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Der Gegensatz der Nationalitäten im Nationalitätenstaat entspringt nicht etwa einem Gegensatz der Nationalcharaktere oder der nationalen Kulturen. Verschiedenheit bedeutet noch lange keinen Gegensatz.
Der nationale Gegensatz entspringt dem Kampf um den Markt und um die Staatsgewalt. Die Art, wie etwa die Tschechen die europäische Kultur „national apperzipieren“, ist den Deutschen in Böhmen sehr gleichgültig. Aber dem deutschen Journalisten in Reichenberg ist es nicht gleichgültig, ob die Bevölkerung der Stadt deutsche oder tschechische Zeitungen liest. Dem deutschen Krämer, Arzt, Advokaten ist es nicht gleichgültig, ob die Bevölkerung tschechisch sprechende Krämer, Ärzte, Advokaten den deutsch sprechenden vorzieht. Es ist der deutschen Bourgeoisie nicht gleichgültig, ob ihr intellektueller Nachwuchs im Staats- und Gemeindedienst bessere Aussichten hat als die tschechisch sprechenden Intellektuellen usw.
Daher das Streben jeder der Nationalitäten, sich der Staatsgewalt zu bemächtigen, um das Geltungsbereich der eigenen Sprache gewaltsam zu erweitern, das der anderen einzuengen, oder um gewaltsame Maßregeln dieser Art zunichte zu machen.
Hier ist der Punkt, wo die Demokratie und damit auch die Sozialdemokratie Interesse an den nationalen Kämpfen bekommt, hier liegt aber auch das schwerste Hindernis der Annäherung und Assimilierung der Nationen im heutigen Staate.
Den Unterdrückten beizustehen, sie nicht im Stiche zu lassen, gilt jedem wahren Demokraten als sittliche Pflicht. Er wird sich schwer von der unterdrückten Nationalität loslösen, um sich der unterdrückenden anzuschließen. selbst wenn seine Leistungsfähigkeit dadurch vermehrt würde. Der Wechsel der Nationalität erhält unter solchen Bedingungen den Charakter skrupellosen Strebertums. Die Unterdrückung war stets das beste Mittel, eine Gemeinschaft fest zusammenzuschweißen, sei es nun eine Sprachgemeinschaft, eine kirchliche Gemeinschaft, eine regionale Gemeinschaft oder eine Klasse.
Wenn ein Eroberer ein erobertes Gebiet in einem Ausnahmezustand erhält, so erweist sich dies als die wirksamste Methode, die innere Verschmelzung der neugewonnenen Provinz mit dem Gesamtstaat zu verhindern. Religionen erhalten, selbst wenn sie im Absterben begriffen sind, neue Kraft durch eine Ära der Verfolgungen. Dadurch ist die Assimilierung der Juden bisher am wirksamsten verhindert worden.
Das gilt auch von manchen Nationalitäten. Die Tschechen die „tschechisch sprechenden Deutschen“ wären vielleicht schon germanisiert vor einem Jahrhundert war dieser Prozeß bereits weit gediehen –, wenn man die Bedürfnisse des Verkehrs allein hätte wirken lassen, die jeden Tschechen, der etwas leisten will, zwingen, Deutsch zu lernen. Der Versuch, die Assimilierung gewaltsam zu fördern, hat sie verhindert. Der Kampf für die tschechische Nationalität wurde den Tschechen gleichbedeutend mit dem Kampf für Gleichberechtigung und Demokratie.
Diese Hindernisse hören in einer sozialistischen Gesellschaft auf. Mit dem Aufhören der Produktion für den Markt nimmt der Kampf um den Markt ein Ende. und der Staat hört auf, eine Herrschaftsinstitution zu sein. Solange er eine solche ist, bleibt er ein der Demokratie feindliches Element, denn die Demokratie steht im Gegensatz zur Herrschaft der Klassen. Was im heutigen Staat an demokratischen Rechten besteht, ist, soweit es nicht einen Rest urwüchsiger Zustände darstellt, nur eine widerwillig gemachte, dem Staat abgerungene Konzession. Die volle, wirkliche Demokratie ist im heutigen Staat nicht zu erreichen, sie wird stets nur Stückwerk sein.
Der proletarische Staat dagegen kann ohne die Demokratie nicht bestehen, sie ist für ihn nicht eine Konzession, die er macht, sondern eine Lebensbedingung. Damit verliert der Kampf der Nationen im Staat um die Macht seine Grundlage. Die Sprache dient im staatlichen Leben dann nicht mehr Herrschaftszwecken, sondern nur noch Verwaltungszwecken. Die sprachlichen Verhältnisse im Staate werden nur noch nach Zweckmäßigkeitsgründen und nach den Bedürfnissen der Volksmasse, nicht nach denen herrschender Klassen oder ihrer Organe eingerichtet werden. Da werden die Bedürfnisse der Rechtsfindung sowie die der Angeklagten und der Zeugen und nicht die Bedürfnisse der Richter über die Gerichtssprache entscheiden; die des Lehrerfolges und der Schüler und nicht die der Lehrer über die Unterrichtssprache; die des Verkehrs und nicht die der leitenden Beamten und ihrer Patrone über die Eisenbahnsprache usw. Damit wird aber auch für den einzelnen die Zugehörigkeit zu seiner Nationalität, der Gebrauch ihrer Sprache eine bloße Sache der Zweckmäßigkeit. Jeder wird unter den Sprachen, die ihm zugänglich sind, den Gebrauch jener bevorzugen, in der er der modernen Kultur am meisten teilhaftig werden kann, in der er am meisten für sie zu leisten vermag. Die Pflicht demokratischer Solidarität, die heute für schwache, unterdrückte Nationalitäten ein so starkes Band bildet, hört dann auf, für deren Erhaltung zu wirken. So wird die Assimilierung und Auflösung nicht nur mancher Sprachinseln und eingesprengten Nationstrümmer, sondern ganzer Nationalitäten dann weit rascher vorwärtsgehen als heute.
Wir haben uns hier schon mehrfach, zum Teil durch O. Bauer veranlaßt, mit der Gestaltung der Nationalitätenfrage unter der Herrschaft des Sozialismus beschäftigt. Sie geht uns direkt in dem vorliegenden Zusammenhang nichts an, wo wir ja nur davon handeln, welchen Einfluß das Nationalitätenproblem auf die Haltung der Internationale gegenüber den aktuellen Kriegszielen zu nehmen hat. Aber unser Handeln in der Gegenwart ist nichts als Vorbereitung der Zukunft und wird durch die Vorstellungen bestimmt, die wir von dieser haben. Und wenn wir auch ein entschiedenes und rasches Fortschreiten in der Richtung auf unser Ziel erst in dem vom Proletariat eroberten Staat erwarten dürfen, so sind die Grenzen zwischen bürgerlicher und proletarischer Gesellschaft doch elastisch, und wir müssen trachten, von dem, was wir erstreben, soviel als möglich heute schon durchzusetzen. So steht unsere Gegenwartsarbeit mit unseren letzten großen Zielen in stetem und notwendigem Zusammenhang.
Darum noch einige Worte darüber, wie wir uns die Gestaltung der Nationalitätenfrage in der sozialistischen Gesellschaft als Konsequenz ihrer Prinzipien vorstellen dürfen.
Wir haben schon gesehen, daß sie die nationalen Gegensätze sehr abschwächen und schließlich aufheben und dadurch auch zur Beseitigung mancher nationalen Unterschiede beitragen muß eine Folge der Verwandlung des Staates aus einer Herrschafts- in eine bloße Verwaltungsinstitution und der Durchsetzung vollständiger Demokratie, die Hand in Hand geht mit der Aufhebung der Klassenunterschiede.
Auf der anderen Seite wird gerade das Bedürfnis nach Demokratie einen starken Anstoß zur Verschiebung der Staatsgrenzen im Sinne des Nationalstaats geben. Denn die Demokratie kommt am vollkommensten zur Geltung im Nationalstaat, in dem die Sprache der Volksmasse gleichbedeutend ist mit der Sprache des Staates.
Die Staatsgrenzen selbst aber verlieren gleichzeitig ihren bisherigen Charakter. Da die Produktion aus privater zu gesellschaftlicher wird, da der Prosit des einzelnen Unternehmers aufhört, ihr bewegender Antrieb zu sein, verlieren die Zölle alle Bedeutung, die ja als „Schutzzölle“ nur dadurch wirken, daß sie in den zu „schützenden“ Industriezweigen den Kapitalprofit künstlich erhöhen und dadurch das Kapital ihnen zutreiben. Mit den Zöllen aber hört die Absperrung der Staaten voneinander als künstlichen Verkehrseinheiten auf.
Dabei wird, wie wir schon gesehen, der Sozialismus nicht das Ergebnis einer besonderen nationalen, sondern einer internationalen Bewegung sein, bei der die Souveränität der Einzelstaaten aufhört und sie alle Teile eines großen Ganzen werden, der Vereinigten Staaten von Europa, wobei unter Europa nicht der Erdteil, sondern das ganze Gebiet europäischer Kultur zu verstehen ist. Schon durch den Beitritt Englands würden die Vereinigten Staaten Europas zu vereinigten Staaten aller Weltteile.
Damit verliert die Frage der Staatsgrenzen auch als Frage der militärischen Sicherheit alle Bedeutung.
Die Einzelstaaten werden bloße besondere Verwaltungsbezirke mit Selbstverwaltung. Das erleichtert es wieder, ihre Abgrenzung in der Weise vorzunehmen, daß jeder von ihnen ein Sprachgebiet umfaßt. Erst in der sozialistischen Gesellschaft ersteht die Möglichkeit, den Nationalstaat allseitig so weit durchzuführen, als die Natur der Dinge es überhaupt erlaubt. Aber das geschähe in derselben Zeit, in der der souveräne Einzelstaat aufhörte zu existieren. Nicht nationale Souveränität, sondern nur nationale Selbstverwaltung wäre das Ziel dieser Entwicklung.
Schließlich müßte aber auch die nationale Abgrenzung der Verwaltungsbezirke ihre Bedeutung dadurch verlieren, daß die gestiegene Volksbildung jedermann neben seiner Muttersprache noch eine Weltsprache zugänglich macht, so daß jedermann sich überall in der Welt zurechtfinden, verständlich machen, heimisch machen kann.
Nicht die Differenzierung, sondern die Assimilierung der Nationalitäten, nicht der Zugang der Massen zur nationalen Kultur, sondern der zur europäischen Kultur, die immer mehr gleichbedeutend wird mit Weltkultur, ist das Ziel der sozialistischen Entwicklung.
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Zuletzt aktualisiert am 26 September 2009