Karl Kautsky

Die Befreiung der Nationen


7. Nationalität und Kultur


Wir haben bereits gesehen, daß für Otto Bauer die Nationalität nicht eine Sprachgemeinschaft ist, sondern eine aus Schicksalsgemeinschaft erwachsende Charaktergemeinschaft und Kulturgemeinschaft.

Aus der Schicksalsgemeinschaft wird bei ihm ohne weiteres eine Charaktergemeinschaft. Allerdings eine Charaktergemeinschaft eigener Art. Eine andere Charaktergemeinschaft, sagt er, ist die Klasse. Jede Klasse hat ihre besondere Eigenart, die in den verschiedensten Ländern die gleiche ist, sie von anderen Klassen sondert. Sie beruht auf der Gleichartigkeit, nicht der Gemeinsamkeit des Schicksals. Die englischen und die deutschen Arbeiter befinden sich in gleicher Klassenlage, aber sie haben keine Schicksalsgemeinschaft, denn sie verkehren nicht miteinander, weil sie verschiedene Sprachen sprechen. Die englischen Arbeiter und die englischen Kapitalisten dagegen sprechen die gleiche Sprache und können dadurch miteinander verkehren.

Dies also, daß zwischen den Gliedern einer Nation eine Verkehrsgemeinschaft besteht, eine stete Wechselwirkung im mittelbaren und unmittelbaren Verkehr miteinander, das scheidet die Nation von der Charaktergemeinschaft der Klasse. (S.113.)

Einige Seiten weiter heißt es:

Das Kind unterliegt den wirkenden Einflüssen der bestehenden Gesellschaft, in deren Wirtschaftsleben, in deren Recht, in deren Geisteskultur es hineingeboren wird. Auch hier aber erhält nur die fortwährende Verkehrsgemeinschaft die Gemeinschaft des Charakters. Das große Werkzeug dieses Verkehrs ist die Sprache: sie ist das Werkzeug der Erziehung, das Werkzeug alles wirtschaftlichen und alles geistigen Verkehrs. Soweit die Verständigungsmöglichkeit durch die Sprache reicht, reicht der Wirkungsbereich der Kultur. Nur so weit die Gemeinsamkeit der Sprache reicht, ist diese Verkehrsgemeinschaft eine enge. Verkehrsgemeinschaft und Sprache bedingen einander wechselseitig. (S.115.)

Hier ist Bauer auf dem besten Wege, die Nationalität als Sprachgemeinschaft zu erkennen. Aber er verfolgt diese Spur nicht weiter, sondern wird von ihr abgelenkt durch das Suchen nach der nationalen Charaktergemeinschaft.

Deren angebliche Quelle, die Schicksalsgemeinschaft, hat sich jetzt in Wahrheit als Verkehrsgemeinschaft entpuppt. Aus einer solchen braucht aber keineswegs eine Charaktergemeinschaft zu entspringen. Am allerwenigsten aus einem feindseligen Verkehr, wie es der Klassenkampf ist. Nicht aus der Gemeinschaft des Verkehrs, sondern aus der Gleichartigkeit der Bedingungen, unter denen sie leben, geht eine ständige, dauernde Übereinstimmung der Charaktere verschiedener Individuen hervor. Neben den Lebensbedingungen, die einer Klasse besonders eigentümlich sind, gibt es auch solche, die auf alle Klassen einer Gegend einwirken und ihren ständigen Bewohnern besondere Charaktermerkmale verleihen, die schließlich die Tendenz bekommen, sich zu vererben. Der ewig blaue Himmel Siziliens wirkt ebenso auf alle Bewohner dieser Insel, wie die Nebel und die endlosen Winternächte Norwegens dessen Bourgeois nicht minder beeinflussen wie dessen Arbeiter. Aber die aus solcher Gleichartigkeit der Lebensbedingungen hervorgehende Gleichartigkeit des Charakters wird höchstens bei kleinen Nationen, die auf ein kleines Gebiet beschränkt sind, als nationaler Charakter auftreten können. Sie ist vielmehr lokaler oder regionaler Art. Das gleiche gilt von den nicht natürlichen, sondern historisch gewordenen dauernden Lebensbedingungen bestimmter Gegenden.

Bereits 1907 bemerkte ich in meiner Besprechung des Bauerschen Buches:

Wo eine ganze Nation unter den gleichen Bedingungen lebt, wird sie also einen Nationalcharakter entwickeln. Dagegen wird von einem solchen um so weniger die Rede sein können, je mannigfaltiger die Verhältnisse, unter denen die einzelnen Nationsgenossen leben, je verschiedener zum Beispiel die geographischen Bedingungen Flachland und Hochgebirge, Binnenland und Seeküste und je weiter getrieben die Arbeits- und Klassenteilung Landwirtschaft und Industrie, Großstadt und Dorf, Gebildete und Ungebildete usw. –, je verschiedener endlich das Tempo der gesellschaftlichen Entwicklung für die einzelnen Nationsteile ist, was etwa bewirkt, daß die einen noch in halbfeudalen Zuständen leben, die anderen schon eine hochentwickelte kapitalistische Produktionsweise aufweisen. (Nationalität und Internationalität, S.5.)

Ich zeige dann die Verschiedenheit der Bedingungen, die in der deutschen Nation vorkommen, und frage:

Wo könnte da ein bestimmter Nationalcharakter bestehen, der die deutsche Nation von anderen unterschiede? Ist der Rheinländer sein Vertreter oder der Oberbayer? Der Holsteiner oder der Wiener? Bildet seinen Typus Faust oder Karl Moor? Bismarck oder Onkel Bräsig?

Diese Unfaßbarkeit des Nationalcharakters hat schon manchen Forscher in Verlegenheit gebracht. Amüsanten Ausdruck findet sie in Sombarts Patriotischen Besinnungen, betitelt Händler und Helden, einem Büchlein, dem unter den burlesken Leistungen unseres Professorentums der Kriegszeit die Palme gebührt.

Die Händler, das sind die Engländer, die Helden die Deutschen. Sombart sucht den „deutschen Geist“ zu definieren:

Wir wissen, daß Friedrich Nietzsche mit dem Besten, was er uns gesagt, heimatberechigt ist in Potsdam und Weimar, die beide zusammen recht eigentlich des deutschen Geistes Heimstätten sind. (Sie liegen im Zentrum Deutschlands, dessen peripherische Enden durch Königsberg und Wien gebildet werden.) Ist denn aber dieser deutsche Geist etwas Einheitliches, das man mit einem Worte bezeichnen kann? Die Aufzählung auch nur jener vier Städte, neben denen doch Wittenberg und Hamburg, Köln und München auch ihr Recht behaupten wollen, möchte den Versuch, deutsches Wesen eindeutig zu bestimmen, als aussichtslos erscheinen lassen.

„Wer will jemals in den Begriff oder in Worte fassen, was deutsch sei? Wer will ihn den Namen nennen, den Genius unserer Jahrhunderte, der vergangenen und der künftigen? Es würde nur ein anderes Phantom werden, das uns nach anderen felsigen Wegen verführte“

ruft Ranke einmal aus.

Die Deutschen „entschlüpfen der Definition und sind damit schon die Verzweiflung der Franzosen“, meint Nietzsche, der es als ein Kennzeichen der Deutschen ansah, daß bei ihnen die Frage: „Was ist deutsch?“ niemals ausstirbt. Und vielleicht ist das einzige, was man an allem deutschen Wesen wiederfindet, das ewig Wechselnde, das immer Anderssein, weshalb der Deutsche eigentlich nicht ist, sondern ewig wird, die unendliche Mannigfaltigkeit, der unerschöpfliche Reichtum an Einzelheit und Sonderheit, der „Abyssus von Individualität“ wie es im Überschwang der romantischen Sprache heißt. (S.54, 55.)

Das erinnert etwas an die Definition, die Faust seinem Gretchen vom lieben Herrgott gibt:

Gefühl ist alles;
Name ist Schall und Rauch.

Und in der Tat spricht Sombart von den göttlichen Eigenschaften des Deutschen:

Es ist die lichteste Eigenart unseres deutschen Denkens, daß wir die Vereinigung mit der Gottheit schon auf Erden vollziehen. (S.63.)

So sollen wir Deutschen in unserer Zeit durch die Welt gehen, stolz erhobenen Hauptes, in dem sicheren Gefühl, das Gottesvolk zu sein. So wie des Deutschen Vogel, der Aar, hoch über allem Getier dieser Erde schwebt, so soll der Deutsche sich erhaben fühlen über alles Gevölk, das ihn umgibt und das er unter sich in grenzenloser Tiefe erblickt. (S.143.)

Das also ist „des Deutschen Vogel“. Trotz diesem Übermenschentum glaubt aber Sombart den Deutschen doch definieren zu können. Allerdings, was Weimar und Potsdam bedeuten, sagt er uns nicht. Bei allem Überschwang wird er nicht behaupten wollen, jeder Deutsche sei zur Hälfte ein Goethe, zur anderen Hälfte ein Friedrich II. Sicher ist, daß zu Goethes Zeit selbst auf der Weimarer Schaubühne nicht dieser herrschte, sondern Kotzebue. Und in Potsdam sind die Korporale sicher häufiger als Geister vom Schlage Friedrichs II. Trotzdem wird Sombart nicht zugeben wollen, der Deutsche sei halb Kotzebuescher Kleinstädter, halb preußischer Korporal.

Zweierlei bezeichnet für ihn den deutschen Geist ganz unverkennbar: einmal „einmütige Ablehnung alles dessen, was auch nur von ferne englischem oder insgesamt westeuropäischem Denken und Empfinden nahe kommt“ (S.55).

Nun kann Sombart leider nicht leugnen, daß manche Deutschen anders denken und manche Engländer auch in Deutschland angesehen sind. Aber das kommt ganz einfach daher, daß entweder jene keine richtigen Deutschen oder diese keine richtigen Engländer sind.

Der zweite Charakterzug, der den deutschen Geist kennzeichnet, ist für Sombart der Militarismus.

Er lacht über die „wohlmeinenden Ausländer“, die Deutschland vom Militarismus befreien wollen:

Andere möchten uns von unserem Kaiser befreien ... als ob alle diese Einrichtungen etwas Äußerliches seien, das sich beim deutschen Volke befinde, wie eine Last auf einem Esel liegt. Während es doch zu begreifen gilt, daß alle äußere Erscheinung des gesellschaftlichen und staatlichen Lebens die notwendigen Ausstrahlungen des Geistes sind, der ein Volk beseelt. (S.83.)

Richtig definiert Sombart den Militarismus als „den Primat der militärischen Interessen im Lande. Alles, was sich auf militärische Dinge bezieht, hat bei uns den Vorrang ... Alle anderen Zweige des Volkslebens dienen dem Militärinteresse. Insbesondere auch ist das Wirtschaftsleben ihm untergeordnet.“

Das bezeichnet den „deutschen Geist“:

Was kann deutscher Militarismus anderes sein als der deutsche Geist, den wir kennengelernt haben? Es ist dieser deutsche Geist, so kann man es vielleicht ausdrücken. in seiner lebendigen Betätigung, in seiner Ausgestaltung zu äußeren Lebensformen ... Militarismus ist die Sichtbarwerdung des deutschen Heldentums ... Militarismus ist der zum kriegerischen Geiste hinaufgesteigerte heldische Geist. Er ist Potsdam und Weimar in höchster Vereinigung. Er ist Faust und Zarathustra und Beethovenpartitur in den Schützengräben. Denn auch die Eroica und die Egmontouvertüre sind doch wohl echtester Militarismus. (S.84, 83.)

Wir haben einen kleinen Abstecher zu diesen sinnreichen „patriotischen Besinnungen“ gemacht, weil wir denken, dies Zwischenspiel ist geeignet, den Ernst der Zeit etwas zu erheitern, nicht, weil wir daraus Aufklärung über den deutschen Nationalcharakter zu schöpfen glauben. Beachtenswert bleiben nur die zuerst aus dem Sombartschen Buche zitierten Worte. Sie bezeichnen gut die Unmöglichkeit, einen deutschen Nationalcharakter einwandfrei festzustellen, und weisen mit Recht darauf hin, daß alle besonderen Charaktermerkmale, die als deutsche betrachtet werden, in Wirklichkeit nur lokaler oder regionaler, nicht nationaler Art sind.

Und das gleiche läßt sich von jeder anderen Nation um so mehr sagen, je zahlreicher sie ist, je mannigfaltiger daß Gebiet, das sie bewohnt, je weiter vorgeschritten ihre ökonomische Entwicklung im ganzen und je ungleichmäßiger die ihrer Teile. Was sie zusammenhält und von den anderen absondert, ist nicht ein gemeinsamer Nationalcharakter, sondern die Gemeinsamkeit der Sprache.

Wo Angehörige zweier verschiedenen Sprachstämme unter denselben Bedingungen nebeneinander wohnen, entwickeln beide die gleichen Charakterzüge. Otto Bauer bemerkt selbst, es sei „nicht ganz unrichtig, wenn man sagt, die Tschechen seien tschechisch sprechende Deutsche“ (S.118).

Gehört aber der Nationalcharakter zu den Phantomen, die in der Luft zerfließen, sobald man sie scharf ansieht, so teilt mit ihm die „nationale Kultur“ das gleiche Schicksal. Wir haben ja gesehen, daß sich Bauer selbst des internationalen Charakters der modernen Kultur bewußt ist. Sie ist nicht nationale, sondern europäische Kultur, womit nicht gesagt sein soll, daß sie auf Europa beschränkt, sondern daß Europa ihr Ausgangspunkt ist, von dem aus sie nach allen Weltgegenden ausstrahlt. Das gilt nicht nur für die materielle, sondern auch für die geistige Kultur. Keine große Erfindung kann bei einer Nation gemacht, kein großer Gedanke in einer Sprache geäußert werden und Beachtung finden, ohne sofort allen Nationen der Kulturwelt in ihren Sprachen mitgeteilt zu werden. Nur Leistungen, die nicht von allgemeinem Interesse sind oder die wenig hervorragen, bleiben auf das Gebiet jener Nation und Sprache beschränkt, in der sie zutage traten. Nur sie könnte man als „nationale“ Kultur betrachten. Sie bilden jedenfalls den weniger wichtigen Teil der modernen Kultur.

Otto Bauer faßt den Begriff der nationalen Kultur anders. Ihm ist sie der Inbegriff der gesamten Kultur, die in einer Nation zu finden ist; nicht nur des geringfügigen Teils, den sie allein besitzt, sondern auch die ungeheure Masse von Kulturgütern, die sie mit den anderen Kulturnationen gemein hat. National wird diese gesamte Kultur nach seiner Anschauung durch die „nationale Apperzeption“, die wir schon kennengelernt haben. So wie jedes Individuum alles, was es von anderen lernt, nicht völlig unverändert in seinen Geist aufnimmt, sondern seiner angeborenen und erworbenen Geistesverfassung entsprechend verarbeitet und ihm so eine individuelle Färbung gibt, so soll eine Nationalität auch nach der Art des Individuums alles, was sie erlernt, ihrer Eigenart anpassen und so der internationalen Kultur eine nationale Färbung geben.

Das setzt jedoch voraus, daß die Nationalität ein Individuum mit bestimmtem Charakter ist. Ohne Nationalcharakter auch keine „nationale Apperzeption“.

Sicher wird derselbe Gedanke nicht nur von verschiedenen Individuen, sondern auch in verschiedenen Milieus verschieden verarbeitet werden. Aber nur bei kleinen, einfachen Nationen, die nicht mannigfache Milieus umfassen, wird die „kollektive Apperzeption“ einen nationalen Charakter annehmen können.

Auch in ihrer Beziehung zur Kultur reduziert sich die Nationalität auf die Sprachgemeinschaft. Es gibt natürlich keinen anderen Weg zur Kultur als die Sprache, und zwar die Sprache, die man beherrscht. Als solche kommt bisher für die Masse der Menschen bloß die Sprache in Betracht, die sie in der Familie erlernt haben, die sie von Kindesbeinen an gebrauchen, durch die sie Angehörige einer bestimmten Nationalität werden. Je vollkommener die Kultureinrichtungen dieser Nationalität, je besser eingerichtet und leichter zugänglich ihre Schulen, je sachkundiger und gewissenhafter ihre Zeitungen, ihre Buchliteratur usw., um so höher wird die Kultur ihrer Volksmassen sein.

Das ist der Zusammenhang zwischen Nationalität und Kultur.

Damit ist aber keineswegs gesagt, daß die Muttersprache den einzigen Weg zur Kultur bildet, noch auch, daß jede Sprache dabei gleich weit führt und daß die Muttersprache immer den zweckmäßigsten Weg zum Vorwärtskommen in der Kultur darstellt, daß es daher Pflicht eines jeden sei, an ihrem Gebrauch und damit an seiner Nationalität festzuhalten.

Jede Sprache eines Volkes der europäischen Kulturgemeinschaft vermittelt uns die moderne Kultur. Freilich nicht jede in gleichem Umfang. Eine ökonomisch rückständige, vom Verkehr abgeschnittene kleine Nationalität wird denen, die bloß auf ihre Sprache angewiesen sind, nicht so viel von den Errungenschaften der modernen Kultur vermitteln können als eine ökonomisch fortgeschrittene Nationalität, die mitten im internationalen Verkehr drinsteht und eine zahlreiche Bevölkerung umfaßt.

Vergleichen wir zum Beispiel das slowenische Volk, das ungefähr 1.300.000 Köpfe zählt, fast ausschließlich Bauern, Kleinbürger und Proletarier, das eben erst angefangen hat, sich eine Literatur zu schaffen, nur über zwei Gymnasien und keine Universität verfügt, mit dem deutschen Volke, dessen Sprache von etwa 80 Millionen als Muttersprache gesprochen wird, mit Millionen Intellektueller, mit über 500 Gymnasien, 22 Universitäten mit fast 4000 Vortragenden und 60.000 Hörern, mit einer Literatur, Kunst, Wissenschaft, an der Jahrhunderte gearbeitet haben, und es wird ohne weiteres klar, daß man mit der Kenntnis des Deutschen sich einen unendlich weiteren Kulturkreis erschließt als mit der des Slowenischen. Niemand kommt in den Vollbesitz moderner Kultur mit seiner Muttersprache allein. Je rückständiger und kleiner das Volk, dem man entstammt, desto mehr bedeutet die Beschränkung auf die Muttersprache Beschränkung in der Kultur, in der Aufnahme der Kultur, aber auch in der Mitarbeit an ihr. Nicht das Festhalten an der Muttersprache, sondern das überwinden der nationalen Beschränktheit durch Mehrsprachigkeit kann da zur Pflicht werden.

Andererseits aber steigt die Kulturhöhe der Volksmassen nicht nur dadurch, daß man sie in der Schule und der Literatur mit neuen Tatsachen und Ideen bekanntmacht. Sie steigt auch mit der ökonomischen und politischen Macht der Massen, mit den materiellen Mitteln und der Muße, über die sie verfügen. Beides muß zusammenwirken. Mehr Lohn und kürzere Arbeitszeit bedeuten an sich noch wenig, wenn sie nicht zusammentreffen mit wachsendem wissenschaftlichen und künstlerischen Interesse und einer Erweiterung des Gesichtskreises. Und umgekehrt ist dieser kulturelle Aufstieg nicht möglich, solange überarbeit und Hunger die Massen abstumpfen und für alle Bestrebungen, alle Genüsse, außer den nächstliegenden sinnlichen, unempfänglich machen.

Das bedeutet aber, daß der kulturelle Aufstieg des Proletariats nur möglich ist durch den Klassenkampf, und zwar nur durch jene Formen des Klassenkampfes, die nicht einen bloßen Lohnkampf, sondern einen Emanzipationskampf, einen Befreiungskampf für große soziale und politische Ziele darstellen.

Der ist nicht möglich ohne weitestgehende internationale Verständigung der Arbeiter. Sie wird um so leichter erreichbar sein, je verbreiteter die Mehrsprachigkeit unter ihnen, je mehr jeder, dem sich die Gelegenheit zum Erlernen einer fremden Sprache, namentlich einer Kultursprache bietet. diese Möglichkeit benutzt.

Am dringendsten und nächstliegenden ist aber die Notwendigkeit, daß die Arbeiter einer Gegend alle die gleiche Sprache sprechen, um sich untereinander verständigen zu können. Wenn Arbeiter unter eine fremdsprachige Bevölkerung versetzt werden und dort sich von dieser abschließen und auf ihre Muttersprache beschränken, versündigen sie sich schwer am proletarischen Klassenkampf.

Die Bedürfnisse des wachsenden internationalen geschäftlichen Verkehrs wie des internationalen Klassenkampfes und endlich die Zunahme der Wanderungen der Arbeiter – sowohl innerer Wanderungen wie völliger Auswanderung – lassen rasch die Zahl derjenigen anwachsen, die zwei oder mehr Sprachen beherrschen. Wer aber mehrere Sprachen spricht, bleibt nicht an die Nationalität gebunden, der er entsprang. Er kann sie nach Belieben wechseln.

So ist der Begriff der nationalen Kultur nicht einmal in dem Sinne richtig, als sei die moderne Kultur für jeden nur zu erreichen auf dem Wege seiner Muttersprache, als sei der einzelne auf Gedeih und Verderb an die Nationalität gebunden, in der er geboren ist, als könne er nur durch sie und mit ihr in der Kultur aufsteigen.

Und weit entfernt, daß dieser Aufstieg die Nationen differenziert, sie schärfer scheidet, nähert er sie einander immer mehr, schleift er ihre Eigenart ab und erleichtert ihre Assimilierung, namentlich für die Angehörigen kleiner und zurückgebliebener Nationalitäten. Wir haben diesen Prozeß schon im Nationalstaat beobachtet. Er gilt für den gesamten Bereich des kapitalistischen Verkehrs.

Die sozialistische Gesellschaft wird ihn nicht nur nicht hemmen, sondern vielmehr beschleunigen. Man kann heute schon nicht gebildet im vollsten Sinne des Wortes sein, wenn man nicht mehrere Kultursprachen beherrscht. Der Masse des Volkes ist noch die Gelegenheit zu höherer Bildung versagt. Der Sozialismus wird sie jedermann bringen und damit jedermann von der Beschränkung auf eine bestimmte Sprache und Nationalität befreien.

Er wird aber auch jeder nationalen Unterdrückungspolitik ein Ende machen.


Zuletzt aktualisiert am 26 September 2009