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„Unter Kaiser Wilhelm war es doch besser“, lautet eine der von den Reaktionsparteien ausgegebenen Parolen, und mit einer Gedankenlosigkeit, wie man sie am letzten in einem Volke suchen sollte, das sich mit Recht zu den gebildetsten Nationen der Kulturwelt rechnet, schwatzen unzählige Deutsche sie nach. Ein Kind, das noch keine entfernte Ahnung von Ursache und Wirkung hat und sich von der Mutter oder Wärterin aufschwatzen läßt, der Tisch, gegen den es gelaufen ist, sei die Ursache seiner Schmerzempfindung, kann nicht sinnloser reden. Gewiß war es in Deutschland besser, ehe noch das ganze Gewicht der Lasten auf es gefallen war, die der verlorene Krieg ihm zugezogen hat. In allen Ländern war es vor dem Krieg besser, im absolutistischen Rußland wie in der parlamentarischen Monarchie England, im Nationalitätenstaat Österreich wie in der Einheitsrepublik Frankreich. In der ganzen Welt sah es besser aus, und darum war der Krieg nicht nur ein Verbrechen an einem einzelnen Volk, sondern an der Menschheit, an der ganzen Kultur.
Wen aber trifft in erster Reihe die Verantwortung für diesen Krieg? Der monarchisch gesinnte Deutsche macht es in dieser Frage ähnlich, wie in einer der schönsten deutschen Volkserzählungen der Schwabe, der das Leberlein gefressen hatte. Er bildet sich ein, die Welt von der Unschuld Wilhelms II. zu überzeugen, indem er dessen Schuld einfach hartnäckig ableugnet. „Das Lamm hat keine Leber gehabt!“, so behauptet der Schwabe der Volkserzählung in allen Prüfungen dem auf Erden wandelnden Herrgott gegenüber, bis er am Galgen steht und den Strick schon um den Hals hat, an dem er emporgezogen werden soll. Soll Deutschland es ebenso machen? Ehe es nicht in sich geht und die Frage der Verantwortung so beantwortet, wie sie beantwortet werden muß. wird es keinen besseren Frieden erhalten als den, der ihm zuteil geworden ist. Bloß formale Änderungen seiner Verfassung würden ihm nichts helfen. Nach dem Völkerrecht, so lehren alle seine Interpreten, bleibt ein Land für die Handlungen seiner Regierung haftbar, auch wenn es sie ab- und eine andere einsetzt. Begreiflich genug, denn wenn es anders wäre, würden die Völker niemals ein richtiges Verantwortlichkeitsgefühl entwickeln. Da es aber so ist, darf kein Volk seiner Regierung ein Recht über Krieg und Frieden anvertrauen, wie es nach der Verfassung des Deutschen Kaiserreichs Wilhelm II. in den verhängnisvollen Juli-August-Tagen 1914 genoß. Wäre er, wie es jetzt die Verfassung der Republik vorschreibt, genötigt gewesen, die Volksvertretung zu befragen, ehe er mit der Kriegserklärung an Rußland den Weltkrieg entfesselte, es wäre nie zu ihm gekommen. Das darf man mit gutem Gewissen sagen, ohne sich über den Reichstag von 1914 irgendwelchen Selbsttäuschungen hinzugeben. Vor allen anderen hätte die Sozialdemokratische Fraktion, wenn man, statt sie vor die schon vollendete Tatsache des Krieges zu stellen, ihr vor der Kriegserklärung die Frage vorgelegt hätte, niemals ihre Zustimmung dazu gegeben, daß auf so fadenscheinige Gründe hin, wie es tatsächlich geschah, Deutschland einen Krieg erklärte. Und gegen das ausdrückliche Votum der 110 Sozialdemokraten hätte die kaiserliche Regierung den Krieg nicht wagen dürfen, selbst wenn diese mit ihrem Nein allein geblieben wären.
Aber gerade weil man das wußte, ward 1914 der Reichstag erst auf den 4. August statt auf den 31. Juli einberufen. Genau so hatte man, wie Kurt Eisner in seiner Schrift über den Sultan des Weltkrieges auf Seite 52/53 nachweist, im Jahre 1905 plötzlich am 30. Mai die Schließung des Reichstags verfügt, als der Sultan von Marokko im Bewußtsein, Deutschland hinter sich zu haben, Frankreich die ihm im Prinzip schon zugestandenen Reformen kühl abschlug und damit einen Krieg heraufbeschwor, der gegebenenfalls nach Europa herüberschlagen mußte. Eisner schreibt, der „völlig verdutzte Reichstag“ sei plötzlich nach Hause geschickt worden. Verdutzt ist aber noch zu wenig gesagt. Ausgenommen vielleicht einige wenige eingeweihte Abgeordnete, war der Reichstag, dem der Schreiber dieses damals angehörte, zugleich empört, als ihm ohne jede vorherige Verständigung mit den Fraktionsvorständen die Schließung verkündet wurde. Selbst ein so zahmer Nationalliberaler wie der Abgeordnete Paasche lief in höchster Entrüstung im Vorsaal der Linken herum und fragte ein über das andere Mal, ob man sich das gefallen lassen dürfe. Aber der Zorn dieser Leute hält nicht lange vor. Und so ist es leider mit der breiten Masse des Bürgertums. Als sich in den Oktober-November-Tagen 1918 in nicht mehr zu verhüllender Deutlichkeit zeigte, in welche furchtbare Lage das militaristische Kaisertum Deutschland gebracht hatte, da war auch es entrüstet, und die Revolution des 9. November begegnete aus seinen Reihen kaum einem Widerspruch. Hinterher aber schimpft man über die Republik, weil sie das Wunder nicht fertig bringt, die durch die Schuld des Kaiserreichs über Deutschland heraufbeschworene finanzielle und allgemeine wirtschaftliche Zerrüttung, die einer Verminderung des deutschen Nationalreichtums um mindestens das Dreißigfache des jährlichen Reinertrags der deutschen Volkswirtschaft vor dem Kriege gleichkommt, in ein bis zwei Jahren ungeschehen zu machen. Man sucht überall nach Sündenböcken, um diejenigen weißwaschen zu können, die, selbst wenn sie nicht die allein Schuldigen sind, jedenfalls die Hauptschuld an dem Unheil tragen, unter dessen Folgen heute Millionen und aber Millionen verelenden. Ein Verhalten, das der Grundforderung aller Ethik „Wahrheit gegen dich selbst“ ins Gesicht schlägt, und bei dem man daher versucht ist, denjenigen, welchen die Not des deutschen Volkes wirklich zu Herzen geht, die Worte des Dichters ins Gedächtnis zu rufen: „Unglücklich bist du schon; willst du es auch noch verdienen?“
Im Frühsommer 1915 wurde ich vom Vertreter eines deutschamerikanischen Blattes, das die deutsche Sache mit Leidenschaft verfocht, um eine Unterhaltung gebeten. Sie gestaltete sich anfangs sehr formell, nachdem aber die für die Zeitung bestimmte Antwort erledigt war und im weiteren Gespräch über Kunstfragen und dergleichen der Herr sich als sehr gebildet und wahrhaft feindenkend herausstellte, konnte ich mich nicht enthalten zu bemerken:
„Ich will es Ihnen nur offen sagen: ich bin aus tiefster Seele ganz entschiedener Gegner dieses Krieges. Er ist Deutschland nicht aufgezwungen worden, und es bestand für Deutschland keinerlei Veranlassung, ihn zu erklären. Es war uns ganz gut gegangen.“
Ich hatte den letzten Satz kaum ausgesprochen, da schlug mein Unterredner mit der Faust auf den Tisch und rief mit ganz veränderter, zorniger Stimme: „Zu gut ist es uns gegangen! Wir waren zu üppig geworden!“
Das war das Urteil eines aufrichtigsten Patrioten hinsichtlich der Wahrheit über die Einkreisung.
Zuletzt aktualisiert am 31.07.2010