Eduard Bernstein

Die Voraussetzungen des Sozialismus


Vorwort


Die vorliegende Arbeit ist im Wesentlichen der Begründung der Anschauungen gewidmet, die der Unterzeichnete in einer Zuschrift an den vom 3. bis 8. Oktober 1898 in Stuttgart versammelten Parteitag der deutschen Sozialdemokratie entwickelt hat.

Diese Zuschrift lautete:

„Die in der Serie Probleme des Sozialismus von mir niedergelegten Ansichten sind neuerdings in sozialistischen Blättern und Versammlungen zur Erörterung gelangt und es ist die Forderung ausgesprochen worden, daß der Parteitag der deutschen Sozialdemokratie zu ihnen Stellung nehmen solle. Für den Fall, daß dies geschieht und der Parteitag auf die Forderung eingeht, sehe ich mich zu folgender Erklärung veranlaßt.

Das Votum einer Versammlung, und steht sie noch so hoch ‚ kann mich selbstverständlich in meinen, aus der Prüfung der sozialen Erscheinungen gewonnenen Anschauungen nicht irre machen. Was ich in der Neuen Zeit geschrieben habe, ist der Ausdruck meiner Ueberzeugung, von der ich in keinem wesentlichen Punkte abzugehen mich veranlagt sehe.

Aber es ist ebenso selbstverständlich, daß ein Votum des Parteitags nichts weniger als gleichgiltig sein kann. Und darum wird man es begreifen, wenn ich vor allen Dingen das Bedürfniß fühle, mich gegen fälschliche Auslegung meiner Ausführungen und falsche Schlußfolgerungen aus ihnen zu verwahren. Verhindert, selbst auf dem Kongreß zu erscheinen, thue ich dies hiermit auf dem Wege schriftlicher Mittheilung.

Es ist von gewisser Seite behauptet worden, die praktische Folgerung aus meinen Aufsätzen sei der Verzicht auf die Eroberung der politischen Macht durch das politisch und wirthschaftlich organisirte Proletariat.

Das ist eine ganz willkürliche Folgeruug, deren Richtigkeit ich entschieden bestreite.

Ich bin der Anschauung entgegengetreten, daß wir vor einem in Bälde zu erwartenden Zusammenbruch der bürgerlichen Gesellschaft stehen und daß die Sozialdemokratie ihre Taktik durch die Aussicht auf eine solche bevorstehende große soziale Katastrophe bestimmen, beziehungsweise von ihr abhängig machen soll. Das halte ich in vollem Umfange aufrecht.

Die Anhänger dieser Katastrophentheorie stützen sich im Wesentlichen auf die Ausführungen des Kommunistischen Manifestes. In jeder Hinsicht mit Unrecht.

Die Prognose, welche das Kommunistische Manifest der Entwicklung der modernen Gesellschaft stellt, war richtig, soweit sie die allgemeinen Tendenzen dieser Entwicklung kennzeichnete. Sie irrte aber in verschiedenen speziellen Folgerungen, vor Allem in der Abschätzung der Zeit, welche die Entwicklung in Anspruch nehmen würde. Letzteres ist von Friedrich Engels, dem Mitverfasser des Manifestes, Vorwort zu den Klassenkämpfen in Frankreich rückhaltslos anerkannt worden. Es liegt aber auf der Hand, daß, indem die wirthschaftliche Entwicklung eine weit größere Spanne Zeit im Anspruch nahm als vorausgesetzt wurde, sie auch. Formen annehmen ‚ zu Gestaltungen führen mußte, die im Kommunistischen Manifest nicht vorausgesehen wurden und nicht vorausgesehen werden konnten.

Die Zuspitzung der gesellschaftlichen Verhältnisse hat sich nicht in der Weise vollzogen, wie sie das Manifest schildert. Es ist nicht nur nutzlos, es ist auch die größte Thorheit, sich dies zu verheimlichen. Die Zahl der Besitzenden ist nicht kleiner, sondern größer geworden. Die enorme Vermehrung des gesellschaftlichen Reichthums wird nicht von einer zusammenschrumpfenden Zahl von Kapitalmagnaten, sondern von einer wachsenden Zahl von Kapitalisten aller Grade begleitet. Die Mittelschichten ändern ihren Charakter, aber sie verschwinden nicht aus der gesellschaftlichen Stufenleiter.

Die Konzentrirung der Produktion vollzieht sich in der Industrie auch heute noch nicht durchgängig mit gleicher Kraft und Geschwindigkeit. In einer großen Anzahl Produktionszweige rechtfertigt sie zwar alle Vorhersagungen der sozialistischen Kritik, in anderen Zweigen bleibt sie jedoch noch heute hinter ihnen zurück. Noch langsamer geht der Prozeß der Konzentration der Landwirthschaft vor sich. Die Gewerbestatistik weist eine außerordentlich abgestufte Gliederung der Betriebe auf; keine Größenklasse macht Anstalt, aus ihr zu verschwinden. Die bedeutsamen Veränderungen in der inneren Struktur der Betriebe und ihren gegenseitigen Beziehungen kann über diese Thatsache nicht hinwegtäuschen.

Politisch sehen wir das Privilegium der kapitalistischen Bourgeoisie in allen vorgeschrittenen Ländern Schritt für Schritt demokratischen Einrichtungen weichen. Unter dem Einfluß dieser und getrieben von der sich immer kräftiger regenden Arbeiterbewegung hat eine gesellschaftliche Gegenaktion gegen die ausbeuterischen Tendenzen des Kapitals eingesetzt, die zwar heute noch sehr zaghaft und tastend vorgeht, aber doch da ist und immer mehr Gebiete des Wirthschaftslebens ihrem Einfluß unterzieht. Fabrikgesetzgebung, die Demokratisirung der Gemeindeverwaltungen und die Erweiterung ihres Arbeitsgebiets, die Befreiung der Gewerkschafts- und Genossenschaftswesens von allen gesetzlichen Hemmungen, Berücksichtigung der Arbeiterorganisationen bei allen von öffentlichen Behörden vergebenden Arbeiten kennzeichnen diese Stufe der Entwicklung. Daß in Deutschland man noch daran denken kann, die Gewerkschaften zu knebeln, kennzeichnet nicht den Höhegrad, sondern die Rückständigkeit seiner politischen Entwicklung.

Je mehr aber die politischen Einrichtungen der modernen Nationen demokratisirt werden, umsomehr verringern sich die Nothwendigkeiten und Gelegenheiten großer politischer Katastrophen. Wer an der Theorie der Katastrophen festhält, muß die hier gezeichnete Entwicklung nach Möglichkeit bekämpfen und zu hemmen suchen, wie das die konsequenten Verfechter dieser Theorie übrigens früher auch gethan haben. Heißt aber die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat blos die Eroberung dieser Macht durch eine politische Katastrophe? Heißt es die ausschließliche Besitzergreifung und Benutzung der Staatsmacht durch das Proletariat gegen die ganze nichtproletarische Welt?

Wer das bejaht, der sei hier an zweierlei erinnert. 1872 erklärten Marx und Engels im Vorwort zur Neuauflage des Kommunistischen Manifestes, die Pariser Arbeiterklasse habe namentlich den Beweis geliefert, daß ‚die Arbeiterklasse nicht die fertige Staatsmaschine einfach in Besitz nehmen und sie für ihre eigene Zwecke in Bewegung setzen kann‘. Und 1895 hat Friedrich Engels im Vorwort zu den Klassenkämpfen ausführlich dargelegt, daß die Zeit der politischen Ueberrumpelungen, der von ‚kleinen bewußten Minoritäten an der Spitze bewußtloser Massen durchgeführten Revolutionen‘ heute vorbei sei, daß ein Zusammenstoß auf großem Maßstabe mit dem Militär das Mittel wäre, das stetige Wachsthum der Sozialdemokratie aufzuhalten und selbst für eine Weile zurückzuwerfen, – kurz, daß die Sozialdemokratie ‚weit besser bei den gesetzlichen Mitteln als bei den ungesetzlichen und dem Umsturz‘ gedeiht. Und er bezeichnet demgemäß als die nächste Aufgabe der Partei, ‚das Wachsthum ihrer Stimmen ununterbrochen in Gang zu halten‘ – beziehungsweise ‚langsame Propaganda der parlamentarischen Thätigkeit‘.

So Engels, der, wie seine Zahlenbeispiele zeigen, bei alledem die Schnelligkeit des Entwicklungsgangs immer noch etwas überschätzte. Wird man ihm nachsagen, er habe auf die Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse verzichtet, weil er es vermieden sehen wollte, daß das durch die gesetzliche Propaganda gesicherte stetige Wachsthum der Sozialdemokratie durch eine politische Katastrophe unterbrochen werde?

Wenn nicht, wenn man seine Ausführungen unterschreibt, dann wird man auch vernünftigerweise daran keinen Anstoß nehmen können, wenn erklärt wird, was die Sozialdemokratie noch auf lange hinaus zu thun habe, sei, statt auf den großen Zusammenbruch zu spekuliren, ‚die Arbeiterklasse politisch zu organisiren und zur Demokratie auszubilden, und für alle Reformen im Staate zu kämpfen, welche geeignet sind, die Arbeiterklasse zu heben und das Staatswesen im Sinne der Demokratie umzugestalten‘.

Das ist es, was ich in meinem angefochtenen Artikel gesagt habe und was ich auch jetzt noch seiner vollen Tragweite nach aufrecht erhalte. Für die vorliegende Frage läuft es auf das Gleiche hinaus wie die Engelsschen Sätze, denn die Demokratie heißt jedesmal soviel Herrschaft der Arbeiterklasse, als diese nach ihrer intellektuellen Reife und dem Höhegrad der wirthschaftlichen Entwicklung überhaupt auszuüben fähig ist. Uebrigens beruft sich Engels an der angeführten Stelle auch noch ausdrücklich darauf, daß schon das Kommunistische Manifest ‚die Erkämpfung der Demokratie als eine der ersten und wichtigsten Aufgaben des streitbaren Proletariats proklamirt‘ habe.

Kurz, Engels ist so sehr von der Ueberlebtheit der auf die Katastrophen zugespitzten Taktik überzeugt, daß er auch für die romanischen Länder, wo die Tradition ihr viel günstiger ist als in Deutschland, eine Revision von ihr hinweg für geboten hält. ‚Haben sich die Bedingungen für den Völkerkrieg geändert, so nicht minder für den Klassenkampf‘, schreibt er. Hat man das schon vergessen?

Kein Mensch hat die Nothwendigkeit der Erkämpfung der Demokratie für die Arbeiterklasse in Frage gestellt. Worüber gestritten wurde, ist die Zusammenbruchstheorie und die Frage, ob bei der gegebenen wirthschaftlichen Entwicklung Deutschlands und dem Reifegrad seiner Arbeiterklasse in Stadt und Land der Sozialdemokratie an einer plötzlichen Katastrophe gelegen sein kann. Ich habe die Frage verneint und verneine sie noch, weil meines Erachtens im stetigen Vormarsch eine größere Gewähr für dauernden Erfolg liegt, wie in den Möglichkeiten, die eine Katastrophe bietet.

Und weil ich der festen Ueberzeugung bin, daß sich wichtige Epochen in der Entwicklung der Völker nicht überspringen lassen, darum lege ich auf die nächsten Aufgaben der Sozialdemokratie, als den Kampf um das politische Recht der Arbeiter, auf die politische Bethätigung der Arbeiter in Stadt und Gemeinde für die Interessen ihrer Klasse, sowie auf das Werk der wirthschaftlichen Organisation der Arbeiter den allergrößten Werth. In diesem Sinne habe ich seiner Zeit den Satz niedergeschrieben, daß mir die Bewegung Alles, – das was man gemeinhin Endziel des Sozialismus nenne, nichts sei, und in diesem Sinne unterschreibe ich ihn noch heute. Selbst wenn das Wort „gemeinhin“ nicht angezeigt hätte, daß der Satz nur bedingt zu verstehen war, lag es ja aus der Hand, daß er nicht Gleichgiltigkeit betreffs der endlichen Durchführung sozialistischer Grundsätze ausdrücken konnte, sondern nur Gleichgiltigteit oder, vielleicht besser ausgedrückt, Unbesorgtheit über das ‚Wie‘ der schließlichen Gestaltung der Dinge. Ich habe zu keiner Zeit ein über allgemeine Grundsätze hinausgehendes Interesse an der Zukunft gehabt, noch kein Zukunftsgemälde zu Ende lesen können. Den Aufgaben der Gegenwart und nächsten Zukunft gilt mein Sinnen und Trachten, und nur soweit sie mir die Richtschnur für das zweckmäßigste Handeln in dieser Hinsicht geben, beschäftigen mich die darüber hinausgehenden Perspektiven.

Die Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse, die Expropriation der Kapitalisten sind an sich keine Endziele, sondern nur Mittel zur Durchführung bestimmter Ziele und Bestrebungen. Als solche sind sie Forderungen des Programms der Sozialdemokratie und von Niemand bestritten. Ueber die Umstände ihrer Durchführung läßt sich nichts voraussagen, es läßt sich nur für ihre Verwirklichung kämpfen. Zur Eroberung der politischen Macht aber gehören politische Rechte, und die wichtigste Frage der Taktik, welche die deutsche Sozialdemokratie zur Zeit zu lösen hat, scheint mir die nach dem besten Wege der Erweiterung der politischen und gewerblichen Rechte der deutschen Arbeiter zu sein. Ohne daß auf diese Frage eine befriedigende Antwort gefunden wird, würde die Betonung der anderen schließlich nur Deklamation sein.“

An diese Erklärung knüpfte sich eine kurze Polemik zwischen mir und Karl Kautsky, in die auch, in der Wiener Arbeiterzeitung, Viktor Adler eingriff. Sie veranlaßte mich zu einer zweiten, im Vorwärts vom 23. Oktober 1898 abgedruckten Erklärung, aus der hier die folgenden Stücke Aufnahme finden:

„Von Karl Kautsky und Viktor Adler ist in ihren, vom Vorwärts abgedruckten Antworten auf meinen Artikel: Eroberung der politischen Macht, die mir von ihnen früher schon brieflich kundgegebene Meinung ausgedrückt worden, daß eine zusammenfassende Darstellung meines in den Problemen des Sozialismus entwickelten Standpunkts in Buchform wünschenswerth sei. Ich habe mich bisher gegen den Rath dieser Freunde gesträubt, weil ich der Meinung war (der ich auch jetzt noch bin), daß die Tendenz dieser Artikel durchaus in der allgemeinen Entwicklungslinie der Sozialdemokratie liege. Da sie ihn indeß jetzt öffentlich wiederholt haben und auch von verschiedenen anderen Freunden der gleiche Wunsch geäußert worden ist, habe ich mich entschlossen, diesen Anregungen Folge zu geben und meine Auffassung von Ziel und Aufgaben der Sozialdemokratie in einer Schrift systematisch zu entwickeln ...

Adler und auch Andere haben daran Anstoß genommen, daß ich mit der Entwicklung demokratischer Einrichtungen eine Milderung der Klassenkämpfe in Aussicht stellte, und meinen, da sähe ich die Verhältnisse lediglich durch die Englische Brille. Letzteres ist durchaus nicht der Fall. Selbst angenommen, daß der Satz: „das entwickeltere Land zeigt dem minder entwickelten das Bild der eigenen Zukunft“, neuerdings seine Geltung eingebüßt hätte und alle Unterschiede zwischen der festländischen und der englischen Entwicklung, die ja auch mir nicht ganz unbekannt sind, voll berücksichtigt, so stützt meine Ansicht sich auf Erscheinungen auf dem Festlande, die man in der Hitze des Kampfes allenfalls zeitweise übersehen, die man aber nicht dauernd verkennen kann. Ueberall in vorgeschritteneren Ländern sehen wir den Klassenkampf mildere Formen annehmen, und es wäre ein wenig hoffnungsvoller Ausblick in die Zukunft, wenn es anders wäre. Selbstverständlich schließt der allgemeine Gang der Entwicklung periodische Rückfälle nicht aus, aber wenn man sich vergegenwärtigt, welche Stellung z.B. selbst in Deutschland ein wachsender Theil des bürgerlichen Publikums heute den Streiks gegenüber einnimmt, wie viele Streiks heute auch dort in ganz anderer, verständigerer Weise behandelt werden, noch vor zehn und zwanzig Jahren, so kann man doch nicht bestreiten, daß hier ein Fortschritt zu verzeichnen ist. Sagt das auch nicht – um mit Marx zu reden – ‚daß morgen Wunder geschehen werden‘, so zeigt es doch nach meinem Dafürhalten der sozialistischen Bewegung einen hoffnungsvolleren Weg als die Katastrophentheorie, und braucht weder der Begeisterung, noch der Energie ihrer Kämpfer Abbruch zu thun. Das wird mir Adler gewiß nicht bestreiten.

Es gab eine Zeit, wo die von mir ausgedrückte Auffassung auf keinen Widerspruch in der Partei gestoßen wäre. Wenn das heute anders ist, so sehe ich darin nur eine begreifliche Reaktion gegen gewisse Erscheinungen des Tages, die mit diesen Tageserscheinungen vergehen und der Rückkehr zu der Erkenntniß Platz machen wird, daß mit der Zunahme demokratischer Einrichtungen die humanere Auffassungsweise, die sich in unserem sonstigen sozialen Leben langsam aber stetig Bahn bricht, auch vor den bedeutsameren Klassenkämpfen nicht Halt machen kann, sondern für sie ebenfalls mildere Formen der Austragung schaffen wird. Wir setzen heute durch Stimmzettel, Demonstration und ähnliche Pressionsmittel Reformen durch, für die es vor hundert Jahren blutiger Revolutionen bedurft hätte.

London, den 20. Oktober 1898“

Im Sinne dieser Ausführungen ist die nachfolgende Arbeit verfaßt.

Ich bin mir durchaus dessen bewußt, daß sie in verschiedenen wichtigen Punkten von den Anschauungen abweicht, wie sie in der Theorie von Karl Marx und Friedrich Engels vertreten wurden – Männer, deren Schriften auf mein sozialistisches Denken den größten Einfluß ausgeübt haben, und von denen der Eine, Friedrich Engels, mich nicht nur bis zu seinem Tode seiner persönlichen Freundschaft gewürdigt, sondern mir auch in seinen letztwilligen Verfügungen über das Grab hinaus einen Beweis seines großen Vertrauens erwiesen hat. Diese Abweichung in der Auffassungsweise datirt freilich nicht erst seit Kurzem, sie ist das Produkt eines jahrelangen inneren Kampfes, von dem ich den Beweis in Händen habe, daß er Friedrich Engels kein Geheimniß war, wie ich denn überhaupt Engels entschieden dagegen verwahren muß, daß er so beschränkt gewesen wäre, von seinen Freunden bedingungsloses Unterschreiben seiner Ansichten zu verlangen. Immerhin wird man es nach dem Dargelegten verstehen, warum ich bisher nach Möglichkeit vermieden habe, der Darlegung meiner abweichenden Ansichten die Form einer Kritik der Marx-Engelsschen Lehre zu geben. Es ließ sich dies auch bisher um so leichter vermeiden, als in Bezug auf die praktischen Fragen, um die es sich dabei handelt, Marx und Engels selbst im Laufe der Zeit ihre Ansichten erheblich modifizirt haben.

Das ist jetzt anders geworden. Ich habe es nunehr polemisch mit Sozialisten zu thun, die gleich mir aus der Marx-Engelsschen Schule hervorgegangen sind ‚ und ihnen gegenüber bin ich genöthigt, wenn ich meine Ansichten vertreten will, auf die Punkte zu verweisen, wo mir die Marx-Engelssche Doktrin hauptsächlich zu irren oder sich in Widersprüchen zu bewegen scheint.

Ich bin dieser Aufgabe nicht ausgewichen, aber sie ist mir aus den angegebenen persönlichen Gründen nicht leicht geworden. Ich bekenne dies offen, damit der Leser in der zaghaften, schwerfälligen Form der ersten Kapitel nicht Unsicherheit in der Sache suche. Was ich geschrieben, dazu stehe ich mit ganzer Entschiedenheit. Aber ich habe es nicht immer über mich bekommen, diejenige Form und diejenigen Argumente zu wählen, mittels deren meine Gedanken am schärfsten zum Ausdruck gelangt wären. In dieser Hinsicht bleibt meine Arbeit hinter manchen, von anderer Seite veröffentlichten Arbeiten über denselben Gegenstand sehr zurück. Einiges in den ersten Abschnitten Versäumte habe ich ihn Schlußkapitel nachgeholt. Ferner hat, da das Erscheinen der Schrift sich etwas verzögerte, das Kapitel über die Genossenschaften einige Zusätze erfahren, bei denen Wiederholungen nicht völlig vermieden werden konnten.

Im Uebrigen möge die Schrift für sich selbst sprechen. Ich bin nicht so naiv, zu erwarten, daß sie diejenigen sofort bekehren werde, die meinen vorhergegangenen Aufsätzen entgegengetreten sind, noch bin ich thöricht genug zu verlangen, daß diejenigen, die prinzipiell mit mir auf gleichem Standpunkt stehen, alles unterschreiben, was ich darin gesagt. In der That ist die bedenklichste Seite der Schrift, daß sie zuviel umfaßt. Sobald ich auf die Aufgaben der Gegenwart zu sprechen kam, mußte ich, wollte ich mich nicht auf das Schwimmen in Allgemeinheiten verlegen, in allerhand Einzelfragen eintreten, über die selbst unter sonst Gleichgesinnten Meinungsverschiedenheiten unvermeidlich sind. Und doch gebot mir die Oekonomie der Schrift, auch hier mich auf die Betonung einiger Hauptpunkte zu beschränken, mehr anzudeuten als zu beweisen. Indeß kommt es mir auch nicht darauf au, daß man mir in allen Einzelfragen zustimme. Woran mir liegt, was den Hauptzweck dieser Schrift bildet, ist, durch Bekämpfung der Reste utopistischer Denkweise in der sozialistischen Theorie das realistische wie das idealistische Element in der sozialistischen Bewegung gleichmäßig zu stärken.

London im Januar 1899

Ed. Bernstein


Zuletzt aktualisiert am 10 February 2010