusstandbilder mit schönen Hintern, unzüchtigen Brüsten, dazu geschaffen, schlüpfrige Wünsche zu wecken und die Bordelle zu zieren. „Wir machen nichts als Sch...!“ sagte zu Proudhon [23] ein großer verzweifelter Künstler.

In der Literatur fließt die Kloake über. Die fieberhafte, krankhafte Liebe ist zum bevorzugten, ja einzigen Thema unserer Romanschriftsteller geworden. Über den Reichtum, die Macht des Geldes gerät man in Begeisterung. Der Ehebruch, der Diebstahl, der Mord sind die am häufigsten angewandten Mittel um ungesunde Neugier zu erregen. Die Sitten der galanten Damen werden in allen Einzelheiten geschildert. Sie selber haben sich in Schriftsteller verwandelt und ihr Leben beschrieben. Die lesbische Liebe, die Päderastie haben, wie zu Zeiten von Augustus [24] und Ludwig XV. [25] begeisterte Dichter gefunden.

In seiner Jugend, den Ausschweifungen ergeben, macht sich der Bourgeois ein Vergnügen daraus, die Familie des Arbeiters in Schande zu stürzen. Er würde über die Leiche des Vaters gehen, um die Tochter zu entehren. Seine Ausschweifungen haben nichts mit denen des Don Juan zu tun. Der Geist, die Eleganz, der Mut sind unnötig geworden. Er kauft sich sein Futter. Seine Kupplerinnen ziehen für ihn speziell abgerichtete junge Mädchen auf; für ein bißchen Geld bekommt er auch Jungfrauen.

In allen großen und kleinen Städten gibt es Bordelle im Überfluß. Die leichtfertigen Mädchen von früher sind zu albernen und herzlosen Lebedamen und Dirnen geworden. – Sie haben recht. – Sie vollbringen ein revolutionäres Werk, wenn sie den Reichtum jener verschwenden, die man für gewöhnlich die Söhne des Hauses nennt: Sie verdummen sie, sie verwandeln sie in junge Gecken und stellen durch ihre Verschwendungssucht die großen Damen in den Schatten, die, um die Schlacht aufzunehmen, ihre Gatten in Anspruch nehmen, bestehlen und ruinieren. Diese Damen werden geschickt durch die Moden, den Charakter eines verrufenen Hauses, die gewagten Worte ins Schlepptau genommen. Bei den Rennen, in den Theatern, auf den öffentlichen Plätzen sieht man, wie sich die elegante Jugend der reichen Familien mitten zwischen den großen und kleinen Damen amüsiert. Sie rivalisieren miteinander, nehmen sich gegenseitig die Liebhaber weg. Die große Welt und die Halbwelt reichen sich heimlich die Hand. Die großen Damen besuchen mit Neugier und Vergnügen die Boudoirs der Dirnen, sagen ein paar Worte über das Sofa und das Bett. – Sie sind sich sogar freundschaftlich verbunden, begrüßen sich im Park, und in den Seebädern schütteln sie sich die Hände. – Die Provinz ist noch nicht auf dieser Höhe angelangt, aber sie marschiert mit Dampfgeschwindigkeit darauf zu. – Um so besser.

Das ist noch nicht alles – die Päderastie hat in letzter Zeit unübersehbare Fortschritte gemacht; alle Welt kennt die berüchtigte Affäre der Avenue Marboeuf.

Der körperliche Verfall kommt dem moralischen und intellektuellen gleich.

Über vierzig ist der Bourgeois kein Mensch mehr, sondern nur noch eine unförmige Fettmasse. Diese Masse ißt und verdaut. Früh ist er kahlköpfig, der unmäßig entwickelte Unterkiefer scheint ihn zu einem primitiven Typen, einem Affen, zurückführen zu wollen; die vom Fett aufgebauschte Backe hängt herab, die Augen sind rot, tränen und sind ohne Wimpern. Die oberen und unteren Gliedmaßen sind lang und dünn, der umfangreiche Bauch wölbt sich vor, das Muskelgewebe ist teils verkümmert, teils durch Fettgewebe ersetzt, das Knochengerüst hat gelitten. Die Syphilis und alle Krankheiten, die Folge der Ausschweifungen sind, haben bei diesem Fettsack Spuren hinterlassen. Die syphilitischen Knötchen, die Skrofulose [26], die Schwindsucht, die Gicht, die Magenkrämpfe, die Impotenz, die Spermatorhö [27] usw. sind die Rachegöttinnen seiner früheren Missetaten.

Auf dann, ihr Päpste, Priester, Kaiser, Könige, Diplomaten, Finanziers, Diebe, Mörder, Päderasten, Prostituierte, Dichter, Künstler, Gelehrte, ihr müßt zufrieden sein, euer Werk ist untadelig. Die Gesellschaft hat euch korrumpiert, ihr habt eurerseits auf sie zurückgewirkt und habt sie verdorben, vergiftet. – In Ordnung, euer Werk ist gut. Es ist revolutionär.

Schaut es euch an:

Euer Opfer, die Bourgeoisie, ausgestreckt auf seinem Kehrrichtlager – röchelt.

Hört gut hin:

Vernehmt ihr diese dumpfe und ferne Gemurmel, es wird jeden Augenblick stärker, es kommt, es ist da – das ist das Volk – schwarz, blutbefleckt, dumpf tosend. In seinen mächtigen und schwieligen Händen hält es das Schwert der strafenden Gerechtigkeit.

Wehe euch!

 

 

Anmerkungen

1. * Erschienen unter dem Titel La corruption bourgeoise in der Zeitschrift La rive gauche [Das linke Ufer], vom 27. Juli 1866 als dritter Teil einer Artikelserie über La lutte sociale[Der soziale Kampf].

2. * Ludwig XV. regierte von 1710–1774.

3. * Gemeint ist das zweite Empire, das Kaisertum Napoleon III. von 1852–1870.

4. * Otto von Bismarck (1815–1898), seit 1862 Ministerpräsident von Preußen, wurde 1865 von Napoleon III. begünstigt, der sich von einem Krieg zwischen Österreich und Preußen Vorteile erhoffte, bis

5. * die Österreicher am 3. Juli 1866 bei Königsgrätz von den mit Zündnadelgewehren ausgerüsteten preußischen Armee geschlagen wurden.

6. * Die römische Kaiserin Valeria Messalina (25 v.u.Z.–48 n.u.Z.) erregte als dritte Frau des Claudius durch ihren freizügigen Lebenswandel Aufsehen.

7. * Die 1849 gegründete Zeitung war unter Napoleon III. offizielles Regierungsorgan.

8. * Ab 1852 im Besitze des Börsenspekulaten Mirès.

9. Wir sind indessen froh, daß wir inmitten dieser Fäulnis einer Ausnahme begegnet sind. Der Courrier français [Französische Korrespondenz], der im wesentlichen von neuen Leuten, jungen Menschen redigiert wird, ist die einzige politische Zeitung Frankreichs, in der ein sich ernstnehmender Sozialist schreiben kann. – * Der Courrier français wurde 1857–1860 und 1864–68 von Vermorel und G. Duchêne in Paris herausgegeben.

10. * Die Regierungszeit Gregors VII. (1073–1085) war der epochale Höhepunkt in der Geschichte des Papsttums. Er formulierte in seiner Bulle Dictatus Papae (1075) den weltlichen Herrschaftsanspruch des Papstes und löste damit den Investiturstreit aus.

11. * James Rothschild (1792–1868), Bankier, leitete die Geschäfte des Hauses Rothschild in Paris.

12. * Es handelt sich um jenen Pius IX., dem Lafargue später die Satire Pius IX. im Paradies widmet und der von Papst Johannes Paul II. im Jahr 2000 selig gesprochen wurde.

13. Die Gebrüder Pereire [Jacob Émile (1800–1875), Isaac (1806–1880)] waren Bankiers, die unter den Auspizien Napoleons III. eine großartige Schwindelgesellschaft, die „Crédit mobilier“ gründeten.

14. Jules Isaac Mirès (1809-1871) gründete die Schwindelgesellschaft „Caisse des chemins de fer [Eisenbahnkasse]“.

15. * Ein Vorläufermodell des Maschinengewehrs.

16. * Priesterkaste der Hinduisten.

17. * Markus 26,11 / Markus 14,7 / Johannes 12,8. In der Neuübersetzung der Bibel „Denn die Armen habt ihr immer bei euch“.

18. * Ernest Renan (1823-1892) stellte in seiner romanhaften Biographie Das Leben Jesu (1863) eine Interpretation des Lebenslaufes als Weg zum Anarchismus.

19. * Dieser sozialkritischer Roman (veröffentlicht 1834) erzählt die authentische Geschichte eines Strafgefangenen, der verurteilt wurde, weil er Brot für seine hungernde Familie stahl, und schließlich einen Wärter erschlägt, der ihn erniedrigt (Victor Hugo: Œuvres complètes, Paris 1910, A1).

20. Wir könnten ebenfalls noch den ganzen Haufen unserer Literaten und bürgerlichen Freiheitshelden zitieren, die Paradol, Pelletan, Thiers, Simon usw. ... aber die zwei genügen uns. – * Camille Pelletan (1846–1915) war Abgeordneter und Minister der Radikalsozialisten. Jules François Simon, dit Suisse (1814–1894) war Philosophieprofessor und republikanischer Abgeordneter.

21. * Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war das Opium allgemein verbreitetes Beruhigungs- und Schmerzlindungsmittel; es hatte nicht nur seinen festen Platz in bürgerlichen Hausapotheken, sondern war auch ein fester Bestandteil des Lebens der Arbeiterklasse. Darum verwendet Marx auch in seiner Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie das Bild von der Religion als „Opium des Volkes“ (MEW1, 378).

22. * Der Überlieferung nach erdolchte sich Lucretia, weil sie vor ihrem Sohn durch Tarquinius Superbus entehrt wurde. Ihr Tod war der Anlaß zum Sturz des römischen Königtums.

23. * Pierre Joseph Proudhon (1809–1865), Frühsozialist und Theoretiker des Anarchismus.

24. * Augustus Gaius Julius (63–14), Adoptivsohn Cäsars, erster römischer Kaiser.

25. * Die Herrschaft Ludwig XV. (1715–75) war von seinen Mätressen, insbesondere von der Dubarry und Pompadour, geprägt.

26. * Symtomkomplex bei tuberkulösen Kindern.

27. * Samenaustritt ohne sexuelle Erregung.

 


Zuletzt aktualisiert am 1.2.2004