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J.W. Stalin
Marxismus und nationale Frage |
Die Nation ist nicht einfach eine historische Kategorie, sondern eine historische Kategorie einer bestimmten Epoche, der Epoche des aufsteigenden Kapitalismus. Der Prozeß der Liquidierung des Feudalismus und der Entwicklung des Kapitalismus ist gleichzeitig der Prozeß des Zusammenschlusses der Menschen zu Nationen. So geschah es z.B. in Westeuropa. Die Engländer, Franzosen, Deutschen, Italiener und andere formierten sich zu Nationen bei dem siegreichen Vormarsch des über die feudale Zersplitterung triumphierenden Kapitalismus.
Die Bildung von Nationen bedeutete dort aber gleichzeitig ihre Verwandlung in selbständige Nationalstaaten. Die englische, die französische und andere Nationen stellen gleichzeitig den englischen und andere Staaten dar. Irland, das außerhalb dieses Prozesses geblieben ist, ändert nichts an dem allgemeinen Bild.
Etwas anders verliefen die Dinge in Osteuropa. Während sich im Westen die Nationen zu Staaten entwickelten, bildeten sich im Osten Nationalitätenstaaten, Staaten, die sich aus mehreren Nationalitäten zusammensetzen. Derartige Staaten sind Österreich-Ungarn und Rußland. In Osterreich erwiesen sich die Deutschen als in politischer Hinsicht am meisten entwickelt – sie übernahmen denn auch das Werk der Vereinigung der österreichischen Nationalitäten zu einem Staat. In Ungarn erwiesen sich die Madjaren, der Kern der ungarischen Nationalitäten, als die zur Staatsbildung geeignetsten, und sie waren auch die Vereiniger Ungarns. In Rußland wurde die Rolle des Vereinigers der Nationalitäten von den Großrussen übernommen, an deren Spitze eine historisch entstandene, starke und organisierte adelige Militärbürokratie stand.
So ging die Sache im Osten vor sich.
Diese eigentümliche Art der Staatenbildung konnte nur unter den Verhältnissen des noch nicht beseitigten Feudalismus, unter den Verhältnissen des schwach entwickelten Kapitalismus stattfinden, als die in den Hintergrund gedrängten Nationalitäten noch nicht dazu gekommen waren, sich ökonomisch zu geschlossenen Nationen zu konsolidieren.
Der Kapitalismus beginnt sich aber auch in den östlichen Staaten zu entwickeln. Handel und Verkehrswege entwickeln sich. Es entstehen Großstädte. Die Nationen konsolidieren sich ökonomisch. Der in das geruhsame Dasein der zurückgedrängten Nationalitäten eingebrochene Kapitalismus rüttelt diese auf und setzt sie in Bewegung. Die Entwicklung der Presse und des Theaters, die Tätigkeit des Reichsrats (in Österreich) und der Duma (in Rußland) tragen zur Stärkung der „nationalen Gefühle“ bei. Die aufgekommene Intelligenz wird von der „nationalen Idee“ durchdrungen und wirkt in derselben Richtung ...
Aber die zu selbständigem Dasein erwachten zurückgedrängten Nationen bilden jetzt keine unabhängigen Nationalstaaten mehr: sie begegnen auf ihrem Wege dem stärksten Widerstand der führenden Schichten der herrschenden Nationen, die sich schon längst an die Spitze des Staates gestellt haben. Zu spät! ...
So formieren sich zu Nationen die Tschechen, die Polen usw. in Osterreich; die Kroaten und andere in Ungarn; die Letten, Litauer, Ukrainer, Georgier, Armenier und andere in Rußland. Was in Westeuropa Ausnahme war (Irland), wurde im Osten zur Regel.
Im Westen antwortete Irland auf seine Ausnahmestellung mit einer nationalen Bewegung. Im Osten mußten die erwachten Nationen dasselbe tun.
So gestalteten sich die Umstände, die die jungen Nationen des europäischen Ostens zum Kampf antrieben.
Der Kampf begann und entbrannte eigentlich nicht zwischen den Nationen im ganzen genommen, sondern zwischen den herrschenden Klassen der madithabenden und denen der zurückgedrängten Nationen. Den Kampf führt gewöhnlich entweder das städtische Kleinbürgertum der unterdrückten Nation gegen die Großbourgeoisie der herrschenden Nation (Tschechen und Deutsche), oder die ländliche Bourgeoisie der unterdrückten Nation gegen die Gutsherren der herrschenden Nation (Ukrainer in Polen), oder aber die ganze „nationale“ Bourgeoisie der unterdrückten Nationen gegen den regierenden Adel der machthabenden Nation (Polen, Litauen, die Ukraine in Rußland).
Die Bourgeoisie ist die handelnde Hauptperson.
Die grundlegende Frage für die junge Bourgeoisie ist der Markt. Ihr Ziel ist, ihre Waren abzusetzen und aus dem Konkurrenzkampf gegen die Bourgeoisie anderer Nationalität als Sieger hervorzugehen. Daher ihr Wunsch, sich ihren „eigenen“, „heimatlichen“ Markt zu sichern. Der Markt ist die erste Schule, in der die Bourgeoisie den Nationalismus erlernt.
Doch bleibt es gemeinhin nicht bei dem Markt allein. In den Kampf greift die halbfeudale, halbbürgerliche Bürokratie der herrschenden Nation mit ihren Methoden „des Einsperrens und Verbietens“ ein. Die Bourgeoisie der machthabenden Nation – einerlei ob sie klein oder groß ist – erhält die Möglichkeit, „rascher“ und „entschiedener“ mit ihrem Konkurrenten fertig zu werden. Die „Kräfte“ vereinigen sich, und es setzt gegenüber der „fremdstämmigen“ Bourgeoisie eine ganze Anzahl von Beschränkungsmaßnahmen ein, die in Repressalien münden. Aus der wirtschaftlichen Sphäre greift der Kampf auf die politische über. Beschränkung der Freizügigkeit, Knebelung der Sprache, Schmälerung der Wahlrechte, Verminderung der Zahl der Schulen, religiöse Bedrückungen und dergleichen mehr prasseln nur so auf den Kopf des „Konkurrenten“ nieder. Diese Maßnahmen bezwecken natürlich nicht nur die Wahrnehmung der Interessen der bürgerlichen Klassen der machthabenden Nation, sondern sie verfolgen auch sozusagen spezifisch kastenmäßige Ziele der regierenden Bürokratie. Im Hinblick auf die Resultate ist dies jedoch ganz gleichgültig: die bürgerlichen Klassen und die Bürokratie sehen in diesem Fall Hand in Hand – ganz gleich, ob es sich um Österreich-Ungarn oder um Rußland handelt.
Die von allen Seiten bedrängte Bourgeoisie der unterdrückten Nation gerät naturgemäß in Bewegung. Sie appelliert an die „heimischen unteren Volksschichten“, erhebt ein Geschrei vom „Vaterland“ und gibt ihre eigene Sache für die Sache des ganzen Volkes aus. Sie wirbt für sich eine Armee aus „Landsleuten“ im Interesse – der „Heimat“. Und die „unteren Volksschichten“ verschließen sich nicht immer ihrem Werben, sondern scharen sich um ihr Banner: die Repressalien von oben treffen auch die unteren Schichten und lösen bei ihnen Unzufriedenheit aus.
So setzt die nationale Bewegung ein.
Die Stärke der nationalen Bewegung wird durch den Grad bedingt, in dem die breiten Schichten der Nation – das Proletariat und die Bauernschaft – an ihr beteiligt sind.
Ob das Proletariat unter das Banner des bürgerlichen Nationalismus tritt oder nicht – das hängt von dem Grad der Entwicklung der Klassengegensätze, vom Klassenbewußtsein und von der Organisiertheit des Proletariats ab. Das klassenbewußte Proletariat hat sein eigenes erprobtes Banner, und es hat keine Ursache, unter das Banner der Bourgeoisie zu treten.
Was die Bauern anbelangt, so hängt ihre Beteiligung an der nationalen Bewegung vor allem vom Charakter der Repressalien ab. Wenn die Repressalien die Interessen der „Scholle“ berühren, wie dies in Irland der Fall war, so treten die breiten Bauernmassen unverzüglich unter das Banner der nationalen Bewegung.
Wenn es anderseits beispielsweise in Georgien keinen einigermaßen ernst zu nehmenden antirussischen Nationalismus gibt, so vor allem deswegen, weil es dort keine russischen Gutsbesitzer und keine russische Großbourgeoisie gibt, die einen derartigen Nationalismus unter den Massen nähren könnten. In Georgien gibt es einen antiarmenischen Nationalismus, dies kommt aber daher, weil es dort noch eine armenische Großbourgeoisie gibt, die die noch nicht erstarkte georgisdie Kleinbourgeoisie niederringt und sie zu einem antiarmenischen Nationalismus drängt.
Je nach diesen Faktoren nimmt die nationale Bewegung entweder Massencharakter an und breitet sich immer mehr aus (Irland, Galizien), oder aber sie wird zu einer Kette kleiner Geplänkel und artet in Skandale und einen „Kampf“ um Firmenschilder aus (einige Kleinstädte in Böhmen).
Der Inhalt der nationalen Bewegung kann natürlich nicht überall der gleiche sein: Er wird ganz und gar durch die verschiedenartigen Forderungen bedingt, die von der Bewegung aufgestellt werden. In Irland trägt die Bewegung den Charakter einer Agrarbewegung, in Böhmen einen „Sprachen“charakter; hier verlangt man staatsbürgerliche Gleichberechtigung und Freiheit des Glaubensbekenntnisses, dort „eigene“ Beamte oder einen eigenen Landtag. In den verschiedenartigen Forderungen schimmern mitunter die verschiedenartigen Merkmale durch, die für die Nation im allgemeinen kennzeichnend sind (Sprache, Territorium usw.). Beachtung verdient der Umstand, daß man nirgends Forderungen nach dem Bauerschen allumfassenden „Nationalcharakter“ antrifft. Das ist auch begreiflich: der „Nationalcharakter“ an und für sich ist etwas Ungreifbares, und J. Strasser bemerkt ganz richtig: „... was sollen wir in der Politik ... mit ihm anfangen?“ [1*]
Das sind im allgemeinen die Formen und der Charakter der nationalen Bewegung.
Aus dem Gesagten wir klar, daß der nationale Kampf unter den Bedingungen des aufsteigenden Kapitalismus ein Kampf der bürgerlichen Klassen untereinander ist. Manchmal gelingt es der Bourgeoisie, das Proletariat in die nationale Bewegung hineinzuziehen, und dann scheint der nationale Kampf äußerlich ein Kampf „des ganzen Volkes“ zu sein, aber nur äußerlich. Seinem Wesen nach bleibt er stets ein bürgerlicher Kampf, der hauptsächlich für die Bourgeoisie vorteilhaft und ihr genehm ist.
Daraus folgt aber keineswegs, daß das Proletariat nicht gegen die Politik der Unterdrückung der Nationalitäten kämpfen soll.
Beschränkung der Freizügigkeit, Entziehung des Wahlrechts, Knebelung der Sprache, Verringerung der Zahl der Schulen und sonstige Repressalien treffen die Arbeiter in nicht geringerem, wenn nicht in höherem Maße als die Bourgeoisie. Eine solche Lage kann die trete Entwicklung der geistigen Kräfte des Proletariats der unterworfenen Nationen nur hemmen. Man kann nicht ernstlich von einer vollen Entfaltung der geistigen Anlagen des tatarischen oder des jüdischen Arbeiters sprechen, wenn ihm nicht die Möglichkeit gegeben wird, seine Muttersprache in Versammlungen und Vorträgen zu gebrauchen, wenn ihm seine Schulen geschlossen werden.
Die Politik nationalistischer Repressalien ist aber für die Sache des Proletariats auch noch in anderer Hinsicht gefährlich. Sie lenkt die Aufmerksamkeit breiter Schichten von den sozialen Fragen, von den Fragen des Klassenkampf es ab und lenkt sie auf nationale Fragen, auf „gemeinsame“ Fragen des Proletariats und der Bourgeoisie hin. Dies aber schafft einen günstigen Boden für die verlogene Predigt einer „Interessenharmonie“, für die Vertuschung der Klasseninteressen des Proletariats, für die geistige Knechtung der Arbeiterschaft. Dadurch wird der Sache des Zusammenschlusses der Arbeiter aller Nationalitäten ein ernstliches Hindernis bereitet. Wenn ein beträchtlicher Teil der polnischen Arbeiter bis jetzt in der geistigen Knechtschaft der bürgerlichen Nationalisten verharrt, wenn er bis jetzt abseits von der internationalen Arbeiterbewegung steht, so hauptsächlich deswegen, weil die althergebrachte antipolnische Politik der „Machthabenden“ den Boden für eine solche Knechtschaft schafft und die Befreiung der Arbeiter aus dieser Knechtschaft erschwert.
Die Politik der Repressalien bleibt aber nicht hierbei stehen. Vom „System“ der Unterdrückung geht sie nicht selten zum „System“ der Verhetzung der Nationen über, zum „System“ des Gemetzels und der Pogrome. Natürlich ist dieses „System“ nicht überall und nicht immer möglich, aber wo es möglich ist – wo nämlich die elementaren Freiheiten fehlen – nimmt es nicht selten erschreckende Ausmaße an und droht, die Sache des Zusammenschlusses der Arbeiter in Blut und Tränen zu ertränken. Der Kaukasus und Südrußland bieten nicht wenige Beispiele dafür. „Teile und herrsche“ – das ist das Ziel der Verhetzungspolitik. Und soweit eine derartige Politik Erfolg hat, ist sie das größte Übel für das Proletariat, ist sie ein höchst ernstliches Hindernis für die Sache des Zusammenschlusses der Arbeiter aller Nationalitäten eines Staates.
Die Arbeiter sind jedoch interessiert an der völligen Vereinigung aller ihrer Klassengenossen zu einer einheitlichen internationalen Armee, an ihrer raschen und endgültigen Befreiung aus der geistigen Knechtschaft der Bourgeoisie, an der vollen und freien Entfaltung der geistigen Kräfte ihrer Mitbrüder, welcher Nation sie auch angehören mögen.
Darum kämpfen die Arbeiter und werden auch weiter kämpfen gegen die Politik der Unterdrückung der Nationen in allen ihren Formen, von den raffiniertesten bis zu den brutalsten, ebenso wie gegen die Politik der Verhetzung in allen ihren Formen.
Darum proklamiert die Sozialdemokratie aller Länder das Selbstbestimmungsrecht der Nationen.
Recht auf Selbstbestimmung, das heißt: Nur die Nation selbst hat das Recht, über ihr Schicksal zu bestimmen; niemand hat das Recht, sich in das Leben einer Nation gewaltsam einzumischen, ihre Schulen und, sonstigen Einrichtungen zu zerstören, ihre Sitten und Gebräuche umzustoßen, ihre Sprache zu knebeln, ihre Rechte zu schmälern.
Das bedeutet natürlich nicht, daß die Sozialdemokratie alle und jegliche Gebräuche und Einrichtungen einer Nation unterstützen wird. Im Kampf gegen die Vergewaltigung einer Nation wird sie nur für das Recht der Nation eintreten, selbst über ihr Schicksal zu bestimmen, gleichzeitig aber eine Agitation gegen die schädlichen Gebräuche und Einrichtungen dieser Nation betreiben, um den werktätigen Schichten der gegebenen Nation die Möglichkeit zu geben, sich ihrer zu entledigen.
Recht auf Selbstbestimmung, das heißt: Die Nation kann sich nach eigenem Gutdünken einrichten. Sie hat das Recht, ihr Leben nach den Grundsätzen der Autonomie einzurichten. Sie hat das Recht, zu anderen Nationen in föderative Beziehungen zu treten.. Sie hat das Recht, sich gänzlich loszutrennen. Die Nation ist souverän, und alle Nationen sind gleichberechtigt.
Das bedeutet natürlich nicht, daß die Sozialdemokratie für jede beliebige Forderung einer Nation eintreten wird. Eine Nation hat das Recht, sogar zu alten Zuständen zurückzukehren, aber das heißt noch nicht, daß die Sozialdemokratie einen derartigen Beschluß dieser oder jener Institution der gegebenen Nation unterschreiben wird. Die Pflichten der Sozialdemokratie, die die Interessen des Proletariats verficht, und die Rechte der Nation, die aus verschiedenen Klassen zusammengesetzt ist, sind zwei verschiedene Dinge.
In ihrem Kampf für das Selbstbestimmungsrecht der Nationen steckt sich die Sozialdemokratie das Ziel, der Politik der nationalen Unterdrückung ein Ende zu setzen, sie unmöglich zu machen und damit den Kampf unter den Nationen zu untergraben, ihn abzustumpfen und auf ein Mindestmaß zu reduzieren.
Dadurch unterscheidet sich die Politik des klassenbewußten Proletariats wesentlich von der Politik der Bourgeoisie, die bemüht ist, den nationalen Kampf zu vertiefen und anzufachen, die nationale Bewegung weiterzutreiben und zuzuspitzen.
Eben darum kann das klassenbewußte Proletariat nicht unter das „nationale“ Banner der Bourgeoisie treten.
Eben darum kann die von Bauer empfohlene sogenannte „evolutionistisch-nationale“ Politik nicht zur Politik des Proletariats werden. Bauers Versuch, seine „evolutionistisch-nationale“ Politik mit der Politik der „modernen Arbeiterklasse“ zu identifizieren [2*], ist ein Versuch, den Klassenkampf der Arbeiter dem Kampf der Nationen anzupassen.
Die Geschicke der ihrem Wesen nach bürgerlichen nationalen Bewegung sind naturgemäß an das Schicksal der Bourgeoisie gebunden. Ein endgültiges Verebben der nationalen Bewegung ist erst mit dem Sturz der Bourgeoisie möglich. Erst im Reiche des Sozialismus kann völliger Friede hergestellt werden. Aber den nationalen Kampf auf ein Mindestmaß zu reduzieren, ihn an der Wurzel zu untergraben, ihn für das Proletariat in höchstmöglichem Grade unschädlich zu machen, das ist auch im Rahmen des Kapitalismus möglich. Davon zeugen, sagen wir, die Beispiele der Schweiz und Amerikas. Dazu muß das Land demokratisiert, muß den Nationen die Möglichkeit freier Entwicklung gewährt werden.
1*. J, Strasser, Der Arbeiter und die Nation, 1912, S.88
2*. O. Bauer, a.a.O., S.166.
Zuletzt aktualisiert am 16.10.2004