Eduard Bernstein

Die deutsche Revolution




I. Einleitung


Das deutsche Kaiserreich der Hohenzollern brach zusammen. Die Macht, die bei seiner Erstehung Geburtshilfe hatte leisten müssen, die Politik von Blut und Eisen, ward sein Totengräber. Zu einer gewaltigen Machtstellung hatte es sich entwickelt. Die politische Einheit, die Niederreißung aller wirtschaftspolitischen Grenzpfähle im Innern und eine nur zeitweilig unterbrochene Politik der Handelsverträge mit der Klausel der Meistbegünstigung hatten sich der Entwicklung seiner Industrie und seines Handels äußerst förderlich erwiesen. Aus dem einst armen Deutschland war es, wie seine Nationalökonomen gerade in den Jahren 1912, 1913, 1914 mit Stolz ausrechneten, das „reiche Deutschland“ geworden. Die Helfferich, die Steinmann-Bucher und Kollegen wiesen nach, daß Deutschlands Nationalreichtum der Summe nach den der Deutschland einst darin so überlegenen Westmächte England und Frankreich teils erreicht und teils sogar schon übertroffen hatte. Nicht minder machtgebietend stand es auf militärischem Gebiet da. Es hatte seine Kriegsflotte treibhausmäßig auf eine Höhe gebracht, die nur noch von der des Inselreichs Großbritannien übertroffen wurde, und seine Landmacht war zwar der Ziffer nach von der Rußlands, der wirklichen Leistungsfähigkeit nach aber von der keines Landes übertroffen. Mit einem gewissen Recht hatte daher, soweit wenigstens Mittelund Westeuropa in Betracht kamen, der dritte der Hohenzollernkaiser eines Tages das stolze Wort aussprechen können, daß ohne den Willen Deutschlands „kein Schuß in Europa fallen“ werde. Dies Machtbewußtsein ward ihm jedoch zum Verhängnis.

Es liegt außerhalb des Rahmens dieser Arbeit, die Triebkräfte zu analysieren, die im Juli 1914 den Ausbruch des Krieges herbeigeführt haben, der sich dann zum Weltkrieg ausgewachsen hat. Das Eine darf aber als unbestreitbar festgestellt werden: wenn auf Seiten der Regierenden Deutschlands der entschiedene Wille vorhanden gewesen wäre, es nicht zum Krieg kommen zu lassen, dann wäre dieser auch tatsächlich vermieden worden. Aber dieser Wille fehlte eben. Das Machtbewußtsein war zum Machtdünkel geworden. Wilhelm II. von Hohenzollern bildete sich ein, in solchem Maße Herr über Krieg und Frieden zu sein, daß er ungestraft gewissermaßen Kriegslizenzen ausstellen dürfe, wie man Jagdüzenzen ausstellt: dieser Krieg – der Krieg Österreich-Ungarns wider Serbien – darf sein, und wehe dem, der sich in ihn einmischt! Das war das Motto für das Verhalten des kaiserlichen Deutschland in den schicksalsschweren Julitagen 1914, und weil das übrige Europa sich nicht bis soweit ihm fügen wollte, nahm es einen gemeldeten Grenzzwischenfall zum Anlaß, den Krieg zu erklären, der den größten Teil Europas in Brand gesetzt und den Zusammenbruch der drei Kaiserreiche des europäischen Festlands herbeigeführt hat.

Selbst wenn man auf Grund seiner Beteuerungen Wilhelm II. von der Schuld freisprechen will, den Krieg gewollt zu haben, und den Mangel eines mit voller Bestimmtheit handelnden Willens wird man ihm vielleicht zuzubilligen haben, wird damit seine Verantwortung für den Krieg noch lange nicht aufgehoben. Sogar die noch gar nicht übermäßig anspruchvolle Ethik der Religionsgemeinschaften erklärt denjenigen, der einen Mord verhindern konnte und nicht verhindert hat, für mitschuldig an ihm. Mit der Größe der Macht aber wächst die Größe der Verantwortung. Es ist Wilhelm II. weder subjektiv noch objektiv mit der Erzwingung seines Rücktritts Unverdientes geschehen.

Seine Verantwortung wird auch dadurch nicht gemindert, daß sich seine Regierung im Laufe des Krieges wiederholt zu Friedensverhandlungen bereit erklärt hat. Denn allen diesen Erklärungen fehlte dasjenige Element, das sie im Angesicht des zu Anfang Geschehenen wirkungsvoll hätte machen können: das Bekenntnis zur Pflicht des Gutmachens. Wilhelm II. wollte immer nur einen solchen Frieden, der ihm erlaubt hätte, als Sieger heimzukehren. Man erinnere sich seines Erlasses an die deutsche Armee bei Gelegenheit des Friedensangebots vom Dezember 1916: „Als Sieger habe ich den Gegnern den Frieden angeboten.“ Selbst wenn man auf der Gegenseite damals zu Friedensverhandlungen bereit war, hätte, wie die Regierenden Englands, Frankreichs usw. nun einmal beschaffen waren, diese Sprache genügt, die Bereitschaft zu ertöten.

Mit dieser Feststellung soll natürlich das Verhalten der Staatsmänner der Gegenseite noch nicht für gerechtfertigt erklärt werden. Es handelt sich indes hier nicht um das Abwägen des Schuldkontos der europäischen Mächte gegeneinander. Es handelt sich um die Verantwortung Wilhelm II. und seiner Regierung dem eigenen Vohk gegenüber. Sie wußten, mit wem sie es zu tun hatten, welche Auffassungen in den maßgebenden Kreisen der Gegner obwalteten, und mußten daher, wenn sie aufrichtig ihrem Volk die Fortsetzung des verheerenden Krieges ersparen wollten, ihre Sprache und ihre Vorschläge diesem Zweck unterordnen. Das ist aber bis zum Schluß n i c ht geschehen. Und zwar nicht nur deshalb nicht geschehen, weil persönliche Eitelkeit sich dagegen sträubte, sondern auch deshalb nicht, weil das System es nicht erlaubte. Aus den Ludendorff und Genossen, die den Krieg noch in die Länge zogen, nachdem sich schon unzweideutig gezeigt hatte, daß er nicht zu gewinnen war, sprach das System, dessen Träger sie waren. Um dieses Systems willen, von dem sie wußten, daß seine Existenz an das Herausgehen als Sieger aus dem Krieg gebunden war, setzten sie zuletzt das Schicksal der. ganzen Nation aufs Spiel. Nur ein radikaler Bruch mit ihm hätte dieser das bittere Ende ersparen können. Dazu hat sich aber keiner der Staatsmänner aufschwingen können, die nacheinander das Ruder des Reiches in die Hand nahmen. Die BethmannHollweg, die Michaelis, die Max von Baden wollten das System ohne seine Logik und sind an diesem Widerspruch gescheitert. Die Ludendorff, Tirpitz usw. waren die stärkeren Logiker und brachten das Kaiserreich zum Schiffbruch. Aus Siegen hervorgegangen, mußte es untergehen, als diese ausblieben. Deutschland als Einheit konnte aber nur erhalten bleiben, wenn diejenige soziale Macht die Liquidation in die Hand nahm, die ihrer ganzen Natur und Ãœberlieferung nach jenen radikalen Bruch bedeutete – die Sozialdemokratie.


Zuletzt aktualisiert am 5.11.2008