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Naiver Begriff und wissenschaftliche Theorie des Naturrechts – Naturrecht – Vernunftrecht – Rechtsphilosophie – Naturrechtsspekulation in der Geschichte – Das Naturrecht in den großen Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts – Das Naturrecht und die kommunistische Lehre Babeufs – Das Naturrecht am Grunde aller Utopien – Die Unzulänglichkeiten und das Recht des Naturrechts
Es lag in der Natur der Dinge, daß der Sozialismus in den vergangenen Jahrhunderten bis weit in das neunzehnte Jahrhundert hinein fast ausschließlich naturrechtlich begründet wurde. Die Tatsache des Zusammenhanges der sozialistischen Theorien mit dem Naturrecht ist außerordentlich interessant. Sie ist auch verschiedentlich von Gelehrten oder Schriftstellern, die sich mit der Theorie des Sozialismus befaßt haben, hervorgehoben worden; aber es fehlt meines Wissens doch noch an einer systematischen, ihn geschichtlich wie begrifflich behandelnden Darstellung dieses Zusammenhanges. Es würde das eine außerordentlich fruchtbare Untersuchung sein, durchaus der Vornahme wert, und ich glaube sogar auch ein gutes Thema etwa für eine Dissertation. Dieser Zusammenhang nämlich zieht sich durch die ganze Geschichte des Sozialismus, von den Zeiten an, wo es überhaupt etwas gab, was auf diesen Namen Anspruch hat, bis in die neueste Zeit hinein. Noch im Jahre 1875 hat eine Kommission der damals sich vereinigenden sozialistischen Parteien Deutschlands bei Ausarbeitung eines Entwurfs zum Parteiprogramm dem Sozialismus eine vollkommen naturrechtliche Begründung gegeben und sich dadurch eine außerordentlich scharfe Kritik von Karl Marx zugezogen. Die Begründung lautete nämlich:
„Die Arbeit ist die Quelle alles Reichtums und aller Kultur, und da nutzbringende Arbeit nur in der Gesellschaft und durch die Gesellschaft möglich ist, gehört der Ertrag der Arbeit unverkürzt und nach gleichem Recht allen Gesellschaftsgliedern.“
Das ist, wie jeder leicht sehen kann, naturrechtlich und nicht wissenschaftlich gesprochen.
Was versteht man unter Naturrecht? Nach meiner Ansicht werden da bei den meisten Definitionen zwei ganz verschiedene Dinge durcheinandergeworfen. Zwei Auffassungen streiten darüber in der Geschichte des Gedankens: eine naive, urwüchsige Auffassung, die statt mit dem Wort „Naturrecht“ besser ausgedrückt würde mit „natürliches Recht“. Die Franzosen sagen auch „droit naturel“ und die Engländer „natural law“, also immer natürliches Recht. Der Begriff ist da abgeleitet von einem vermeintlichen Naturzustand oder wird auf die Natur des Menschen bezogen und ist nur in diesem Sinne naturphilosophisch. Dann gibt es aber eine wissenschaftlich rechtstheoretische Auffassung des Begriffs Naturrecht, nach der es verstanden wird als die Zusammenfassung von allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die unabhängig von den Grundsätzen und Bestimmungen der örtlich und zeitlich wechselnden positiven Gesetzgebung gewonnen werden mittels der von äußeren Einwirkungen, von Machtverhältnissen und Interessen unbeeinflußten Erforschung der Natur und Zwecke der Gesetzgebung überhaupt sowie der Grundbedingungen der Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit und des möglichst harmonischen Zusammenlebens der Menschen, – Erkenntnisse, die Anspruch darauf erheben, der positiven Gesetzgebung die Wege zu weisen, und die man wissenschaftlich begründen kann. Das Naturrecht in diesem Sinne will also über dem positiven Recht stehen. Die Forschung kann selbstverständlich die Aufgabe nur lösen mittels der prüfenden Vernunft, und zwar wenn sie ausschließlich und vorbehaltlos den Gesetzen der Vernunft folgt. Daher hat man für das so wissenschaftlich aufgefaßte Naturrecht in neuerer Zeit den Namen „Vernunftrecht“ gewählt. Er zeigt an, was aus den ursprünglichen Naturrechtsideen im Laufe der Entwicklung geworden ist. Er läßt aber die Rolle nicht erkennen, die der Begriff des Naturrechts in der Geschichte gespielt hat. Vernunftrecht kann etwas ganz anderes sein als das, was die Menschen jahrhundertelang unter Naturrecht verstanden haben. Einwandfrei ist dagegen der andere umfassende Begriff „Rechtsphilosophie“, denn das Vernunftrecht will eben das höchste Recht, das Wesen dessen feststellen, was Recht sein soll, das Recht, das aus dem Begriff der Gerechtigkeit sich ergibt.
Die Frage nach einem solchen Recht taucht auf, wo das positive Recht als ungerecht erkannt oder empfunden wird. Dort greifen alsdann die Menschen naturgemäß auf andere Wegweiser zurück für das Recht, das sie haben wollen. Es sind die verschiedensten Faktoren, auf die sie sich dabei berufen, meist zunächst metaphysische, übersinnliche Mächte, die auch in Naturbegriffen aufgefaßt werden; immer aber greifen sie zurück auf eine jenseits der positiven Gesetzgebung stehende höhere Macht, sei es die Vernunft überhaupt, die Gerechtigkeit, die Gottheit oder die Natur. Infolgedessen hat das Naturrecht von jeher eine humanitäre Tendenz, ist es Recht für die Sache der Unterdrückten oder jeweilig Enterbten. Im weiteren Sinne ist es damit zugleich revolutionär und ist demgemäß gewöhnlich offiziell verpönt worden. In der Geschichte ist es häufig von Religionsstiftern verkündet worden.
Wenn wir die orientalischen Völker übergehen und nach dem Volke fragen, das wohl in der alten Welt am meisten geleistet hat in Feststellung natur- oder vernunftrechtlicher Grundsätze, so sind das unzweifelhaft die Griechen gewesen. In der Philosophie der Griechen spielen naturrechtliche Spekulationen eine sehr bedeutende Rolle. Sie sind die Begleiterscheinung der politischen Kämpfe, die sich in den vorgeschritteneren Stadtstaaten Griechenlands abspielen, vor allem in Athen. Auch das ist bemerkenswert, daß, wenn eine bisher anerkannte Philosophie erschüttert, übersehen oder vernachlässigt wird – ein Vorgang, der uns meist nur in lückenhaften Berichten überliefert wird und daher abstrakt erscheint –, dies oft tatsächlich einen ganz realen Hintergrund hat in politischen Kämpfen, die sich etwa gleichzeitig oder kurz vorher abgespielt haben. Wie die religiösen Überlieferungen werden die Staatseinrichtungen schon in der alten Welt vor den Richterstuhl der Vernunft gezogen und darauf geprüft, wie sie den natürlichen Bedürfnissen der Bürger eines vollkommenen Gemeinwesens entsprechen. Wir finden das bei Plato und seinen Vorgängern, bei Aristoteles, vor allem aber in der Geschichte der Stoa, bei Zeno und seinen Schülern. Die Stoa hat darin am meisten geleistet, die naturrechtliche Seite der Gesetzgebung zu betonen und das Ansehen des positiven Rechts zu erschüttern. Das ist auch geschehen seitens der Schüler der Stoa im späteren Rom. Hier brauche ich nur an Seneka zu erinnern. Bei den christlichen Sekten ist es der Begriff der Gotteskindschaft beziehungsweise der Gleichheit vor Gott, der zu naturrechtlichen Folgerungen Anlaß gibt oder für sie ausgedeutet wird. Augustinus, wohl der bedeutendste der Kirchenväter, ergeht sich in naturrechtlichen Betrachtungen, und der große Scholastiker Thomas von Aquino hat ein ganzes System eines Naturrechtes entworfen, das er in Einklang zu bringen sucht mit den Grundsätzen des kanonischen Rechtes. Aber die zur Zeit des Thomas auf der Höhe ihrer weltlichen Macht angelangte römische Kirche witterte in diesen naturrechtlichen Theorien und Ausführungen die umstürzlerische Tendenz und hat sie demgemäß verworfen. Um so stärkere Pflege finden sie aber in der Geschichte bei den ketzerischen Sektierern des Vorreformations- und Reformationszeitalters. Im Begriff des Wortes „Ketzer“, das abgeleitet ist von Katharer, Reiniger, liegt schon die naturrechtliche Tendenz angedeutet, das Zurückgreifen auf die kritisierende Vernunft, allerdings beschränkt auf die Auslegung der Bibel. Diese wichtige Epoche im einzelnen zu beleuchten, muß ich mir versagen, so interessant es wäre, die ganze Entwicklung der christlichen Sekten unter unserem Gesichtspunkt bis zur Reformation zu verfolgen.
Nachdem der Protestantismus in einer Reihe von Staaten gesiegt hatte, ist es in Holland der berühmte Rechtslehrer und Staatsmann Hugo de Groot, nach damaliger Sitte latinisiert in Grotius, der in seinem Werk „De jure belli ac pacis“ die erste erschöpfende systematische Darstellung des Völkerrechts gibt und sie in der Einleitung stützt auf eine naturrechtliche Begründung, die für die Wissenschaft des Naturrechts grundlegende Bedeutung erhalten hat. Heute schätzt man Grotius als den eigentlichen wissenschaftlichen Begründer des Naturrechts. Noch eindringlicher aber berufen sich auf das Naturrecht – und dieses eben als natürliches Recht aufgefaßt – die kommunistischen und halbkommunistischen Sektierer der späteren Reformationszeit und der folgenden Jahrhunderte. Ich brauche nur allgemein auf diese großen Kampfperioden zu verweisen, auf die Bauernkriege, die Kämpfe der Wiedertäufer usw. Da findet man immer wieder die Berufung auf das Naturrechtliche als Begründung von Forderungen.
Hier ist es am Ort, eine Bemerkung einzuflechten. Man kann die ganze Bewegung des Sozialismus zurückführen auf zwei große Stämme oder Wurzeln, aus denen sie ihre Kraft zieht. Die eine Wurzel und der sich daraus entwickelnde Stamm sind die realen Kämpfe jeweilig unterdrückter, zurückgesetzter Klassen oder Schichten der Gesellschaft. Der andere Stamm aber ist die Ideologie, die vorwiegend von Gelehrten, Denkern, Priestern usw. vertreten ist und anscheinend keinen direkten Zusammenhang mit den Kämpfen hat. Es ist sogar Tatsache, daß vielfach solche Ideologen, die weit umfassende kommunistische Theorien ausgearbeitet haben, den praktischen Kämpfen kühl, gleichgültig, beinahe ablehnend gegenüberstanden. Denn die Kämpfe werden meist nicht um große weitumfassende Ziele, sondern um bestimmte begrenzte Forderungen geführt, die nicht immer gut formuliert sind und einer größeren Sache schädlich zu sein scheinen. So kommt es, daß, wenn auch die Ideologen gar manchesmal beeinflußt sind von den Kämpfen, ohne es zu wissen, und wenn umgekehrt die Kämpfer, ohne es zu wissen, von ihnen manches empfangen haben, wenn also auch die Fäden hinüber und herüber laufen, doch die beiden Stämme lange Zeit getrennt ihren Weg gehen. Erst in neueren Jahrhunderten finden sie sich zusammen oder wachsen sie zusammen. Karl Kautsky und meine Wenigkeit haben einmal einen solchen Stammbaum des Sozialismus entworfen – er ist auch reproduziert worden –, wo wir zeigten, wie die beiden Stämme sich verzweigten und schließlich im 19. Jahrhundert zusammenwuchsen und daß, wie wir glauben, das Zusammenwachsen auf seine Höhe gebracht worden ist durch die marxistische Begründung des Sozialismus.
Die Berufung auf das Naturrecht findet auf die verschiedenste Weise statt. Kennzeichnend ist der Spruch, der, wenn nicht schon in den deutschen Bauernkriegen, so jedenfalls in der Englischen Revolution ausgespielt worden ist:
Als Adam grub und Eva spann, |
Das Volk suchte sein Naturrecht aus der Bibel zu beweisen, die ja zuerst keine Klassenunterschiede kennt. Sie spielt eine große Rolle in der Englischen Revolution des 17. Jahrhunderts. England war, nachdem es die „Rosenkriege“ überwunden hatte, als Inselland von den Kriegen verschont, die den Kontinent verheerten. Die politische Entwicklung konnte sich hier ungestörter vollziehen, und so hatte es schon Mitte des 17. Jahrhunderts seine große politische Revolution. Früher nannten die Engländer diese große Revolution die „Rebellion“, und erst die Erhebung, die ein Menschenalter später, 1688, stattfand und den Sturz der Stuart-Dynastie besiegelte, die glorreiche „Revolution“. Heute ist allgemein anerkannt, daß die erste Bewegung den Namen „Revolution“ verdient. Schon die großen Führer der bürgerlich-adligen Klasse nun, die gegen die absolute Monarchie Karls I. kämpften, stützten sich in ihrer Argumentation unter anderem auch auf das Naturrecht. Noch mehr aber nahmen die hinter ihnen stehenden Klassen, die Independenten, es für sich in Anspruch, und am stärksten kommt es zum Ausdruck in der Lehre derjenigen Sekte, die sich die „wahren Leveller“ nannte. Eine Sekte der Independenten wurde von den Gegnern „die Gleichmacher“ – Leveller – genannt und nahm alsdann diesen Namen an. Es waren im wesentlichen politische Radikale. Dann aber kam eine Gruppe, die noch weiter ging, kommunistische Ideen aufstellte und sich „die wahren Leveller“ nannte. Bei ihr findet man die naturrechtlichen Gedanken am klarsten ausgedrückt. Ihr bedeutendster Verfechter war Gerard Winstanley, von dem wir auch eine interessante Utopie, das Idealbild eines kommunistischen Staates, haben, die lange unbeachtet geblieben war, bis sie mir bei meinen Arbeiten in der Bibliothek des Britischen Museums auffiel. Von diesem Winstanley existiert eine Schrift, die den Titel trägt: Die Erhebung der Fahne der wahren Leveller. Sie erschien 1649 und beginnt mit folgendem Satz, der sehr charakteristisch ist:
„Im Anfang der Zeit erschuf der große Schöpfer Vernunft die Erde als Gemeingut aller.“
Man beachte, wie rationalistisch hier nicht „die Gottheit“, sondern „die Vernunft“ als Schöpfer hingestellt wird. Winstanley führt dann weiter aus, erst durch die Gewalt sei die Knechtschaft in die Welt gelangt, und das sei der Adam, der Vater der Erbsünde. Er treibt politische Etymologie und erklärt: „Adam, das ist also ein Damm – a dam – gegen die Freiheit.“ Die Vernunft aber rechtfertige die Forderungen der wahren Leveller.
Überhaupt ist die Englische Revolution außerordentlich reich an politischer Literatur. Man wird eigentümlich berührt durch eine darauf bezügliche Bemerkung der berühmtesten der Flugschriften, die zur Ermordung Cromwells aufforderten. Das fast ergreifend geschriebene Pamphlet stammt von einem früheren Anhänger Cromwells und hat den Titel: Töten heißt nicht morden! Es kam heraus im Jahre 1856, wo man nur erst die kleinen Handpressen hatte, und beginnt mit den Worten:
„Es ist nicht der Wunsch, mich gedruckt zu sehen in einer Zeit, wo so wenige die Presse verschonen.“
Unter den Broschüren der wahren Leveller, deren Kommunismus wesentlich ein Bodenkommunismus war, findet sich auch eine Broschüre mit dem Titel: Das Licht, das in Buckinghamshire scheint, in der sehr energisch jede übersinnliche Religion verworfen wird. Das gleiche geschieht in der Schrift Winstanleys, in der er seine Utopie entwickelt: Die Freiheit als ein Programm dargelegt. Auch dort bekämpft er auf das entschiedenste die übersinnliche Religion. Wie der größte Teil der damaligen radikalen Literatur ist die ganze Schrift rationalistisch gehalten, und der kommunistische Gedanke wird auf das Naturrecht als Vernunftrecht begründet. Diese Bewegung der wahren Leveller ist der Vorläufer der großen Bewegung der Quäker, die 1653 von George Fox eingeleitet wird. Die Quäker sind Rationalisten, wenn auch mit einem Stück Mystik. Das innere Licht, das die Vernunft ist, die aus dem Menschen spricht, soll alles entscheiden.
Bürgerliche Schriftsteller von Bedeutung der damaligen Zeit, die gleichfalls naturrechtlich argumentiert haben, sind vor allem der Dichter Milton und der sehr interessante Staatsmann James Harrington, der Verfasser der Oceana, und ebenso der Theoretiker des Obrigkeitsstaates, Thomas Hobbes. Von England aus, das nun der Vorläufer war für die Revolution auf dem Kontinent, geht diese Auffassung und Denkweise nach Frankreich über. Frankreich hat schon im Anfang des 18. Jahrhunderts seinen radikalen Kommunisten in dem bekannten atheistischen Pfarrer Jean Meslier, der zwar nicht als Pfarrer seine Lehre verkündete, aber sie sehr scharf in der Schrift niederlegte, die nach seinem Tode als sein Testament zuerst auszugsweise von Voltaire veröffentlicht wurde. Die Schrift ist ganz und gar atheistisch und begründet absolut naturrechtlich einen radikalen Kommunismus, das „gleiche Recht aller auf die Benutzung der Erde“.
Als Gesellschaftslehre ist Mesliers Kommunismus noch ziemlich roh. Sehr viel bedeutender ist als Kommunist der Abbé Nicola Morelly, von dem man persönlich wenig weiß. Er hatte um die Mitte des 18. Jahrhunderts ein Heldengedicht, die Basiliade, veröffentlicht und schrieb dann zur Verteidigung der darin ausgesprochenen Gedanken die Schrift mit dem bezeichnenden Titel Code de la nature – Gesetzbuch der Natur. Sie erschien 1750 und wurde lange Zeit dem großen Enzyklopädisten Diderot zugeschrieben. Morelly entwickelt darin eine vollkommene Naturphilosophie: Die Natur hat die Bedürfnisse des Menschen so eingerichtet, daß sie die Grenzen seiner Kräfte immer um ein Geringes übersteigen. Andernfalls würde der Mensch nicht geselliger sein als das Tier. Bei den Menschen sollen, so will es die Natur, Wünsche und Besorgnisse die moralische Anziehung zueinander steigern, und aus der Spannung dieser Triebfedern soll eine wohlwollende Gesinnung für alle hervorgehen. Es ist außerordentlich charakteristisch, wie da der Natur Absichten, Zwecke und Ziele unterstellt werden. Dabei spielt die Naturphilosophie allerdings in die spekulative Phantasie über. Aber diese Art zu argumentieren beherrscht lange die allgemeine Sprach- und Denkweise. Auf die Natur bezieht sich nun alles, alle möglichen Zwecke werden der Natur als gewollt unterstellt. Die Natur hat dies und das so eingerichtet, damit die Menschen jenes machen. Sie hat absichtlich Bedürfnisse und Kräfte der Menschen in ein solches Verhältnis gesetzt, daß der einzelne Mensch seine Bedürfnisse gar nicht erfüllen kann und gezwungen ist, gesellig zu leben. Alles wird, wie bei Winstanley, auf die Natur zurückgeführt. Morelly sagt weiter: „Deshalb hat die Natur unter den Menschen die Kräfte so verteilt. Allen aber hat sie das fruchtbringende Feld, den Boden also, in gleicher Weise als unbestrittenes Eigentum zugeteilt. Die Welt ist ein Tisch für alle, der für alle gedeckt ist“, und Morelly stellt das Problem, eine solche Lage, eine solche Verfassung zu finden, in der der Mensch so glücklich und wohltätig sein wird, wie es überhaupt nur möglich sei. Das ist der leitende Gedanke für die Utopie, die er entwickelt. Nicht etwa nur, daß für ihn das Maßgebende ist, den möglichst vollkommenen Staat zu bilden, sondern vollkommen sei nur ein solcher Staat, wo die Menschen naturgemäß, d. h. durch die Natur der Dinge so glücklich und wohlwollend oder, wie man später sagte, brüderlich seien, wie überhaupt nur möglich. Das ist die Grundlage seines Kommunismus, der lange Zeit einen großen Eindruck machte und, wie gesagt, Diderot zugeschrieben wurde. Von Morelly ist sicher der berühmte Abbé Gabriel de Mably beeinflußt worden, dessen Schriften zum Teil gleichfalls kommunistisch sind, z. B. die Schrift von den Rechten und Pflichten des Bürgers, und die Schrift: Zweifel der Ökonomie gegenüber. In bezug auf die Kritik der Wirtschaft ist Mably sogar viel radikaler noch als Morelly.
Aber auch die rein bürgerliche Schule der Physiokraten weist, wie schon der Name anzeigt, auf die Natur als den berufenen Regulator der menschlichen Gesellschaft hin. Es ist die Zeit, wo die Idee des wirtschaftlichen Liberalismus aufkommt, die in England vertreten wird durch Adam Smith und dessen Anhänger. Es galt der Grundsatz: Laisser faire, laisser passer! Lasset gehen, lasset geschehen, die Welt regelt sich von selber! Macht so wenig wie möglich Vorschriften! Das war die Doktrin der physiokratischen Schule, und eine Mittelstellung zwischen ihr und den Kommunisten nimmt Jean Jacques Rousseau ein, der Verfasser des Contrat social, den als Volksvertrag, d. h. demokratisch aufgefaßten Gesellschaftsvertrag, auch er naturrechtlich begründet.
Man weiß, welche ungeheure radikale Literatur in Frankreich der Revolution vorausging, wie viele Schriftsteller vor ihr an allen Überlieferungen rüttelten, die es gab, nicht nur Kommunisten und Sozialisten, sondern auch Liberale wie Voltaire und die ganze Schule der Enzyklopädisten usw. Dann tritt die Revolution ein, und eine ihrer ersten gesetzgeberischen Handlungen ist die Verkündung der Menschenrechte, eine durchaus naturrechtliche Aufstellung, die Geltung haben soll über alle Gesetzgebung hinaus, das heißt, die der Gesetzgebung, welche die Französische Revolution nun schaffen soll, die Wege weist. Sie hatte ihre Vorgängerin 1774 in Amerika bei der Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika. Die Kolonien, die damals sich gegen die englische Herrschaft auflehnten, stellten eine Formulierung ihrer Rechte auf, die als allgemeine Rechte des Menschen und Bürgers beansprucht wurden. Auch als die Holländer sich von Spanien befreiten, sprachen sie so. Und selbst die „Bill of rights“, die das englische Parlament 1688 aufstellte, enthielt Elemente allgemeiner Rechtsgedanken. Menschenrechte als Naturrechte finden aber den schärfsten Ausdruck in der Verfassung von 1793, die der radikale französische Konvent nach dem Sturz der Girondisten schuf, und der er die Erklärung der Menschenrechte voranstellte. In der Einleitung dieser Erklärung liest man:
„Das französische Volk, in der Überzeugung, daß das Unglück der Welt nur durch das Vergessen und Mißachten der natürlichen Menschenrechte verursacht wird, hat beschlossen, in einer feierlichen Erklärung seine heiligen und unveräußerlichen Rechte zu erläutern.“
Im dritten Artikel heißt es:
„Alle Menschen sind gleich durch die Natur und vor dem Gesetz“,
und im sechsten Artikel:
„Das Recht hat als Grundsatz die Natur und als Regel das Gesetz.“
Dies die beiden wichtigsten Artikel, die die naturrechtliche Auffassung betonen. Daß sie als theoretische Begründung vor der Kritik nicht standhält, braucht nicht mehr nachgewiesen zu werden. Aber von dieser Auffassung werden die demokratischen Rechte abgeleitet und empfängt drei Jahre später, nachdem die Verfassung beschworen, die Verschwörung Babeufs ihre geistige Anregung. Die Verschwörung Babeufs und der Gleichen ist das klassische Beispiel der Ableitung des Sozialismus aus dem Naturrecht.
François Noël Babeuf, der sich nach der damaligen Sitte den Vornamen Gracchus beilegte und auch dem von ihm geschaffenen Organ den Namen Der Volkstribun gab, kann als der konsequenteste Vertreter der Ableitung des Kommunismus aus der Idee eines von der Natur bestimmten Rechts betrachtet werden. Die Verschwörung der Gleichen genauer zu schildern, gehört in eine Abhandlung, die sich mit der Geschichte des Sozialismus im einzelnen befaßt, ist daher hier nicht am Platze. Die Gleichen waren die äußersten Ausläufer der Revolution, und es ist bezeichnend, daß ihre führenden Mitglieder sämtlich der Schicht der Intellektuellen angehörten. Es ist vollkommen irrig, ihre Bewegung als eine Klassenbewegung des Proletariats aufzufassen. Die Gleichen agitierten zwar im Volke, sie schickten ihre Sendboten in die damals existierenden Fabriken, die größeren Werkplätze und Werkstätten von Paris, suchten dadurch auf die Arbeiter Einfluß zu gewinnen und fanden ihn auch anscheinend. Es ward sogar erzählt, daß die Verschwörung der Gleichen, die schließlich einige tausend Mitglieder angeworben hatte, alle Aussichten des Erfolges für sich hatte. So hat sich der französische radikale Schriftsteller Georges Avenel im Pariser Siècle ausgedrückt, und von da ist dieser Satz durch eine ganze Reihe sozialistischer Abhandlungen über sie übergegangen. Auch findet man eine solche Äußerung schon bei Philipp Buonarotti, dem Mitglied und klassischen Geschichtschreiber der Verschwörung. Es ist das aber der Ausfluß einer ganz naiven Auffassung. Sie hatte gar keine Aussichten des Erfolges für sich. Die Form der Organisation war eine solche, daß sie über die Möglichkeiten täuschen konnte; aber beim ersten Versuch, den ausgeklügelten Plan in die Praxis umzusetzen, schlug er ganz jämmerlich fehl. Das hat indes natürlich noch nichts zu tun mit der Würdigung der dem Kommunismus Babeufs zugrunde liegenden Idee. Babeuf hat sie in verschiedenen Artikeln seiner Zeitschrift entwickelt, und in einem seiner berühmten Artikel, der im Volkstribun vom 30. November 1795 erschien, wird die absolute Gleichheit kategorisch als Naturrecht aufgestellt. Es heißt da:
„Wir haben den Satz aufgestellt, daß die volle Gleichheit ein natürliches Recht ist, und daß der gesellschaftliche Vertrag (die Idee des „Contrat social“, die von Rousseau aufgestellt war und eine so große Rolle in der Französischen Revolution gespielt hat), weit entfernt, dieses Naturrecht zu beeinträchtigen, lediglich jedem einzelnen die Garantie gewähren wird,“ usw. usw.
Später finden wir im April 1796 im Manifest der Gleichen, das von Sylvain Maréchal verfaßt war und den wunderlichen Satz enthält: „Möge alle Kultur zugrunde gehen, wenn nur die Gleichheit hergestellt ist“, als Einleitung den Satz:
„Die Gleichheit, der erste Wunsch der Natur ...“
Die Natur hat also nicht nur einen Willen, sondern auch Wünsche. In einem andern Manifest, das die Erklärung der Lehren Gracchus Babeufs gibt, lautet der erste Satz:
„Die Natur hat allen Menschen ein gleiches Recht auf den Genuß aller Güter gegeben.“
Aber die Natur ist nicht imstande, dieses Recht selbst zu verwirklichen. Daher lautet der zweite Satz:
„Der Zweck der Gesellschaft ist es, diese Gleichheit, die im rohen Naturzustande oft durch die Starken und Schwachen gefährdet wird, zu verteidigen und durch tätige Mitwirkung aller die gemeinsamen Lebensgenüsse zu vermehren.“
Und der dritte Satz sagt:
„Die Natur hat jedem die Pflicht zur Arbeit auferlegt. Keiner hat sich ohne Verbrechen je dieser Pflicht entziehen können.“
Von neuem wird die Natur angerufen, die Natur mit ihrem Willen. Zu erwähnen ist noch der Satz Nr. 10:
„Zweck der Revolution ist die Beseitigung der Ungleichheit und die Wiederherstellung des allgemeinen Wohlstandes.“
Alles wird zurückgeführt auf den Willen und die Absichten der Natur und einen vorgestellten Naturzustand, auf dem allgemeiner Wohlstand geherrscht habe. In bezug auf letzteren verrät aber Babeuf doch schon Zweifel, wenn er sagt, im rohen Naturzustande haben Schwache und Starke die natürliche Gleichheit gefährdet.
Die Verschwörung der Gleichen war die letzte große Regung in der Französischen Revolution, die ausging vom Naturrecht. Es finden nach ihr noch kleinere Aufstände und Attentate demokratisch gesinnter Elemente statt, aber die Bewegung selbst geht rückläufig. Auf die Epoche des Direktoriums folgt die des Konsulats, und dann führen die imperialistischen Kriege Bonapartes – die ersten Jakobinerkriege waren ja Verteidigungskriege – dazu, daß Verteidigungskrieg und Eroberungskrieg sich vermischten, daß Kriege, die in der Vorstellung der Nation der Befreiung galten, zu neuer Beherrschung führten. Erst gegen Ende der Restauration, zwei Jahre bevor im Juli 1830 auch die Legitimisten gestürzt waren, veröffentlichte Buonarotti in Brüssel die Geschichte der Verschwörung der Gleichen, die einen sehr tiefen Eindruck machte und bald neue Verschwörungen von Sozialisten zur Folge hatte. Buonarotti war ohnehin Carbonari, und unter seinem Einfluß entstand eine Verschwörersekte, die den Namen „die Babouvisten“ bekam und deren Anhänger sich später „Partei der Blanquisten“ nannten, nach ihrem hervorragenden Führer Auguste Blanqui. Neben dieser Bewegung zeitigte der sozialistische Gedanke eine Reihe Abarten in Frankreich, und man kann sagen, daß der ganze französische Sozialismus in der Mitte des 19. Jahrhunderts, wenn man ihn schärfer untersucht, zuletzt naturrechtlich begründet ist. Das ist z. B. auch der Fall bei Charles Fourier, dessen Lehre im Grundgedanken zurückgeht auf Morelly, der, wie wir gesehen haben, Naturanlagen maßgebend sein läßt für die Struktur des sozialistischen Systems. Bei Morelly schon findet man den Gedanken, daß die natürlichen Anlagen und Neigungen die Möglichkeit geben, einen Gesellschaftszustand zu errichten, der auf voller Freiheit und Gleichheit beruht. Alle natürlichen Neigungen und Leidenschaften seien von Hause aus berechtigt und keine Laster, sofern man ihnen nur die Möglichkeit gebe, sich richtig zu betätigen. Fourier läßt auch Neigungen als gleichberechtigt gelten, die gemeinhin für unschön erachtet werden, so die Abwechslungssucht, den Ehrgeiz, die Streitsucht usw., und hat ein ganzes System aufgestellt, wie diese Neigungen zum Besten der Gesellschaft geleitet werden können. Er hat nach Newton ein zweites Gesetz der Attraktion zu formulieren geglaubt.
Auch in anderen Ländern, auch in Deutschland, finden wir die Gleichheitsidee in den verschiedensten Formen von Sozialisten verfochten und naturrechtlich begründet, in England bei Robert Owen und seiner Schule, in Deutschland beim „Bund der Gerechten“ und dessen zeitweise hauptsächlichsten Vertreter Wilhelm Weitling, dessen Buch Garantien der Harmonie und Freiheit in hohem Grade beruht auf babouvistischen Ideen, die er in Paris kennengelernt hatte. Dadurch aber, daß diese Systeme, soviel richtige Gedanken sie sonst enthalten, sich bewußt oder unbewußt auf die naturrechtliche Betrachtungsweise stützen, sind sie doch ihrem Wesen nach utopistisch. Denn es wird bei ihnen vergessen, daß der Mensch nicht nur ein Produkt der Natur, sondern im Laufe der Zeit auch ein Produkt der Geschichte und der gesellschaftlichen Zustände geworden ist, die in ihm vielfach erst Neigungen und Bedürfnisse entwickelt haben, die er von Natur aus nicht hat. Als Produkte der Natur haben alle Menschen allerdings gewisse gleiche Bedürfnisse mit auf den Weg bekommen. Alle Menschen haben von Natur aus gleichermaßen, wenn auch nicht in gleicher Beschaffenheit Nahrungsbedürfnisse, das Bedürfnis nach Obdach usw.; eine Reihe grober Bedürfnisse sind allen gemeinsam. Aber wenn man eine Gesellschaft konstruieren will von Menschen, die man vorfindet, dann muß man auch prüfen: was sind ihre sozialen, ihre geschichtlich gewordenen Bedürfnisse, welche Zustände hat die geschichtliche Entwicklung geschaffen, und was ist unter diesen Verhältnissen zu ändern notwendig und möglich?
Mit diesem Einwand soll nun durchaus nicht etwa die Bedeutung naturrechtlicher oder vernunftrechtlicher Erwägungen irgendwie unterschätzt und herabgesetzt werden. Wollte man das tun, so liefe es darauf hinaus, das sogenannte positive Recht, die geschichtlichen Zustände, die in einer Epoche eingetreten sind und sich fortgepflanzt haben, schon bloß weil sie geschichtlich sind, für gut erklären und ihnen eine Ewigkeitsdauer, eine Art Heiligkeit zusprechen. Das würde natürlich vollständig falsch sein. Die Idee eines Naturrechts hat in der Geschichte und Wissenschaft zu den verschiedenen Zeiten eine ungeheuer große Bedeutung gehabt.
Die Idee eines Rechtes, das über dem geschriebenen Recht steht, das unabhängig ist von gegebener geschichtlicher Entwicklung und positiven Machtverhältnissen, war unter Umständen der Protest des vorwärtsstrebenden Geistes gegen die Fortdauer überlebter, Unrecht gewordener Einrichtungen, Zustände und Anschauungen, sie war die Auflehnung sozusagen des jeweiligen Zeitgeistes gegen die Herrschaft der Tradition, gegen die Herrschaft des Unrecht gewordenen Rechtes, der Gedanke an sie die Zuflucht der jeweilig Unterdrückten und in der Gesellschaft Zurückgesetzten. Es fällt mir also gar nicht ein, etwa zu bestreiten, daß das Nachdenken über eine Rechtstheorie, die höher steht als das geschichtlich gewordene positive Recht, seine Berechtigung habe. Die rechtstheoretische Betrachtung, die Forschung nach einem richtigen Recht, wie man es nun nennt, ist ein sehr bedeutsames Streben, das durch die ganze Geschichte namentlich der liberalen Rechtsschule geht, wobei ich das Wort „liberal“ hier nicht im Parteisinne, sondern im weiten geschichtlichen Sinne anwende, als den großen Freiheitsgedanken, der in der Französischen Revolution seine rechtliche Formulierung gefunden hat und in sich die Grundidee aller Fortschrittsbewegungen einschließt, die sich weiterhin im Laufe der Geschichte vollziehen, nämlich das Recht des werdenden Neuen gegen das überlebte Alte. Der Gedanke dieses Rechts ist der liberale Rechtsgedanke – nicht im Parteisinne, sondern im großen geschichtlichen Sinne. Man kann ihn auch den revolutionären Rechtsgedanken nennen.
Es gibt eine ganze Literatur des Vernunftrechts. Fast alle Rechtstheoretiker haben sich mit ihm auseinanderzusetzen versucht, fast alle Dichter und Denker sich mit ihm beschäftigt. Die Worte, die Goethe im Faust in der Schülerszene dem Mephisto in den Mund legt, diese oft zitierten Verse:
„Es erben sich Gesetz und Rechte |
sie sind der Aufschrei der naturrechtlichen Betrachtung, der Protest des unter der Überlieferung Leidenden gegenüber dem positiven Recht, das Zurückgreifen auf ein Recht, das höher steht als das jeweilig anerkannte. Das hat ja auch Schiller im Tell in der berühmten, nach meiner Ansicht schönsten Szene dieser Dichtung, der Verschwörungsszene auf dem Rütli, dem Stauffacher in den Mund gelegt. Nachdem er alle die Unbill aufgezählt hat, die die Schweizer erlitten haben, ruft Stauffacher aus:
„Ist keine Hilfe gegen solchen Drang? |
Die unveräußerlichen Menschenrechte werden angerufen, und Stauffacher sagt weiter: „Der alte Urstand der Natur kehrt wieder.“ Ebenfalls um die Anrufung des Naturrechts gegenüber dem geschichtlichen oder dem alten Unrecht. Indes handelt es sich, wie gesagt, wenn wir das Naturrecht kritisieren, nicht darum, daß jedes Rückgreifen auf ein über dem positiven Recht stehendes Recht verworfen werden soll, sondern nur darum, daß man sich klar darüber werden soll, wo die Grenzen solchen Rechts liegen. Was kann das Naturrecht schaffen, was kann es beweisen? Beweisen kann es wohl die Richtigkeit bestimmter Rechtsbegriffe, je nachdem diese zeitgemäß geworden sind, aber was das Naturrecht nicht allein beweisen kann, ist, daß eine ganze Gesellschaftsorganisation hinfällig geworden ist, reif geworden ist, durch eine andere ersetzt zu werden, während den Sozialisten jener Epoche die Vorstellung vorschwebte, sie könnten durch das Naturrecht allein die Notwendigkeit der Beseitigung der gegebenen Gesellschaftsordnung nachweisen.
Die naturrechtliche Ableitung des Sozialismus wurde aber mit Notwendigkeit Ursache von allerhand Streit unter Sozialisten und dann selbst zu einer Streitfrage des Sozialismus. Polemik über ihre Anwendung zieht sich in verschiedenen Formen durch die ganze sozialistische Literatur. Die naturrechtliche Auffassung selbst aber ist mit der größten Schärfe kritisiert worden von den beiden großen Denkern Marx und Engels in ihrer Auseinandersetzung mit der nachhegelschen Philosophie und den von ihr wie von den französischen Utopisten beeinflußten deutschen Sozialisten. Ganz besonders gilt dies von einem Manuskript, das leider nur erst zur Hälfte veröffentlicht ist, nämlich die Kritik von Marx und Engels an der Schrift Max Stirners: Der Einzige und sein Eigentum. Stirner galt als der radikalste Sozialphilosoph seiner Tage. Die ersten Abschnitte der Auseinandersetzung von Marx und Engels mit ihm sind in den Dokumenten des Sozialismus veröffentlicht worden, die von mir herausgegeben wurden und 1905 ihr Erscheinen einstellten. Das Manuskript mit dem unveröffentlichten Teil ist noch in meinen Händen. Stirner nun, der alles Heilige geleugnet hatte, wird, weil er doch wieder auf Naturrechtsideen in seinen Beweisführungen zurückgreift, überführt, daß er mit seiner Übertreibung des Ich selbst Ideologe ist und von Marx und Engels ironisch „der heilige Max“ genannt, das Schlimmste, was ihm passieren konnte.
Aber auch von den Sozialisten, die wissenschaftlich vorzugehen glaubten, indem sie sich auf die Ökonomie beriefen, sind ein großer Teil im naturrechtlichen Denken hängen geblieben.
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Zuletzt aktualisiert am 6.11.2008