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Aus: Emma Goldman, Minorities versus Majorities, in: Anarchism and Other Essays, New York 1910.
Der Sozialist, Jg.III (1911), Nr.15 (1. August), S.113-4.
Originaltext: http://www.twokmi-kimali.de/texte/emma_goldman_minderheiten_weisen_den_weg.htm
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Wenn ich die Richtung, in der unsere Zeiten sich bewegen, mit einem Wort zusammenfassen müßte, würde ich sagen: Quantität. Die Menge, der Geist der Masse herrscht allenthalben vor und zerstört die Qualität. All unser Leben – Produktion, Politik und Erziehung – beruht auf der Quantität, aufzählen. Der Handwerker, der einst auf die Gediegenheit und Qualität seiner Arbeit stolz war, ist durch gedankenlose und inkompetente Automaten ersetzt worden, die riesige Mengen von Gegenständen herstellen, die für sie selbst keinen Wert haben und der übrigen Menschheit oft genug schaden. So hat die Quantität, anstatt die Behaglichkeit und den Frieden des Lebens zu erhöhen, nur die Lasten des Menschen vermehrt.
In der Politik zählt nichts als die Quantität. Gemessen an deren erhöhtem Einfluß sind Prinzipien, Ideale, Gerechtigkeit und Festigkeit völlig von der Menge hinweggespült worden. Im Kampf um die Herrschaft übertrumpfen die verschiedenen politischen Parteien sich gegenseitig mit ihren Tricks, Betrügereien, Listen und zweifelhaften Machenschaften, da sie darauf vertrauen dürfen, daß die Partei, die Erfolg hat, von der Mehrheit als Sieger bejubelt wird. Das ist der einzige Gott: der Erfolg. Auf welche Kosten, mit welch schrecklicher Schädigung des Charakters, das kommt nicht in Betracht.
Nach Beweisen für diese traurige Tatsache brauchen wir nicht lange zu suchen.
Noch nie zuvor war die Korruption, die ganze Verderbtheit unserer Regierung so vollständig entlarvt; niemals zuvor wurde das amerikanische Volk mit der Judas-Natur jenes politischen Organs konfrontiert, das jahrelang behauptet hat, als Hauptstütze unserer Verfassung und als wahrer Beschützer der Rechte und Freiheiten des Volkes absolut über jeden Vorwurf erhaben zu sein.
Doch als die Verbrechen jener Partei so dreist wurden, daß selbst ein Blinder sie erkennen konnte, da genügte es, ihre Günstlinge zu sammeln, und die Herrschaft war gesichert . So entschieden sich die eigentlichen Opfer, getäuscht, verraten, hundertmal geschändet, nicht gegen, sondern für den Sieger. Bestürzt fragten die wenigen, wie denn die Mehrheit die Traditionen der amerikanischen Freiheit verraten konnte? Wo war ihr Urteilsvermögen, ihr Verstand geblieben ? Aber das ist gerade der Punkt: Die Mehrheit kann nicht vernünftig denken, sie hat kein Urteilsvermögen. Da es ihr gänzlich an Originalität und moralischem Mut fehlt, hat die Mehrheit ihr Schicksal immer in die Hände anderer gelegt. Unfähig, verantwortlich zu handeln, ist sie ihren Führern selbst in den Untergang gefolgt. Dr. Stockmann hatte recht: „Der gefährlichste Feind der Wahrheit und der Freiheit bei uns – das ist die kompakte Majorität. Jawohl, die verfluchte, kompakte, liberale Majorität [...]“.
Selbst ohne Ehrgeiz und Initiative haßt die kompakte Mehrheit nichts so sehr wie Neuerungen. Sie hat dem Neuerer, dem Pionier einer neuen Wahrheit immer Widerstand geleistet, ihn verurteilt und verfolgt.
Oft wird in unserer Zeit von allen Politikern einschließlich der Sozialisten das Sprüchlein wiederholt, wir lebten im Zeitalter des Individualismus, der Minorität. Diese Ansicht können nur solche hegen, die nicht unter die Oberfläche dringen. Haben nicht, sagt man, die wenigen allen Reichtum der Welt in Besitz? Sind sie nicht die Herren, die unbeschränkten Könige der Situation ? Ihr Erfolg ist aber nicht dem Individualismus, sondern der Trägheit, der Erbärmlichkeit, der völligen Unterwerfung der Masse zu danken. Diese begehrt nichts anderes als beherrscht, geführt und gezwungen zu werden. Der Individualismus aber hatte zu keiner Zeit in der Geschichte der Menschheit weniger Aussicht, sich zu verwirklichen, weniger Gelegenheit, sich in normaler, gesunder Weise zu behaupten.
Der individuelle Erzieher, der einem ernsten Ziel nachstrebt, der Künstler oder Schriftsteller mit originellen Ideen, der unabhängige Gelehrte oder Forscher, die unnachgiebigen Pioniere der sozialen Umgestaltung, sie alle werden täglich von Männern an die Seite gedrängt, deren Bildung und Schöpferkraft überlebt sind.
Erzieher vom Schlage eines Ferrer werden nirgends toleriert, während die Nahrungsexperten für vorgekaute Speisen, wie etwa die Professoren Eliot und Butler, ein Jahrhundert der Fiktionen und Automaten erfolgreich zu erhalten suchen. In der Welt der Literatur und des Dramas sind die Humphrey Wards und Clyde Fitches die Idole der Massen, während nur wenige die Schönheit und das Genie eines Emerson, Thoreau, Whitman, eines Hauptmann, eines Butler Yeats oder eines Stephen Phillips kennen oder schätzen. Sie sind wie einsame Sterne, weit hinter dem Horizont der Menge.
Verleger, Theaterdirektoren und Kritiker fragen nicht nach der Qualität, die jeder schöpferischen Kunst innewohnt, sondern ob sie sich gut verkaufen läßt und den Geschmack des Volkes trifft ? Aber o weh, dieser Geschmack ist wie eine Müllkippe: Ihm schmeckt alles, was kein geistiges Kauen verlangt. Die Folge ist, daß mittelmäßige, abgedroschene Dinge das Hauptergebnis der literarischen Produktion sind.
Muß ich noch darauf hinweisen, daß wir uns in der Kunst den gleichen traurigen Tatsachen gegenübersehen ? Man braucht nur unsere Parks und Hauptverkehrsstraßen anzusehen, um sich von der Häßlichkeit und Gewöhnlichkeit der Kunstfabrikate zu überzeugen. In der Tat, nur ein Mehrheitsgeschmack kann eine derartige Verhöhnung der Kunst dulden. Die Denkmäler, die amerikanische Städte verunzieren, falsch in der Konzeption und barbarisch in der Ausführung, haben nicht mehr Ähnlichkeit mit wirklicher Kunst als ein Totem mit einem Michelangelo. Aber das ist die einzige Art Kunst, die jetzt Erfolg hat. Der wahre künstlerische Genius, der sich herkömmlichen Anschauungen nicht beugt, der Originalität bekundet und dem Leben treu sein will, fristet unbekannt und elend sein Dasein. Sein Werk kann eines Tages der bewunderte Götze der Menge werden, aber erst, wenn er sein Herzblut hingegeben hat, erst, wenn der Pfadfinder nicht mehr lebt und ein ideen- und phantasieloser Haufen das Erbe des Meisters zu Tode gehetzt hat. Man sagt, der Künstler von heute könne nicht schöpferisch tätig sein, weil er, wie einst Prometheus, an einen Felsen gekettet sei, und zwar an den des ökonomischen Zwanges. Doch das trifft für die Kunst aller Jahrhunderte zu. Michelangelo hing nicht weniger von seinem Gönner ab als der Bildhauer und Maler von heute, nur waren die Kunstkenner jener Tage weit entfernt von der verrückten Menge. Sie empfanden es als Ehre, wenn sie am Altar des Meisters ihre Andacht verrichten durften. Der Kunstgönner unserer Tage kennt nur mehr ein Kriterium, einen Wertmesser – den Dollar. Ihn interessiert nicht die Qualität eines großen Werkes, sondern die Zahl der Dollars, die es kostet. So zeigt etwa der Finanzmann in Mirbeaus Les affaires sont les affaires irgendein unscharfes Arrangement in Farben und sagt: „ Seht nur, wie wunderbar es ist; es kostet 50.000 francs.“ Genau wie unsere heutigen Parvenüs. Die märchenhaften Summen, die sie für ihre großen Kunstentdeckungen bezahlt haben, müssen ihren Mangel an Geschmack aufwiegen.
Die unverzeihlichste Sünde in der Gesellschaft ist Unabhängigkeit des Denkens. Daß das in einem Lande, dessen Wahrzeichen die Demokratie ist, so schrecklich klar zu Tage tritt, ist für die überwältigende Macht der Mehrheit sehr bezeichnend.
Wendell Phillips sagte vor fünfzig Jahren: „In unserm Lande der völligen demokratischen Gleichheit ist die öffentliche Meinung nicht nur allmächtig, sie ist allgegenwärtig. Vor ihrer Tyrannei gibt es keine Zufluchtsstätte, vor ihrem Zugriff kein Versteck, und das Resultat ist, daß, wenn man die alte Laterne des Diogenes nimmt und in der Menge sucht, man nicht einen einzigen Amerikaner finden wird, der nicht für seinen Ehrgeiz, seine soziale Existenz oder sein Geschäft von der guten Meinung und den Urteilen seiner Umgebung etwas zu gewinnen oder zu verlieren hat oder sich wenigstens einbildet, daß es so sei. Und die Folge ist, daß wir, anstatt eine Masse von Individuen zu sein, von denen jedes furchtlos seiner eigenen Überzeugung folgt, als Nation im Vergleich zu ändern Nationen eine Masse von Feiglingen sind. Mehr als jedes andere Volk haben wir voreinander Angst.“ Es ist klar, daß wir uns von dem Zustand, den Wendell Phillips vor Augen gehabt hat, nicht eben weit entfernt haben.
Heute wie damals ist die öffentliche Meinung der allgegenwärtige Tyrann ; heute wie damals ist die Mehrheit eine Masse von Feiglingen, die bereit ist, den zu akzeptieren, der ihre eigene elende seelische und geistige Verfassung widerspiegelt. Das erklärt den beispiellosen Aufstieg eines Mannes wie Roosevelt. Er verkörpert das schlimmste Element der Psychologie des Pöbels. Als Politiker weiß er, daß die Mehrheit wenig auf Ideale und Integrität gibt. Wonach Sich die Mehrheit sehnt, ist Schau. Dabei ist es gleichgültig, ob es sich um eine Hundeschau, einen Preisboxkampf, das Lynchen eines „ Niggers „, die Jagd nach irgendwelchen unbedeutenden Verbrechern, die Heiratsankündigung einer Erbin oder die akrobatischen Kunststücke eines Expräsidenten handelt. Je gräßlicher die geistigen Verrenkungen, um so größer das Entzücken und die Bravorufe der Masse. So bleibt Roosevelt, arm an Idealen und von vulgärem Wesen, weiterhin der Mann der Stunde.
Andererseits werden Männer, die turmhoch über solchen politischen Pygmäen stehen, Männer von Bildung, Kultur und Fähigkeiten, als Weichlinge verhöhnt bis sie schweigen. Es ist abwegig zu behaupten, wir lebten in der Ära des Individualismus. Wir leben in einer Zeit, in der sich eine Erscheinung der ganzen Geschichte nur auffälliger wiederholt, nämlich daß jedes Streben nach Fortschritt, nach Aufklärung, nach Wissen, nach religiöser, politischer und wirtschaftlicher Freiheit von der Minderheit und nicht von den Massen ausgeht. Und heute wie zu allen Zeiten werden die wenigen mißverstanden, gejagt, eingesperrt, gefoltert und getötet.
Das Prinzip der Brüderlichkeit, das der Agitator von Nazareth gelehrt hat, behielt den Keim des Lebens, der Wahrheit und der Gerechtigkeit so lange als es das Leuchtfeuer der wenigen war. In dem Augenblick, in dem sich die Mehrheit seiner bemächtigte, wurde dieses große Prinzip ein Erkennungszeichen und Vorbote von Blut und Feuer, das Leiden und Verderben verbreitete. Der Angriff auf die Allmacht Roms, den die großartigen Gestalten Hus, Calvin und Luther anführten, war wie ein Sonnenaufgang mitten in der Dunkelheit der Nacht. Aber sobald Luther und Calvin Politiker wurden und den kleinen Potentaten, dem Adel und der Stimmung des Pöbels zu schmeicheln begannen, setzten sie die großen Möglichkeiten der Reformation aufs Spiel. Sie hatten Erfolg und gewannen die Mehrheit, aber diese Mehrheit erwies sich bei der Verfolgung von Denken und Vernunft als nicht weniger grausam und blutrünstig als das katholische Monstrum. Wehe den Häretikern, der Minderheit, die sich ihren Entscheidungen nicht unterordnete. Nach endloser Anstrengung, Geduld und Opferbereitschaft hat sich der menschliche Geist letzten Endes vom religiösen Phantom befreit; die Minderheit ist zu neuen Siegen aufgebrochen, und die Mehrheit bleibt zurück, behindert durch Wahrheit, die sich mit zunehmendem Alter in Unwahrheit verwandelt hat.
Politisch würde sich die Menschheit noch heute in der absolutesten Sklaverei befinden, wenn es nicht Männer wie John Ball, Wat Tyler, Tell, die unzähligen gigantischen Gestalten gegeben hätte, die Schritt für Schritt gegen die Macht der Könige und Tyrannen ankämpften. Ohne einzelne Pioniere wäre die Welt niemals von jener ungeheuren Welle, der Französischen Revolution, bis in ihre Grundfesten erschüttert worden. Große Ereignisse künden sich gewöhnlich in scheinbar kleinen Dingen an. So war etwa die Beredsamkeit und das Feuer des Camille Desmoulins wie die Trompete von Jericho, die die Verkörperung der Folter, der Willkür und des Schreckens, die Bastille, dem Erdboden gleichmachte.
Immer, in jeder Periode, waren die wenigen die Bannerträger einer großen Idee, einer befreienden Tat. Nicht so die Masse, deren Bleigewicht sie nicht zur Bewegung kommen läßt. Diese Wahrheit ist am deutlichsten in Rußland sichtbar zu machen. Tausende von Menschenleben sind von diesem blutigen Regime schon vernichtet worden, aber das Ungeheuer auf dem Thron ist noch nicht satt. Wie ist so etwas möglich, wenn Ideen, Kultur, Literatur, wenn die tiefsten und feinsten Regungen der Seele unter dem eisernen Joch stöhnen ? Die Mehrheit, diese kompakte, unbewegliche, dumpfe Masse, der russische Bauer, glaubt nach einem Jahrhundert des Kampfes, des Opfers, des unsäglichen Elends immer noch, daß der Strick, mit dem „der Mann mit den weißen Händen“ (der Intellektuelle) gehängt worden ist, Glück bringt.
Im amerikanischen Freiheitskampf war die Mehrheit ein ebenso großes Hindernis. Noch bis zum heutigen Tage werden die Ideen von Jefferson, von Patrick Henry und Thomas Paine von ihren Nachkommen verleugnet und verraten. Die Masse will keinen von ihnen. Die Größe und der Mut, die man bei Lincoln verehrt, hat man bei den Männern, die den Hintergrund für das Panorama jener Zeit geschaffen haben, vergessen. Die wahren Beschützer der Schwarzen waren eine Handvoll Kämpfer in Boston, Lloyd Garrison, Wendell Phillips, Thoreau, Margaret Füller und Theodor Parker, deren große Tapferkeit und Hartnäckigkeit in dem düsteren Riesen John Brown gipfelten. Ihr unermüdlicher Eifer, ihre Beredsamkeit und Zähigkeit untergruben die mächtige Stellung der Feudalherren im Süden. Lincoln und seine Getreuen folgten erst, als die Abschaffung der Sklaverei eine praktische Notwendigkeit geworden war, die als solche von allen anerkannt wurde.
Vor etwa fünfzig Jahren erschien gleich einem Meteor am sozialen Horizont der Welt eine Idee, die so weitreichend, so revolutionär, so allumfassend war, daß sie überall die Herzen der Tyrannen mit Entsetzen erfüllen mußte. Auf der anderen Seite war diese Idee ein Vorbote der Freude, des Jubels und der Hoffnung für die Millionen. Die Pioniere kannten die Schwierigkeiten auf ihrem Weg, sie kannten den Widerstand, die Verfolgung, die Hindernisse, die sich ihnen entgegenstellen mußten, aber stolz und furchtlos schritten sie auf ihrem Weg weiter, immer weiter. Jetzt ist diese Idee ein populäres Schlagwort geworden.
Fast jeder ist heute Sozialist: der Reiche ebenso wie der Arme, den er ausbeutet; die Vertreter von Gesetz und Autorität ebenso wie die Unglücklichen, die vor ihre Schranken kommen; der Freidenker ebenso wie der, der religiösen Betrug verewigt; die Modedame ebenso wie die heruntergekommene Dirne. Warum nicht? Jetzt, wo das, was vor fünfzig Jahren Wahrheit war, Lüge geworden ist, jetzt, wo es all seine jugendliche Einbildungskraft eingebüßt hat und seiner Vitalität sowie seines revolutionären Ideals beraubt worden ist – warum nicht ? Jetzt, da er nicht länger eine schöne Vision ist, sondern ein „praktischer, durchführbarer Plan“, der vom Willen der Mehrheit abhängt, warum nicht? Politische Schlauheit singt seit jeher das Lob der Masse: die arme, die beschimpfte, die betrogene, die riesige Mehrheit – wenn sie uns nur folgen wollte!
Wer hat diese Litanei nicht schon gehört?
Wer kennt nicht diesen unveränderlichen Refrain aller Politiker? Daß die Masse blutet, daß sie beraubt und ausgebeutet wird, weiß ich so gut wie unsere Stimmenfänger. Aber ich behaupte, daß nicht die Handvoll Schmarotzer, sondern die Masse selbst für diese schrecklichen Verhältnisse verantwortlich ist. Sie hängt an ihren Herren, liebt die Peitsche und ist die erste, die „kreuzige!“ ruft, sowie sich eine Stimme der Empörung gegen die geheiligte Autorität des Kapitalismus oder einer anderen verfallenen Institution erhebt. Wie lange könnten jedoch Autorität und Privateigentum Bestand haben, wenn nicht die Masse wäre, die sich willig zu Soldaten, Polizisten, Gefängniswärtern und Henkern hergibt? Die Demagogen des Sozialismus wissen das so gut wie ich, aber sie bleiben bei ihren Märchen von den Tugenden der Mehrheit, weil sie nichts anderes im Sinn haben als die Verewigung der Herrschaft. Und wie könnten sie die Herrschaft erringen ohne die Menge ? Jawohl, Autorität, Zwang und Abhängigkeit beruhen auf der Masse, aber nie die Freiheit, nie die freie Entfaltung des Individuums, nie die Geburt einer freien Gesellschaft. Nicht daß ich nicht mit den Unterdrückten, den Enterbten der Erde mitfühlte; nicht weil ich die Schmach, das Entsetzen und die Würdelosigkeit des Lebens, das das Volk führt, nicht kennte, verwerfe ich die Mehrheit als schöpferische Kraft des Guten. Nein, nein! Sondern weil ich so gut weiß, daß das Volk als kompakte Masse niemals für Recht oder Gleichheit eingetreten ist. Es hat die Stimme des Menschen unterdrückt, den Geist des Menschen unterjocht, den Leib des Menschen gefesselt. Als Masse ist sein Ziel immer gewesen, das Leben gleichförmig, grau und eintönig wie die Wüste zu machen. Als Masse wird es immer der Vernichter der Individualität, der freien Initiative, der Originalität sein. Darum glaube ich mit Emerson, daß „die Massen roh, lähmend und verderblich in ihren Forderungen und ihrem Einfluß sind und daß man ihnen nicht schmeicheln, sondern sie bilden soll. Ich möchte ihnen nicht im mindesten nachgeben, sondern sie teilen und zertrümmern, um Individuen aus ihnen zu machen. Massen! Das Unheil sind die Massen. Ich will überhaupt keine Masse haben, sondern nur ehrbare Männer und liebliche, süße, gebildete Frauen.“
Mit andern Worten: Die lebendige Wahrheit der sozialen und wirtschaftlichen Wohlfahrt wird nur durch den Eifer, die Tapferkeit und die unnachgiebige Entschlossenheit intelligenter Minoritäten Wirklichkeit werden, aber nicht durch die Masse.
Zuletzt aktualisiert am 30.12.2004