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J.W. Stalin
Marxismus und nationale Frage |
Es bleibt uns noch übrig, die positive Lösung der nationalen Frage zu umreißen.
Wir gehen davon aus, daß die Frage nur in untrennbarem Zusammenhang mit der gegenwärtigen Situation in Rußland gelöst werden kann.
Rußland durchlebt eine Übergangszeit, wo es zu einem „normalen“, „verfassungsmäßigen“ Leben noch nicht gekommen ist, wo die politische Krise noch nicht gelöst ist. Es stehen Tage der Stürme und „Komplikationen“ bevor. Daher die Bewegung, die vorhandene und die kommende, die sich die vollständige Demokratisierung zum Ziel setzt.
Eben im Zusammenhang mit dieser Bewegung muß die nationale Frage untersucht werden.
Also vollständige Demokratisierung des Landes als Grundlage und Vorbedingung der Lösung der nationalen Frage.
Bei der Lösung der Frage muß nicht nur die innere, sondern auch die äußere Lage berücksichtigt werden. Rußland liegt zwischen Europa und Asien, zwischen Osterrei~h und China. Das Anwachsen des Demokratismus in Asien ist unausbleiblich. Das Anwachsen des Imperialismus in Europa ist kein Zufall. In Europa wird es dem Kapital zu eng, und auf der Suche nach neuen Märkten, billigen Arbeitskräften, neuen Anlagemöglichkeiten drängt es ungestüm in fremde Länder. Das führt aber zu außenpolitischen Verwicklungen und zum Krieg. Niemand kann sagen, daß der Balkankrieg [27] das Ende und nicht der Anfang von Verwicklungen sei. Es ist deshalb sehr wohl ein Zusammentreffen innerer und äußerer Konjunkturen möglich, bei dem es diese oder jene Nationalität in Rußland notwendig fände, die Frage ihrer Unabhängigkeit aufzuwerfen und zu lösen. Und natürlich ist es nicht Sache der Marxisten, in solchen Fällen Hindernisse zu schaffen.
Daraus folgt aber, daß die russischen Marxisten ohne das Selbstbestimmungsrecht der Nationen nicht auskommen werden.
Also Selbstbestimmungsrecht als unumgänglicher Punkt bei der Lösung der nationalen Frage.
Weiter. Was soll mit den Nationen werden, die es aus diesen oder jenen Gründen vorziehen werden, im Rahmen des Ganzen zu verbleiben?
Wir haben gesehen, daß die national-kulturelle Autonomie untauglich ist. Erstens ist sie künstlich und lebensunfähig, denn sie setzt voraus, daß Menschen, die das Leben, das wirkliche Leben, auseinanderreißt und in die verschiedenen Ecken und Enden des Staates verstreut, künstlich zu einer Nation zusammengezogen werden. Zweitens treibt sie zum Nationalismus, denn sie führt zum Standpunkt der „Abgrenzung“ der Menschen nach nationalen Kurien, zum Standpunkt der „Organisierung“ von Nationen, zum Standpunkt der „Wahrung“ und Pflege der „nationalen Eigenart“ - eine Sache, die der Sozialdemokratie ganz und gar nicht zukommt. Es ist kein Zufall, daß sich die mährischen Separatisten im Reichsrat nach ihrer Trennung von den deutschen sozialdemokratischen Abgeordneten mit den mährischen bürgerlichen Abgeordneten zu einem, sozusagen, mährischen „Kolo“ [Ring] zusammengeschlossen haben. Kein Zufall ist es auch, daß die Separatisten aus dem „Bund“, die den „Sabbat“ und das „Jiddische“ verherrlichen, im Nationalismus versumpft sind. In der Duma gibt es noch keine bundistischen Abgeordneten, aber im Wirkungsbereich des „Bund“ gibt es die klerikal-reaktionäre jüdische Gemeinde, in deren „leitenden Institutionen“ der „Bund“ einstweilen eine „Vereinigung“ der jüdischen Arbeiter und Bourgeois arrangiert. [1*] Das ist nun einmal die Logik der national-kulturellen Autonomie.
Die nationale Autonomie ist also keine Lösung der Frage.
Wo ist nun der Ausweg?
Die einzig richtige Lösung ist die Gebietsautonomie, die Autonomie solcher ausgeprägter Einheiten, wie es Polen, Litauen, die Ukraine, der Kaukasus usw. sind.
Der Vorzug der Gebietsautonomie besteht vor allem darin, daß man es bei ihr nicht mit einer Fiktion ohne Territorium, sondern mit einer bestimmten Bevölkerung zu tun hat, die auf einem bestimmten Territorium. lebt. Ferner scheidet sie nicht die Menschen nach Nationen, festigt nicht die nationalen Schranken – im Gegenteil, sie reißt diese Schranken ein und vereinigt die Bevölkerung, um einer Scheidung anderer Art, der Scheidung nach Klassen, den Weg zu ebnen. Schließlich bietet sie die Möglichkeit, aufs beste die Naturschätze des betreffenden Gebietes zu erschließen und die Produktivkräfte zu entfalten, ohne daß erst die Beschlüsse des gemeinsamen Zentrums abgewartet werden müßten – Funktionen, die der national-kulturellen Autonomie abgehen.
Also Gebietsautonomie als unumgänglicher Punkt bei der Lösung der nationalen Frage.
Kein Zweifel, daß kein einziges Gebiet in seiner ganzen Ausdehnung national homogen ist, denn in jedes von ihnen sind nationale Minderheiten eingesprenkelt. So die Juden in Polen, die Letten in Litauen, die Russen im Kaukasus, die Polen in der Ukraine usw. Man könnte daher befürchten, daß die nationalen Mehrheiten die Minderheiten unterdrücken werden. Solche Befürchtungen sind aber nur in dem Falle begründet, wenn das Land bei den alten Zuständen bleibt. Man gebe dem Land einen vollständigen Demokratismus, und diese Befürchtungen werden jeden Boden verlieren.
Es wird vorgeschlagen, die zerstreuten Minderheiten zu einem einheitlichen nationalen Verband zusammenzufassen. Die Minderheiten brauchen aber keinen künstlichen Verband, sondern reale Rechte bei sich zu Hause. Was könnte ihnen ein solcher Verband ohne völlige Demokratisierung geben? Oder: Wozu braucht man einen nationalen Verband bei völliger Demokratisierung?
Was bewegt eine nationale Minderheit besonders?
Die Minderheit ist unzufrieden, nicht weil ihr ein nationaler Verband fehlt, sondern weil ihr das Recht auf die Muttersprache vorenthalten wird. Man gebe ihr das Recht, ihre Muttersprache zu gebrauchen, und die Unzufriedenheit wird von selbst verschwinden.
Die Minderheit ist unzufrieden, nicht weil ihr ein künstlicher Verband fehlt, sondern weil ihr die eigene nationale Schule vorenthalten wird. Man gebe ihr eine solche Schule, und ihre Unzufriedenheit wird jeden Boden verlieren.
Die Minderheit ist unzufrieden, nicht weil ihr ein nationaler Verband fehlt, sondern weil ihr Gewissensfreiheit (die Freiheit des Glaubensbekenntnisses), Freizügigkeit usw. vorenthalten werden. Man gebe ihr diese Freiheiten, und sie wird nicht mehr unzufrieden sein.
Also nationale Gleichberechtigung in allen ihren Formen (Sprache, Schulen usw.) als unumgänglicher Punkt bei der Lösung der nationalen Frage. Unumgänglich ist folglich ein auf der Grundlage völliger Demokratisierung des Landes erlassenes allgemeines Staatsgesetz, das ausnahmslos alle Arten nationaler Vorrechte und jede wie immer geartete Beengung oder Einschränkung der Rechte der nationalen Minderheiten verbietet.
Hierin und nur hierin kann die wirkliche und nicht papierene Garantie der Rechte der Minderheit bestehen.
Man kann das Bestehen eines logischen Zusammenhangs zwischen dem organisatorischen Föderalismus und der national-kulturellen Autonomie bestreiten oder nicht bestreiten. Unbestreitbar ist jedoch, daß diese letztere eine günstige Atmosphäre für einen uferlosen Föderalismus schafft, der in einen völligen Bruch, in Separatismus übergeht. Wenn die Tschechen in Österreich und die Bundisten in Rußland mit der Autonomie begannen, dann zur Föderation übergingen und beim Separatismus landeten, so hat hierbei eine große Rolle zweifellos die nationalistische Atmosphäre gespielt, die naturgemäß von der national-kulturellen Autonomie verbreitet wird. Es ist kein Zufall, daß nationale Autonomie und Föderation in der Organisation Hand in Hand gehen. Das ist auch verständlich. Beide fordern die Scheidung nach Nationalitäten. Beide setzen eine Organisierung nach Nationalitäten voraus. Die Ähnlichkeit liegt auf der Hand. Der Unterschied ist lediglich der, daß man dort die Bevölkerung überhaupt – hier aber die sozialdemokratischen Arbeiter scheidet.
Wir wissen, wozu die Scheidung der Arbeiter nach Nationalitäten führt. Zerfall der einheitlichen Arbeiterpartei, Teilung der Gewerkschaften nach Nationalitäten, Verschärfung der nationalen Reibungen, nationales Streikbrechertum, völlige Demoralisation in den Reihen der Sozialdemokratie – das sind die Resultate des organisatorischen Föderalismus. Die Geschichte der Sozialdemokratie in Österreich und die Tätigkeit des „Bund“ in Rußland sind ein beredtes Zeugnis dafür.
Das einzige Mittel dagegen ist die Organisierung nach den Grundsätzen der Internationalität.
Lokale Zusammenfassung der Arbeiter aller Nationalitäten Rußlands zu einheitlichen und geschlossenen Kollektiven, Zusammenfassung dieser Kollektive zu einer einheitlichen Partei – das ist die Aufgabe.
Es versteht sich von selbst, daß ein derartiger Aufbau der Partei eine weitgehende Autonomie der Gebiete innerhalb des einheitlichen Parteiganzen nicht ausschließt, sondern voraussetzt.
Die Erfahrungen des Kaukasus zeigen die ganze Zweckmäßigkeit eines solchen Organisationstypus. Wenn es den Kaukasiern gelungen ist, die nationalen Reibungen zwischen den armenischen und den tatarischen Arbeitern zu überwinden, wenn es ihnen gelungen ist, die Bevölkerung gegen die Möglichkeit von Metzeleien und Schießereien zu sichern, wenn in Baku, diesem Kaleidoskop nationaler Gruppen, nationale Zusammenstöße jetzt schon unmöglich sind, wenn es dort gelungen ist, die Arbeiter in das einheitliche Fahrwasser einer machtvollen Bewegung hineinzuziehen, so hat der internationale Aufbau der kaukasischen Sozialdemokratie hierbei nicht die letzte Rolle gespielt.
Der Typus der Organisation wirkt nicht allein auf die praktische Arbeit. Er drückt dem ganzen geistigen Leben des Arbeiters seinen unauslöschlichen Stempel auf. Der Arbeiter lebt das Leben seiner Organisation, dort wächst er geistig, dort wird er erzogen. Dadurch nun, daß er in seiner Organisation verkehrt, dort jedesmals mit seinen Genossen aus anderen Nationalitäten zusammentrifft und mit ihnen zusammen unter der Führung des gemeinsamen Kollektivs den gemeinsamen Kampf führt, wird er tief von dem Gedanken durchdrungen, daß die Arbeiter vor allem Angehörige einer einzigen Klassenfamilie, Glieder der einheitlichen Armee des Sozialismus sind. Das aber kann nicht ohne gewaltige erzieherische Bedeutung für breite Schichten der Arbeiterklasse bleiben.
Darum ist der internationale Organisationstypus eine Schule kameradschaftlichen Fühlens, die größte Agitation zugunsten des Internationalismus.
Anders die Organisation nach dem Nationalitätenprinzip. Nach Nationalitäten organisiert, kapseln sich die Arbeiter in ihren nationalen Schalen ab, grenzen sich durch organisatorische Zwischenwände gegeneinander ab. Hervorgehoben wird nicht das Gemeinsame unter den Arbeitern, sondern das, was sie voneinander unterscheidet. Hier ist der Arbeiter vor allem Angehöriger seiner Nation: Jude, Pole usw. Kein Wunder, daß der nationale Föderalismus in der Organisation die Arbeiter im Geist der nationalen Absonderung erzieht.
Darum ist der nationale Organisationstypus eine Schule nationaler Borniertheit und Verknöcherung.
Wir haben somit zwei prinzipiell verschiedene Organisationstypen vor uns: den Typus der internationalen Geschlossenheit und den Typus der organisatorischen Scheidung“ der Arbeiter nach Nationalitäten.
Die Versuche, beide Typen miteinander in Übereinstimmung zu bringen, sind bis jetzt erfolglos geblieben. Die versöhnlerischen Satzungen der österreichischen Sozialdemokratie, die 1897 auf dem Wimberger Parteitag ausgearbeitet wurden, blieben in der Luft hängen. Die österreichische Partei zerfiel in Stücke und zog die Gewerkschaften nach sich. Die „Versöhnung“ erwies sich nicht nur als utopisch, sondern auch als schädlich. Strasser hat recht, wenn er behauptet, daß der „Separatismus seinen ersten Triumph auf dem Wimberger Parteitag“ feierte. [2*] Dasselbe in Rußland. Die „Versöhnung“ mit dem Föderalismus des „Bund“, die auf dem Stockholmer Parteitag zustande gekommen war, endete mit einem vollständigen Zusammenbruch. Der „Bund“ vereitelte das Stockholmer Kompromiß. Gleich am Tage nach Stockholm wurde der „Bund“ zu einem Hemmschuh bei der Vereinigung der Arbeiter der einzelnen Orte zu einer einheitlichen, die Arbeiter aller Nationalitäten umfassenden Organisation. Und der „Bund“ setzte seine separatistische Taktik hartnäckig fort, obgleich die Sozialdemokratie Rußlands sowohl 1907 als auch 1908 wiederholt die Forderung stellte, die Einheit der Arbeiter aller Nationalitäten von unten her endlich zu verwirklichen. [28] Der „Bund“, der mit der organisatorischen nationalen Autonomie begonnen hatte, ging in der Praxis zur Föderation über, um beim völligen Bruch, beim Separatismus zu landen. Durch seinen Bruch mit der Sozialdemokratie Rußlands trug er aber Zerfahrenheit und Desorganisation in sie hinein. Es sei beispielshalber nur an den Fall Jagiello [29] erinnert.
Darum muß der Weg der „Versöhnung“ als utopisch und schädlich aufgegeben werden.
Von zwei Dingen eins: Entweder der Föderalisnuis des „Bund“, und dann stellt sich die Sozialdemokratie Rußlands nach den Grundsätzen der „Scheidung“ der Arbeiter nach Nationalitäten um; oder internationaler Organisationstypus, und dann stellt sich der „Bund“ nach den Grundsätzen der territorialen Autonomie, nach dem Vorbild der kaukasischen, der lettischen und der polnischen Sozialdemokratie, um und macht die Bahn frei für die unmittelbare Vereinigung der jüdischen Arbeiter mit den Arbeitern der anderen Nationalitäten Rußlands.
Ein Mittelding gibt es nicht: Prinzipien siegen, lassen sich aber nicht „versöhnen“.
Also Prinzip der internationalen Zusammenfassung der Arbeiter als unumgänglicher Punkt bei der Lösung der nationalen Frage.
Wien, Januar 1913.
1*. Bericht über die VIII. Konferenz des „Bund“, Schluß der Resolution über die Gemeinde.
2*. J. Strasser, a.a.O.
27. Der erste Balkankrieg, der im Oktober 1912 zwischen Bulgarien, Serbien und Montenegro auf der einen, der Türkei auf der anderen Seite ausbrach.
28. Siehe die Beschlüsse der vierten (der „Dritten allrussischen“) Konferenz der SDAPR, die vom 5. bis zum 12. November 1907 tagte, und der V. Konferenz der SDAPR (der „Allrussisdien Konferenz von 1908“) vom 21. bis zum 27. Dezember 1908 (3.-9. Januar 1909).
Zuletzt aktualisiert am 16.10.2004