MIA: Geschichte: Sowjetische Geschichte: 100 Jahre Russischer Revolution: Die anti-bourgeoise demokratische Revolution
In ihrem Buch Inside the Russian Revolution beschreibt Rheta Childe Dorr ihre ersten Eindrücke von Russland:
Das Erste was ich bei meiner Ankunft in Petrograd sah […] war eine Gruppe junger Männer, es waren ungefähr 20, denke ich, die durch die Straßen vor meinem Hotel marschierten, und dabei ein großes scharlachrotes Banner mit einer weißen Beschriftung trugen.
„Was steht auf dem Banner?“ fragte ich den Hotel Portier, welcher neben mir stand.
Er antwortete: „Da steht: ‚Alle Macht den Sowjets‘.“
„Was ist ein Sowjet?“ fragte ich und er antwortete kurz:
„Es ist die einzige Regierung, welche wir in Russland jetzt haben.“
Nach dieser Passage zu urteilen, würden die meisten von uns annehmen, dass Dorr nach der Oktoberrevolution in Russland ankam, weil erst dann die Sowjets die Übergangsregierung stürzen. Aber Dorr erreichte Russland bereits im Mai 1917 und verließ das Land Ende August. Ihr Buch wurde vor der Oktoberrevolution in den Druck geschickt und gibt uns deshalb einen wertvollen Einblick in die Ereignisse von 1917, frei von nachträglichen Urteilen.
Dorrs Bericht zeigt einen essenziellen Fakt auf: „Die Sowjets, oder Räte der Arbeiter- und Soldatendeputierten, welche sich wie ein Lauffeuer im Land ausgebreitet haben, sind seit dem Ausbruch der Revolution in Russland am ehesten das, was man eine Regierung nennen kann.“ Auch wenn sie selbst eine Sozialistin war, befürwortete sie leidenschaftlich den Krieg gegen Deutschland und war deshalb sehr feindlich gegenüber dem eingestellt, was sie als tyrannische Herrschaft des Pöbels verstand. Sie verstand die Herrschaft der Sowjets als ebenso schlimm wie die Herrschaft der Zaren – und in einiger Hinsicht sogar schlimmer. Siehe die Pressezensur: „Selbst wenn [der durchschnittliche amerikanische Reisende] alle Zeitungen lesen könnte, würde er dennoch nicht viele Informationen erhalten. Die Zensur der Presse ist ebenso streng und tyrannisch wie zur Zeit des Adels, nur dass jetzt andere Nachrichten unterdrückt werden.“ Um ihren amerikanischen Leser/innen eine Vorstellung von der „Komitee-Manie“ zu geben, welche Russland übermannt hatte, nutzte sie diese Analogie:
„Man stelle sich vor wie in Washington, beispielsweise, das Komitee der amerikanischen Vereinigung für Arbeit in das Büro des Finanzsekretärs eintreten und sagen würde: ‚Wir sind hier um Sie zu kontrollieren. Öffnen Sie alle Bücher und geheimen Papiere.‘ So geschieht es Kabinettsministern in Russland, und so wird es weiter geschehen, bis sie erfolgreich eine Regierung geformt haben, welche nur den Wähler/innen gegenüber verantwortlich, und nicht Sklave des Rats der Arbeiter- und Soldatendeputierten ist.“
Dorrs Bericht ist einseitig: Die Macht der Sowjet während des Jahres 1917 war stark umstritten und die Übergangsregierung hatte ihre eigenen ambitionierten Pläne. Nichtsdestotrotz verweist sie auf eine Tatsache, die zwar die meisten Historiker/innen nicht überraschen sollte, jedoch ein unerwartetes Licht auf die Forderung „Alle Macht den Sowjets!“ wirft. Es lohnt sich diese neue Perspektive zu erforschen, um zunächst die Kontinuitäten zwischen Februar und Oktober aufzuzeigen, anschließend zu untersuchen was für eine Revolution damals genau stattfand, und abschließend die Führung der Bolschewiki insbesondere durch Lenin genauer zu betrachten.
„Alle Macht den Sowjets“ ist eine der berühmtesten Forderungen der revolutionären Geschichte, genau wie „Egalité, liberté, fraternité“ Symbol einer ganzen revolutionären Epoche ist. Es besteht aus drei Wörtern: вся власть советам, wsya wlast’ sovetam. „Wsya“ = „alle“, „wlast“ = „Macht“, und „sovetam“ = „den Räten“. Das russische Wort „sovet“ bedeutet schlicht „Ratschlag“, und davon abgeleitet „Rat“.
Ein anderes russisches Wort – wlast – ist eine größere
Herausforderung. „Macht“ ist aus vielen Gründen keine wirklich
angemessene Übersetzung. Wlast hat eine sehr viel bestimmtere
Bedeutung als das englische Wort „Power“ [Macht], nämlich die
souveräne Autorität über ein bestimmtes Land. Um wlast zu
haben, benötigt man das Recht eine finale Entscheidung zu treffen.
Das bedeutet, dass man dazu in der Lage sein muss, Entscheidungen zu
treffen und dafür zu sorgen, dass diese umgesetzt werden. Oftmals
versucht man im englischen diese Bedeutungsebenen zu erhalten, indem
man wlast in der nicht idiomatischen Formulierung „the
power“ [die Macht] übersetzt. Ich werde „Macht“ und wlast
hier synonym verwenden.
Das übliche Verständnis von 1917 kontrastiert die Ereignisse von „Februar“ und „Oktober“. Die gebildete Leserschaft erhält eine liberale Version dieses Gegensatzes: Die Februarrevolution sei die gute Revolution für politische Freiheit und Demokratie, während die Oktoberrevolution böse und illegitim sei, weil sie Tyrannei und extremistischen Utopismus mit sich bringe. Innerhalb der Linken findet man einen ähnlichen Gegensatz, nur mit verkehrten Vorzeichen: „die bourgeois-demokratische Revolution“ vs. „die sozialistische Revolution“.
Dabei wird jedoch die starke Kontinuität zwischen Februar und Oktober übersehen. Vom Anfang der Unruhen im Februar an, sollten die Ereignisse von 1917 als anti-bourgeoise demokratische Revolution verstanden werden. Die Rätemacht wurde eigentlich im Februar proklamiert – und der Oktober sollte dafür sorgen, dass sie nicht kampflos abtritt. Grundlegende Kraft für diese neue Macht oder neue souveräne Autorität – die Wählerschaft der Sowjets – war das Volk, die narod, die Arbeiter/innen, die Soldaten und Bäuer/innen, der Mob, im Gegensatz zur Elite, den tsenzowiki (dem „Zensusvolk“, den besitzenden Klassen), die gebildeten Schichten. Das zentrale Ziel der sowjetischen Revolution war es, ein weitreichendes Reformprogramm umzusetzen, welches zuvor unter dem Begriff der „demokratischen Revolution“ gefasst wurde – zuallererst die Umverteilung des Landes an die Bäuer/innen und die Auflösung der pomeshchiki (dem Landadel) als Klasse, sowie die Beendigung des sinnlosen und brutalen Krieges.
Zugleich war die Revolution sehr stark anti-bürgerlich, auch wenn dieses Gefühl nicht dazu führte, den Sozialismus als kurz- oder mittelfristiges Ziel programmatisch zu verankern. Nicht die soziale Basis der Revolution oder ihre anti-bürgerliche Haltung ist überraschend, sondern die Tatsache, dass sich mit der Entmachtung des Zaren gleichzeitig eine glaubwürdige alternative Autorität für das Land herausbildete, die sich auf eben jene breite soziale Basis stützte.
Als sich mit dem Februar die Romanow Dynastie auflöst – oft als „die historische wlast“ bezeichnet – hinterlässt sie Russland im Grunde genommen ohne funktionierende wlast, d. h. ohne gemeinhin anerkannte souveräne Autorität. Die wesentlichen Kräfte des ganzen Jahres formierten sich von einem Moment zum nächsten mit den revolutionären Ereignissen des 27. Februar. Folgendes passierte an diesem Tag:
Deshalb übernahm der Petrograder Sowjet die Rolle als ultimative Quelle der wlast, der souveränen Autorität – auch wenn er zu diesem Zeitpunkt noch sehr vorsichtig damit war, sich auch so zu nennen. Der Sowjet war der gewählte Repräsentant der Arbeiter/innen und der Soldaten: von Anfang an ein essenzieller Unterschied zu 1905. In zwei fundamentalen Momenten sicherte er sich seine Autorität: Zuerst als die Übergangsregierung gezwungen war, Schlüsselteile des Programms des Sowjets zu übernehmen um grundlegende Legitimität zu erhalten und um überhaupt existieren zu können. Anschließend erlangte der Sowjet (fast ohne es zu bemerken) mit der Anweisung Nummer eins eine essenzielle Eigenschaft jeder wlast, nämlich die Kontrolle über das ultimative Zwangsmittel, die Armee. Diese beiden Tatsachen – die Verpflichtung der Regierung, zentrale Stellen des Sowjetprogrammes auszuführen, und die Loyalität der Armee zum Sowjet statt der Übergangsregierung – bestimmten die Politik im Verlauf des Jahres.
Auf der Oberfläche führte die Instabilität der Sowjetmacht im Jahr 1917 zu einer Reihe dramatischer politischer Krisen. Hinter diesen Krisen verbarg sich jedoch ein molekularer Prozess, welcher den Sowjet mit den unabdingbaren Eigenschaften eines wirklichen wlast ausstattete. Betrachten wir diesen tiefgreifenden Prozess genauer.
Einigen bolschewistischen Beobachter/innen aus dieser Zeit zufolge war der Sowjet im Februar eine „embryonale wlast“. Aus dieser großartigen Metapher ergibt sich folgende Fragestellung: was wäre notwendig, um es in eine wirkliche, unabhängige wlast zu verwandeln, die sich selbst erhalten kann? Eine funktionierende wlast benötigt zumindest folgende Eigenschaften:
Das sind die zentralen Eigenschaften einer funktionierenden wlast. Der im Februar geschaffene embryonale Sowjet-wlast besaß einige dieser Eigenschaften bereits quasi zu Beginn. Im Verlauf der Monate nahmen diese und andere Eigenschaften mehr und mehr Substanz an, zunächst 1917 und daraufhin im Bürgerkrieg. So erlangte der Sowjet den Charakter einer nationalen Institution mit der all-russischen Konferenz im späten März und den zwei Sowjetkongressen im Juni und Oktober. Die Übergangsregierung hingegen verlor zunehmend selbst die grundlegenden Eigenschaften, die sie zu Anfang besaß, und ihre Existenz wurde mehr und mehr ein Schein. Zum Zeitpunkt ihres Sturzes 1917 hatte sie selbst die Unterstützung der moderaten Sowjetführer verloren und war nichts weiter als eine Schatten-wlast.
Wenden wir uns jetzt den ununterbrochenen politischen Krisen zu, welche das Verhältnis der Sowjets mit den Reformer-Eliten der Übergangsregierung bestimmten. 1917 wurde der politische Kampf innerhalb einer ungeschriebenen Verfassung ausgetragen, welche besagte, dass die Sowjetmehrheit die finale Entscheidungsmacht beim Programm und der Personalwahl hat. Gleich zu Beginn wurde Alexander Kerenski als Repräsentant des Sowjets zur Regierung hinzugefügt. Deshalb, und auch aus anderen Gründen, ist es nicht zielführend zwischen einer anfänglichen „Doppelmacht“-Situation und einer späteren Koalitionsphase zu unterscheiden.
Zwar schlug die Übergangsregierung im frühen Mai Reformvorschläge vor, doch der Sowjet erließ Verfügungen – er stimmte der Bitte der Regierung zu, mehr Repräsentanten des Sowjets in die Regierung zu schicken. Unabhängig davon wie viele individuelle Repräsentanten des Sowjets in die Regierung geschickt wurden, konnte keine wichtige politische Initiative ohne die ausdrücklichen Wünsche der Sowjetmehrheit durchgeführt werden. Deshalb endete jede politische Krise genau dann, wenn die Autorität des Sowjets ihren Willen deutlich machte, da sie die wirkliche Kontrolle über die Zwangsmittel besaß. Das gilt für März, April, Juli als auch den August und Oktober.
Natürlich war die Macht des Sowjets von Anfang an stark umkämpft: auch die Konterrevolution entstand im Februar. Der wesentliche Konflikt bestand in der Krise der Macht, damals die krisis wlasti genannt. Oftmals wurde das Problem folgendermaßen dargestellt: dwoewlastie, Doppelmacht, doppelte Souveränität, sei ein Widerspruch in sich – wenn die Verantwortung hier und dort liegt, wer trifft dann die eigentliche Entscheidung, die Entscheidung welche wirklich zählt? Deshalb sei die „Doppelmacht“ dasselbe wie „mehrfache Macht“, was so viel heißt wie überhaupt keine wlast: das Nicht-Funktionieren der Regierung sei vorprogrammiert. Russland benötigte eine unumstrittene, anerkannte und entschlossene (twerdaia) wlast.
Ab hier gingen die Meinungen auseinander. Die liberale Kadettenpartei war die erste Organisation, die entlang dieser Argumentation forderte, dass sich die Sowjets auflösen müssten. Die Bolschewiki wiederum nahmen diese Diskussion zum Anlass, um zu fordern, dass alle Macht zu den Sowjets übergehen müsse!
Die Anhänger der Sowjets standen einer existenziellen Frage gegenüber: war es möglich das Programm des Sowjets in gutem Glauben gemeinsam mit den Reformern der Elite durchzusetzen – oder war der Graben zwischen der Elite und dem narod in den fundamentalen Fragen von Krieg, Land und wirtschaftlicher Regulierung zu groß geworden, um überwunden werden zu können? Die Bolschewiki bezeichneten einen solchen Versuch der klassenübergreifenden Partnerschaft soglashatelsvo – ein Begriff der oftmals fälschlicherweise als „Versöhnung“ übersetzt wird, aber deutlicher mit „Einigungswillen“. ausgedrückt werden kann. Die Frage für die Anhänger des Sowjets war daher: ist ein solcher „Einigungswillen“ sinnvoll? Es mag zwar vorteilhaft sein mit den Eliten zusammenzuarbeiten anstatt sie zu bekämpfen, jedoch nicht wenn das bedeutet, die Ziele der Revolution aufzugeben.
Aus der Sicht der beginnenden Konterrevolution gab es zwei mögliche Strategien, das Sowjetsystem loszuwerden: ein „harter“ oder ein „weicher“ Coup. Einen harten Coup versuchte General Kornilow im späten August – doch dieser Versuch war bereits gescheitert, bevor er wirklich begonnen hatte. Er kollidierte mit den harten politischen Fakten von 1917, nämlich, dass die schlussendliche Loyalität der bewaffneten Truppen auf der Seite des Sowjets lag. Der softe Coup verfolgte eine andere Strategie. Auf verschiedenen Wegen wurde versucht, eine alternative, weitreichende wlast mit nationaler Unterstützung zu erzeugen, während der Sowjet darum gebeten wurde ehrenhaft abzutreten.
Die Anhänger des Sowjets fällten ihre Entscheidung im frühen September, als sich in Moskau und Petersburg neue Mehrheiten bildeten, welche ihre Unterstützung für eine Sowjetregierung ohne Einigung mit den Eliten aussprachen. Es zeichnete sich ab, dass der zweite Sowjetkongress, welcher im Oktober stattfinden sollte, eine ähnliche Linie vertreten würde. Jetzt stellte sich die Frage: würde die ungeschriebene Verfassung halten? Würde die neue Mehrheit des Sowjets in der Lage sein dieselbe schlussendliche Kontrolle über Politik und Personal der Regierung auszuüben, wie es die alte Mehrheit gewesen war? In der üblichen Geschichtsschreibung war Oktober der Zeitpunkt an dem die Sowjets die Übergangsregierung stürzten. Aus unserer Perspektive war es der Zeitpunkt an dem die Übergangsregierung daran scheiterte, die Sowjets zu stürzen.
Gleichzeitig übergaben die Sowjets die Führung der
bolschewistischen Partei. Diese Wahl war ein unumgängliches Ergebnis
der grundlegenderen Entscheidung, die Macht des Sowjets zu erhalten,
denn die Bolschewiki waren die einzige organisierte politische Kraft,
die dazu bereit und willens waren (Die linken Sozialrevolutionäre
waren zwar bereit, aber kaum eine organisierte politische Kraft.).
Mit der Auflösung der verfassungsgebenden Versammlung im Januar
erlosch die letzte Chance, die Sowjetmacht friedlich zu beenden,
d. h. durch freiwillige Selbstauflösung. Danach wurde diese
Frage auf dem Schlachtfeld geklärt.
Nach der ungeschriebenen Verfassung hatte ein regelmäßig gewählter Kongress der Sowjets, welcher Sowjets im ganzen Land repräsentierte, das Recht und die Pflicht, das Personal und die Politik der revolutionären Regierung festzulegen. Der zweite dieser Kongresse fand vom 25. bis 26. Oktober statt und war ein solches Gremium. Oft lassen wir uns von den dramatischen Debatten unter den Bolschewiki, und von dem „bewaffneten Aufstand“, welches das militärische revolutionäre Komitee des Petrograder Sowjets organisierte, ablenken. Dabei vergessen wir teilweise, dass die grundlegende Tatsache des Herbstes 1917 eine neue nationale Mehrheit der Sowjetwählerschaft war. Der Aufstand erscheint angesichts dieser Tatsache in einem anderen Licht: wir können uns einen zweiten Kongress ohne den Aufstand vorstellen, aber wir können uns keinen Aufstand ohne den zweiten Kongress vorstellen. Oder wie es Trotzki auf dem Sowjetkongress ausdrückte:
„Die politische Formel dieses Aufstands ist: Alle Macht den Räten durch den Kongress der Sowjets. Uns wird gesagt: ihr habt nicht den Kongress abgewartet. Wir verstanden es als Partei als unsere Pflicht, dem Kongress eine wirkliche Möglichkeit zu geben, das wlast in seine eigenen Hände zu nehmen.“
Deshalb ist es hilfreich, die Vorkommnisse auf dem zweiten Kongress genauer zu betrachten, um eine Vorstellung von der Bedeutung des Oktobers im Oktober zu bekommen – d. h. was der zweite Kongress darüber dachte, was er zu tun hätte, einschließlich der Mehrheit als auch Minderheit. Nach der ungeschriebenen Verfassung hatte ein ordentlich zusammengefundener Kongress der Sowjets das Recht, Personal und Politik der Regierung zu bestimmen. Das war der entscheidende Punkt, und niemand am Kongress bestritt dies, nicht einmal die entschlossensten Feinde der Bolschewiki.
Stattdessen versuchten sie, die Legitimität des Kongresses auf andere Arten und Weisen zu untergraben: Zunächst, indem sie den Kongress verließen, um ihm so seine Beschlussfähigkeit zu nehmen und ihn in eine „private Konferenz“ zu verwandeln. Außerdem behaupteten sie, dass der bewaffnete Konflikt und „Bürgerkrieg“ auf den Straßen die Arbeit des Kongresses unmöglich mache. Interessanterweise protestierten die anti-bolschewistischen Sozialist/innen nicht gegen den Arrest der Übergangsregierung, sondern nur gegen die Behandlung der sozialistischen Minister – und auch in diesem Fall war der Grund nicht ihr Status als Minister, sondern vielmehr, dass sie Parteigenossen auf einer parteilichen Mission waren. Schlussendlich gestanden sie zwar ein, dass der Kongress das Recht habe, eine neue Regierung zu formen, sogar eine, die alle Nicht-Sowjet-Parteien ausschließe. Dennoch bestanden sie darauf, dass die neue Sowjet-wlast alle Parteien des Sowjets und sogar alle demokratischen Kräfte einschließe – also alle vom menschewistischen Flügel um Martow bis hin zu den linken Sozialrevolutionären, obwohl eine solch breite Koalition ein unrealistischer Wunschtraum war. Aber niemand auf dem Kongress stellte die ungeschriebene Verfassung in Frage. Welches Programm übergab der Kongress der neuen Regierung? Drei Dinge wurden während der zweitägigen Sitzung entschieden: einen offiziellen Regierungsvorschlag für einen „demokratischen Frieden“, Land für die Bäuer/innen und damit einhergehend die Enteignung des Adelseigentums, und die Formierung einer „Arbeiter- und Bauernregierung“. Alle drei dieser Maßnahmen waren im Grunde genommen, in der damaligen Sprache, „demokratisch“, und dieser demokratischen Qualität wurde von offizieller Seite und von Sprecher/innen der Bolschewiki große Aufmerksamkeit geschenkt. Eine sehr berühmte Aussage von Lenin – möglicherweise die erste Bekanntmachung der neuen wlast – lautet folgendermaßen: „Die Ziele, für die die narod kämpften – die sofortige Erklärung eines demokratischen Friedens, die Abschaffung des Eigentums des Landadels, Arbeiterkontrolle über die Produktion, die Formation einer Sowjetregierung – diese Ziele sind jetzt gesichert“.
In seinem ursprünglichen Entwurf hatte Lenin „Lang lebe der Sozialismus!“ geschrieben, doch er strich diese Aussage. Diese Tatsache verweist auf eine andere Eigentümlichkeit der Debatten auf dem Kongress: die fast vollständige Abwesenheit des „Sozialismus“, sowohl als Wort als auch als Konzept. Es stimmt zwar, dass der Sozialismus als finales Ziel beschrieben wird. Aber die Bolschewiki verteidigten das tatsächliche Programm des Kongresses niemals als ein sozialistisches – und auch diejenigen, die die Bolschewiki attackierten, übten keine Kritik daran, dass sie unrealistischerweise versuchen würden den Sozialismus in Russland zu installieren. „Sozialismus“ war schlicht und ergreifend kein Thema auf dem zweiten Kongress.
Die historische Bedeutung des zweiten Kongresses liegt daher
darin, dass sich die vormals ungeschriebene Verfassung jetzt offen
als das unumgängliche Gesetz des Landes darstellte. Die embryonale
wlast, welche im Februar geschaffen wurde – eine wlast,
die ihre stabile Basis in den Arbeiter/innen und den Bäuer/innen
hatte und sich dem Programm der Revolution verschrieben hatte –
behauptete gegenüber der Welt ihren festen Willen zu Überleben und
zu Wachsen.
Betrachten wir den zweiten Kongress und sein Programm, stellt sich unweigerlich die Frage: was für eine Revolution war die Russische Revolution im Jahr 1917? Natürlich war eine Arbeiter/innen- und Bäuer/innenrevolution in Russland in gewisser Hinsicht unweigerlich „sozialistisch“, d. h. sie würde von überzeugten Sozialist/innen angeführt werden, deren schlussendliches Ziel der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft war. Sozialistische Parteien hatten das absolute Monopol an politischer Loyalität bei dem narod und in den Sowjets waren nur sozialistische Parteien vertreten. Weiterhin verstanden die Bolschewiki ihr Projekt in einem Kontext der sozialistischen Revolutionen in Europa, deren Ausbrechen in ihren Augen kurz bevorstand. Doch betrachten wir das tatsächliche Programm, welches die Sowjetmacht 1917 verabschiedete, und die Botschaft, welche die Bolschewiki tagein und tagaus der Wählerschaft der Sowjets übermittelten, werden wir feststellen, dass die „demokratischen“ Forderungen gegenüber den „sozialistischen“ Forderungen weitaus wichtiger waren.
Die binäre Gegensatz zwischen „bürgerlich-demokratischer Revolution“ und „sozialistischer Revolution“ hat in der marxistischen Tradition eine lange Geschichte, doch mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts zeigte er sich deutlich überstrapaziert. 1906 schrieb Karl Kautsky einen einflussreichen Artikel mit dem Titel Die treibenden Kräfte und die Zukunft der russischen Revolution. Lenin, Trotzki und Stalin waren über den Artikel hocherfreut und alle drei schrieben Kommentare dazu. Selbst nach der Revolution 1917 wurde der Artikel von Lenin, Trotzki und sogar von Karl Radek als klassische Darstellung der Logik hinter der revolutionären Strategie der Bolschewiki dargestellt.
In dem Artikel argumentiert Kautsky, dass in Russland „weder eine bürgerliche Revolution im traditionellen Sinne noch eine sozialistische Revolution“ stattfinden würde, „sondern ein einzigartiger Prozess, welcher auf der Grenze zwischen bürgerlicher und sozialistischer Gesellschaft“ existiert. Für Kautsky war die einzig mögliche zukünftige Revolution nicht bürgerlich, weil sie von Sozialist/innen geführt wurde, aber auch nicht sozialistisch, weil die bäuerlichen Verbündeten des Proletariats nicht für den Sozialismus bereit seien. Alle russischen Sozialdemokrat/innen (einschließlich Trotzki) stimmten darin überein, dass die bäuerliche Mehrheit Russlands ein Hindernis für die sozialistische Transformation waren, solange eine europäische Revolution, welche die Situation maßgeblich ändern würde, auf sich warten ließ.
Angesichts dieser Tatsachen scheint es angemessener, die Revolution 1917 als eine anti-bürgerliche demokratische Revolution zu verstehen. Die Revolution, welche die Sowjetmacht erschuf und verteidigte, war demokratisch in Bezug auf ihren Klasseninhalt und ihr Programm. Der Petrograder Sowjet wurde von den Arbeiter/innen und Soldaten der Hauptstadt geschaffen – das bedeutet, dass die Sowjetmacht von Beginn an ein „Arbeiter- und Bauern-wlast“ war und diesen Charakter niemals verlor. Der von allen Seiten anerkannte marxistische Diskurs im Jahr 1917 besagte, dass eine Revolution, welche die Interessen der Bäuer/innen vertrat, eine demokratische Revolution war.
Wie wir gesehen haben, war die Sowjet-Revolution 1917 auch in ihrem Programm demokratisch. Heutzutage ist unter Marxist/innen die Idee verbreitet, dass es notwendig war, den „sozialistischen Charakter der Revolution“ zu behaupten, um die Sowjetmacht als Projekt durchführen zu können. Diese Idee hält einer genaueren Untersuchung nicht stand – und tatsächlich wurde sie 1917 von Lenin und Trotzki selbst kraftvoll widerlegt. Möglicherweise gibt es unter heutigen Marxist/innen auch die Tendenz auf eine „nur“ demokratische Revolution herabzusehen, welche auf unbedeutende Reformen und ein armseliges „Minimalprogramm“ beschränkt war. Die Bolschewiki sahen dies völlig anders. Sie verstanden die demokratische Transformation Russlands – das Erschaffen radikaler Demokratie, Land für die Bäuer/innen, die Auflösung des Landadels als Klasse, die Modernisierung aller Sphären des Lebens – als eine höchst ambitionierte und lohnenswerte Aufgabe. Eine Aufgabe, welche nur von überzeugten Sozialist/innen durchgeführt werden könnte.
Dies bringt uns zum zweiten Teil unserer Definition: im Gegensatz zu den klassischen „bürgerlich-demokratischen Revolution“, war die russische Revolution von Beginn an anti-bürgerlich. Zunächst aus dem Grund, den Kautsky festgestellt hatte: sie wurde von Sozialist/innen und nicht von liberalen oder anderen „bürgerlichen“ Politiker/innen angeführt. Zweitens standen die Wähler/innen der Sowjets – die Arbeiter/innen und Bäuer/innen – diesen burzhui und den bürgerlichen Werten durchgehend feindlich gegenüber. Drittens fand die russische Revolution zu einem Zeitpunkt statt, als sich jedwedes funktionierende marktwirtschaftliche System in einem beschleunigten Zerfallsprozess befand.
Von Anfang an – d. h. von Februar – waren die Wähler/innen der Sowjets den burzhui gegenüber feindlich eingestellt. Damit waren sowohl die industriellen Eigentümer gemeint als auch, in einem weiteren Sinne, die tsenzoviki (ein abwertender Begriff gegenüber der gebildeten Elite, welcher den Eigentumsbedingungen des Zensuswahlrechts entsprang, das die Zahl der Wähler/innen begrenzte), die beloruchki (diejenigen mit „weißen Händen“), und andere unfreundliche Begriffe für die gebildeten Eliten. Selbst in den Anfangstagen, als die Hoffnungen auf eine reale Partnerschaft noch groß waren, wurden die burzhui mit Misstrauen betrachtet und ihnen wurde Unaufrichtigkeit unterstellt. Die positive Verpflichtung gegenüber den sozialen Institutionen war weitaus schwächer als die negative Haltung gegenüber den individuellen Bourgeois und ihren Werten. Die anti-bürgerliche Kraft erwuchs organisch aus der Tatsache der Sowjetmacht, und war nicht nur ein Wunschtraum sozialistischer Intellektueller.
Die bürgerliche Klasse, die Institutionen des Marktes und die
kleinbürgerlichen Werte wurden in den russischen „Zeiten der
Unruhe“, die 1914 begannen, zerstört, und es existierte kein
sozialer oder politischer Wille diese wiederherzustellen. Der
Sozialismus in der Sowjetunion erhielt seinen Inhalt daher aus dem
Antrieb, ein großes modernes Land zu schaffen, welches ohne
Bourgeoise, ohne einen autonomen Markt oder ohne bürgerlichen
Pluralismus funktioniert. Sowohl die kurzfristigen sozialen Dynamiken
als auch die langfristigen ökonomischen Ergebnisse der Revolution
wurden zuerst von dieser anti-bürgerlichen Haltung der
Wähler/innenschaft der Sowjets bestimmt.
Um zu verstehen, wieso gerade die Bolschewiki und keine andere Partei die Führung der Sowjetmacht erhielt, müssen wir unsere Perspektive etwas erweitern und die sogenannte Hegemoniestrategie der Bolschewiki vor 1917 einbeziehen. Der Begriff der „Hegemonie“ wird in verschiedenen Kontexten mit vielfältiger Bedeutung benutzt. Die Bolschewiki fassten damit ihre Sicht auf die Klassendynamiken in Russland, und verstanden darunter zuallererst, dass das sozialistische Proletariat als Anführer (Hegemon) der Bäuer/innen agieren würde. Oder ausführlicher gefasst: das sozialistische Proletariat würde die Revolution „zu ihrem Abschluss“ führen, indem es eine revolutionäre wlast auf der Basis der gemeinsamen Interessen der Arbeiter/innen und Bäuer/innen schaffen würde, und indem es jeden Versuch von liberalen Reformer/innen, die Revolution anzuhalten oder rückgängig zu machen, ablehnen würde.
Die bereits vor dem Krieg entstandene Hegemonialstrategie gab den Bolschewiki einen Vorsprung – eine Blaupause, die ihnen schlussendlich zur Mehrheit auf dem zweiten Kongress verhalf. Die Bolschewiki in Petrograd brauchten Lenin nicht, um die Situation abzuschätzen und sich darauf zu konzentrieren, die Wählerschaft des Sowjets – sowohl die Arbeiter/innen als auch die bäuerlichen Soldaten – für das Projekt der vollen Sowjetmacht zu gewinnen und sie davon zu überzeugen, jeden Einigungswillen mit den Reformern der Elite abzulehnen. Anführer der Bolschewiki wie Kamenew und Stalin waren sich sicher, dass die Übergangsregierung in keiner Weise dazu in der Lage wäre, das revolutionäre Programm umzusetzen und sicherlich schnell seine konterrevolutionäre Natur preisgeben würde.
In dieser Situation war die zentrale Fragestellung die Verbündung mit der Bauernschaft. Die Diskussionen der Bolschewiki nach Lenins Rückkehr im April zielten hauptsächlich darauf ab, eine Einigung über die unerlässliche revolutionäre Rolle der Bauernschaft zu erzielen. Deshalb bestanden einige Bolschewiki darauf, dass „die bürgerlich-demokratische Revolution noch nicht beendet“ sei – um damit eigentlich zu sagen, dass „die Bauernschaft noch immer ein Verbündeter in der Revolution“ ist. Lenins Antwort unterstrich, dass jedweder „Schritt in Richtung Sozialismus“ (z. B. die Enteignung der Banken) nur mit Verständnis und Unterstützung der Bauernschaft durchgeführt werden könne.
Dass die Bolschewiki auf die Führung der Bauernschaft durch die Arbeiter/innenklasse setzten, erklärt nicht nur den Sieg der Bolschewiki 1917, sondern auch ihren Sieg im Bürgerkrieg. Im Jahr 1920 (vor der Neuen Ökonomischen Politik), beschrieb Jewgeni Preobraschenski den „Mittelbauern“ als die „zentrale Figur der Revolution“:
Während des gesamten Bürgerkriegs folgte die Mittelbauernschaft dem Proletariat nicht sicher. Sie zögerte mehr als einmal, insbesondere wenn sie neue Bedingungen und Bürden tragen musste; mehr als einmal bewegte sie sich in Richtung ihres eigenen Klassenfeindes. [Aber] der Arbeiter- und Bauernstaat, welcher auf dieser Allianz des Proletariats mit 80% der Bauernschaft basierte, hat allein aus dieser Tatsache heraus keinerlei Konkurrenz um die wlast innerhalb der Grenzen Russlands.
Die Rote Armee war die Verkörperung dieser Hegemonie: bäuerliche Soldaten, revolutionäre Sozialist/innen als politische Führung, Offiziere, die ihre Erfahrung weitergaben, jedoch keinen politischen Einfluss besaßen, kämpften alle gemeinsam, um die Existenz der Arbeiter/innen und Bäuer/innen-wlast zu verteidigen. Selbst der Menschewik Fjodor Dan musste das anerkennen. 1922 stellte er fest, dass die Niederlage der mehrheitlich bäuerlichen Roten Armee in Polen 1920 nicht nur eine militärische Niederlage war:
„Um das enteignete Land vor der Rückkehr der Großgrundbesitzer zu schützen, ist der bäuerliche Soldat der Roten Armee zu größten Heldentaten und größter Motivation in der Lage. Unbewaffnet stellt er sich Kanonen, Panzern, und sein revolutionärer Eifer wird selbst die beste und disziplinierteste Armee anstecken und desorganisieren, wie man bei den Deutschen, den Briten und den Franzosen gleichermaßen beobachten konnte […]
Aber die bolschewistische Idee des Kommunismus ist dem bäuerlichen Soldaten der Roten Armee so fremd, seiner geistigen Haltung feindlich gegenüber, dass er von ihr weder angesteckt werden kann, noch andere damit anstecken kann. Er kann nicht von einem Krieg überzeugt werden, der die kapitalistische Gesellschaft in eine kommunistische Gesellschaft verwandeln soll, und hier liegt die Grenze des Potenzials der Roten Armee für die Bolschewiki.“
Dan besaß eine merkwürdige Vorstellung von der „bolschewistischen Idee des Kommunismus“. Nichtsdestotrotz können wir seinen Ausführungen zwei zentrale Punkte über die russische Revolution entnehmen. Zuerst, dass sie dann stark war, wenn sie mit den Interessen der Bauernschaft übereinstimmte, und dann schwach, wenn sie versuchte über diese Interessen hinauszugehen. Zweitens (von Dan versteckt), dass die Bauern ohne politische Führung durch eine politische Partei, welche ihre Basis in den urbanen Teilen des narod hatte, keine effektive Kampftruppe hätte bilden können.
Die Bolschewiki waren durch und durch der Allianz der
Arbeiter/innen und Bäuer/innen verschrieben, und demzufolge auch der
essenziell „demokratischen“ Revolution. Erst in seinen letzten
Artikeln formulierte Lenin explizit die Idee, dass das Proletariat
die bäuerliche Mehrheit bis zum Sozialismus führen könne. In
gewisser Hinsicht war diese Perspektive ein Bruch mit der
ursprünglichen Vorstellung von Hegemonie, doch weitaus grundlegender
war es nur eine Erweiterung der zentralen Idee, dass Sozialist/innen
die Bäuer/innen anführen.
Im Oktober wurde die Führung der Sowjetmacht den Bolschewiki übertragen. Wenn wir die Ereignisse aus dieser Perspektive betrachten, erscheint Lenins Führung innerhalb der Partei in einem neuen Licht, welches einige unerwartete Eigenschaften aufweist. Zunächst müssen wir aber damit beginnen, dass Lenin vor und nach der Revolution 1905 hauptverantwortlich für die Ausformulierung und Verteidigung der Hegemoniestrategie war. Im Oktober 1915 präzisierte er dieses Szenario, indem er vorschlug, dass ein Arbeiter- und Bauern-wlast in der zweiten Stufe der Revolution die Macht übernehmen und ein anti-zaristisches, aber kriegführendes Regime ersetzen würde. Damit verhalf er der Partei mit seiner grundlegenden strategischen Orientierung.
Als Lenin im April, nach einem Jahrzehnt im Exil, zurückkehrte, gab es ein starkes Potenzial für Unstimmigkeiten und Demoralisierung. Auffallend an Lenin im April – betrachten wir die Debatten unter den Bolschewiki genau – ist seine Fähigkeit, seinen Parteigenoss/innen zuzuhören, auszusortieren was wichtig und unwichtig war und Missverständnisse sowohl auf seiner als auch der Seite der Petrograder Bolschewiki auszuräumen. Ich möchte ein kleines, aber bezeichnendes Beispiel von Lenins Lernprozess geben. In seinen Briefen aus der Ferne, die er aus der Schweiz schickte bevor er zurückkehrte, redet Lenin wiederholt vom „Sowjet der Arbeiterdeputierten“. Die Redaktion der Prawda änderten diese Formulierung stillschweigend zum richtigen Titel des „Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten“. In der originalen Fassung seiner Aprilthesen, welche er direkt nach seiner Rückkehr verfasste, nutze Lenin noch immer den falschen, kürzeren Titel. Auf das Problem durch seine Parteigenoss/innen aufmerksam gemacht, änderte er seine Formulierung sofort zu dem Titel, der ein wichtiges Symbol der Allianz der Arbeiter/innen und Bäuer/innen war.
Lenin kommt auch der Verdienst zu, den berühmten Drei-Worte Slogan „Alle Macht den Sowjets“ aufzunehmen, jedoch auf unerwartete Art und Weise. Denn der Slogan erscheint nicht in den Aprilthesen oder in den Resolutionen der Parteikonferenz, welche am 29. April endete. Das erste Mal verwendet wird er allem Anschein nach auf einer Anti-Regierungs-Demonstration am 21. April, auf einem Banner durch die Straßen getragen. Lenin wurde auf die Forderung aufmerksam und zitierte sie später in einem Artikel für die Prawda am 2. Mai. In einem echten Parteidokument, also weder als anonymes Banner noch in einem Artikel eines Individuums, taucht die Forderung am 7. Mai in Prawda auf. Lenin war also weitsichtig genug, den Slogan zu bemerken und seine Möglichkeiten zu erkennen. Angesichts dieser Beweislage, scheint es tatsächlich Lenin gewesen zu sein, der die Forderung aus ihrer Anonymität hob und sie für die Agitation der Bolschewiki zentral machte.
Nach den Julitagen nahm Lenin an, dass die ungeschriebene Verfassung außer Kraft gesetzt worden war und das aktuelle Sowjetsystem nicht mehr dazu in der Lage war, Macht auszuüben. Deshalb wollte er die Forderung „Alle Macht den Sowjets!“ zurückziehen. Später gestand er ein, dass dies eine linksradikale [leftist – Anm. d. Ü.: ich habe hier linksradikal verwendet, weil es dem Diskurs Lenins entspricht, s. Der „Linke Radikalismus] Abweichung gewesen sei. Glücklicherweise waren jedoch andere Anführer/innen der Partei dazu in der Lage, die Forderung aufrecht zu erhalten, und dies sollte den Bolschewiki im Herbst, als das Sowjetsystem neue Kraft gewann, sehr zum Vorteil verhelfen. Diese Episode zeigt, dass Lenin ein effektiver Anführer gerade deshalb war, weil er Mitglied eines Teams war, das individuelle Fehleinschätzungen korrigierte.
Statt uns auf das Drama zu konzentrieren, mit dem Lenin seine bolschewistischen Genossen im Oktober davon überzeugte, einen Aufstand durchzuführen, sollten wir lieber seinem zentralen Argument zuhören: die Wählerschaft des Sowjets, sowohl Arbeiter/innen als auch Bäuer/innen, hatte sich im ganzen Land gegen jedwede Form des Einigungswillens ausgesprochen und sich daher de facto für die volle Sowjetmacht entschieden. Der bewaffnete Aufstand war zweifellos eine gute Idee, aber der Aufstand an sich schuf nicht die Sowjetmacht – stattdessen schützte er den zweiten Kongress und seine Fähigkeit, die ungeschriebene Verfassung in eine geschriebene zu verwandeln.
Lenin war der starke Anführer einer geeinten Partei. Aber die
Partei war nicht wegen ihres starken Anführers vereint – eher
hatte sie einen starken Anführer, weil sie auf der Basis der
grundlegenden Strategie vereint war: der sozialistischen Führung auf
dem Weg zum Arbeiter/innen und Bäuer/innen wlast.
Blickt man auf die Ereignisse von Februar bis Oktober zurück, ist man von der Unwahrscheinlichkeit der Sowjetmacht genauso beeindruckt wie von ihrer Unumgänglichkeit. Der Oktober war nur deshalb möglich, weil drei höchst ungewöhnliche Umstände zusammenkamen: der völlige Zusammenbruch des bisherigen wlast, das Erschaffen einer Institution, die auf den Arbeiter/innen und den bäuerlichen Soldaten basierte, und die Existenz einer Partei aus dem Untergrund, die eine nationale Struktur besaß und ein Programm hatte, welches auf die beiden ersten Umstände reagierte.
All diese Umstände wurden nur wenige Stunden nach dem Fall der zaristischen Regierung deutlich. Danach scheint der Oktober fast unvermeidlich. Der Einigungswillen war angesichts des riesigen Grabens zwischen den Bestrebungen des russischen Volkes und denen der Elite eine Sackgasse. Als dies klar wurde, waren die Bolschewiki mit ihrem Programm der Sowjetmacht die einzige Alternative, welche für die Wählerschaft der Sowjets verblieb. Selbst die Konterrevolution war keine wirkliche Alternative, denn sie war nicht dazu bereit, die Macht zu übernehmen um die Sowjets zu unterdrücken.
1917 war deshalb ein Jahr der Klarstellungen über den Kampfeinsatz. Die 1917 geschaffene Arbeiter/innen und Bäuer/innen-wlast überlebte den folgenden Bürgerkrieg, aber sie bezahlte mit einem schweren Preis.
Ein Opfer war die komplette Abschaffung von politischer Freiheit, obwohl diese vor dem Krieg ein zentrales Anliegen der Bolschewiki gewesen war. Dennoch kann das frühe Sowjetrussland in einigen zentralen Aspekten angemessen als ein „Arbeiter/innen und Bäuer/innen-wlast“ beschrieben werden. Die gesamte Großgrundbesitzerschicht wurde als Klasse aufgelöst, die frühere, gebildete Elite wurde von der politischen Macht verbannt, neue Regierungsinstitutionen wurden mehr und mehr von Arbeiter/innen und Bäuer/innen besetzt, viele der Maßnahmen der neuen Regierung zielten darauf ab, Unterstützung von diesen Klassen zu gewinnen (zum Beispiel durch Literarisierungskampagnen), und die Arbeiter/innen und Bäuer/innen wurden kontinuierlich in Liedern und Geschichten gefeiert. Selbst die massive politische Intoleranz war in gewisser Hinsicht eine „demokratische“ Eigenschaft, da sie eine weitverbreitete politische Ansicht darstellte.
Die Sowjetmacht, welche im Februar 1917 geschaffen und im Oktober durch die Akzeptanz der bolschewistischen Führung erhalten wurde, etablierte sich selbst als eine mächtige Kraft in der Welt, im Guten wie im Schlechten.
Übersetzung: Johannes Liess
Redaktion: Einde O’Callaghan
Korrektur: Jasper Stange
Lars T. Lih: From February to October
Lars T. Lih ist ein in Montreal lebender Wissenschaftler, zu seinen Werken zählen unter anderem Bread and Authority in Russia, 1914–1921 und Lenin Rediscovered: „What is to be Done?“ in Context. Dieser Essay erschien ursprünglich als Teil der Serie über die Russische Revolution im Jacobin Magazine.
Zuletzt aktualisiert am 14. Juli 2017