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Ursprünglich: Neue Zeit, XVI. Jg. 1. Bd., 1897-1898, Nr.24, S.740-751.
Diese Version: Eduard Bernstein: Zur Theorie und Geschichte des Socialismus: Gesammelte Abhandlungen, Bd.2, Berlin 1904, S.97-109.
Transkription/HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Die an meinem Artikel von socialistischen Blättern geübte Kritik lässt sich, soweit mir diese zu Gesicht gekommen, in drei Gruppen einteilen. Die erste Gruppe von Kritikern findet an dem Artikel principiell nichts Verfängliches, hält es im Gegenteil für ganz in der Ordnung, dass die theoretischen Grundlagen und Voraussetzungen der Parteithätigkeit von Zeit zu Zeit einer Revision unterzogen werden. Ohne auf den Inhalt meiner Schlussfolgerungen einzugehen, bemängeln sie die Form, die ich ihnen gegeben habe, als geeignet, Missverständnisse zu erwecken. Dies der Standpunct, den unter anderem die Redaction des Centralorgans der Partei einnahm.
Da insbesondere eine Stelle meines Artikels in der That missverstanden worden ist, habe ich diesem Vorwurf insoweit Rechnung getragen, als ich dem Vorwärts eine Erklärung zusandte, wie ich den betreffenden Satz verstanden wissen wollte. Es handelt sich um die Bemerkung, dass mir das, was man „gemeinhin“ als das Endziel der socialistischen Bewegung bezeichnet, nichts, die Bewegung selbst vielmehr alles sei.
Hier das Wesentliche dieser Erklärung:
„Folgt daraus, dass ich es ablehne, mich mit dem sogenannten ‚Endziel der socialistischen Bewegung‘ zu befassen, dass ich überhaupt jedes bestimmte Ziel dieser Bewegung leugne? Ich würde es bedauern, wenn meine Worte so verstanden würden. Eine Bewegung ohne Ziel wäre ein chaotisches Treiben, denn sie wäre auch eine Bewegung ohne Richtung. Ohne ein Ziel keine Richtung, soll die socialistische Bewegung nicht compasslos hin- und hertreiben, so muss sie selbstverständlich ihr Ziel haben, dem sie bewusst zustrebt. Dieses Ziel ist aber nicht die Verwirklichung eines Gesellschaftsplanes, sondern die Durchführung eines Gesellschaftsprincips. Soweit sich die Aufgaben der Socialdemokratie nicht aus den jeweilig gegebenen Bedürfnissen des Kampfes der Arbeiter für ihre politische und ökonomische Emancipation ergeben, kann man in der That das Ziel der socialistischen Bewegung, will man nicht in Utopisterei verfallen, nur als Princip formulieren, etwa als die ‚allseitige Durchführung der Genossenschaftlichkeit‘. Ich kenne kein Wort, das in gleicher Weise das Ganze der socialistischen Bestrebungen umspannt wie dieses, ob es sich nun um politisch' oder wirtschaftliche Forderungen handelt. Es schliesst alle Classenherrschaft und alle Classenprivilegien aus: der kraft seiner Classenlage Bevorrechtete ist kein Genosse. Aber wenn es auch das Ziel bezeichnet, so sagt es doch nichts über Wege und Mittel. Diese können nur aus den gegebenen Bedingungen gefunden werden, müssen im Verhältnis zum jeweiligen Stande der Bewegung stehen. Darum ist, das allgemeine Ziel gegeben, die Bewegung selbst und ihr Fortschritt in der Richtung auf dieses Ziel die Hauptsache, während es recht gleichgiltig ist. wie man sich das Endziel dieser Entwicklung ausmalt. Durch alle diese Speculationen pflegt vielmehr die Geschioluc ihren dicken Strich zu machen. Wo jemals geniale Vorwegnahmen der Zukunft sich erfüllt haben, waren sie allgemeiner Natur und ihre Verwirklichung geschah in anderer Weise und unter anderen Formen, als ihre Urheber voraussetzten. Es hat nur Wert, sich über den allgemeinen Gang der Bewegung klar zu sein und die Factoren. die für sie in Betracht kommen, genau zu prüfen. Thun wir das, so können wir um das Endziel unbesorgt sein.“
Soviel hier über diesen Pnnct. Eine zweite Gruppe von socialistischen Kritikern meines Artikels findet ihn ebenfalls in der Hauptsache unverfänglich und erklärt sogar, den grössten Teil des von mir Gesagten zu unterschreiben, hat aber an einzelnen Sätzen oder am statistischen Material bestimmte Aussetzungen zu machen. Nun darüber lässt sich reden. Auf das statistische Material, das die sonst meinem Artikel beipflichtende Frankfurter Volksstimme anzweifelt, komme ich weiter unten zurück.
Und nun zur dritten Gruppe von Kritikern, repräsentiert durch oder gruppiert um Parvus von der Sächsischen Arbeiter Zeitung.
Für Parvus bedeutet mein Artikel, wenn ich Recht hätte, die „Vernichtung des Socialismus“, woraus sich von selbst die Pfhcht der Vernichtung des Vernichters ergiebt. Und gründlich wird sie besorgt. Es donnert und blitzt nur so in der Ammonstrasse. Aber Jupiter Ammonius Parvus verfügt weder über den Blitz, der tötet, noch über den Donner, der Schrecken einjagt. Je länger er seine Widerlegung ausspinnt, um so mehr widerlegt er sich selbst.
Er setzt versprechend genug ein. Er anerkennt, dass ich den Mut meiner Dummheit und Unwissenheit habe und versichert mich weiterhin des Mitleids über meine „Geistesverwirrung“. Worin besteht die letztere? Ich habe in meiner Erklärung im Vorwärts gesagt, dass, soweit sich die Aufgaben des Socialismus nicht aus den jeweilig actuellen Bedürfnissen des Kampfes der Arbeiterclasse ergeben, man vernünftiger Weise das Ziel der socialistischen Bewegung nicht durch einen Gesellschaftsplan, sondern nur als ein Princip ausdrücken könne. Damit bin ich, „der geschichtliche Materialist, ins Nebelreich der Ideologie“ gezogen. Wenn Parvus den geschichtlichen Materialismus recht ins Lächerliche ziehen wollte, hätte er keinen wirksameren Weg einschlagen können. Das wäre noch schöner, wenn der historische Materialismus, statt Methode für die Untersuchung zu sein, jeden Gebrauch abgeleiteter Begriffe, jede Zusammenfassung gesellschaftlicher Beziehungen unter dem Gesichtspunct der sie beherrschenden Regel verbieten wollte. Eine massgebende Regel bezeichnet der Sprachgebrauch als Princip. In seinem bekannten Briefe an Conrad Schmidt über den historischen Materialismus sagt Friedrich Engels, dass die Widerspiegelung ökonomischer Verhältnisse als Rechtsprincipien, solange sie nicht als solche erkannt ist, das bildet, was wir ideologische Anschauung nennen. Darin liegt eingeschlossen, dass, sobald wir über die Beziehungen zwischen Rechtsprincipien und ökonomischen Verhältnissen im Reinen sind, nichts uns verbietet, Gesellschaftszustände durch erstere auszudrücken. Aber wozu Engels heranziehen? Wenige Zeilen nachdem Parvus die Geistesverwirrung bejammert hat, die mich von einem Genossenschaftsprincip sprechen lässt, schreibt er selbst, die ganze Politik der Socialdemokratie beruhe darauf, dass sie die politische Macht in möglichst rascher Entwicklung erobern will, um mittels derselben durch Übernahme der bereits gesellschaftlichen Betriebe in zielbewusste gesellschaftliche Verwaltung „die Rechtsgrundlagen zu schaffen für die Entwicklung der socialistischen Gesellschaft“. Wozu Rechtsgrundlagen schaffen, als um eines Rechtes willen, und was ist ein so gedachtes Recht anders als Durchführung eines Rechtsprincips? Die Vergesellschaftung der Productionsmittel erscheint damit plötzlich, genau wie ich das oben dargelegt, nicht als Ziel, sondern als Mittel. [1] So bezeichnet auch das Communistische Manifest die Erhebung des Proletariats zur herrschenden Classe als den „ersten Schritt“ in der Arbeiterrevolution, als den „nächsten Zweck“ der Communisten, als Ziel der Bewegung aber die Errichtung „einer Association, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“. Association heisst Genossenschaft — ein Gemeinwesen auf dem Grundsatz der Genossenschaftlichkeit oder, was dasselbe sagt, des Genossenschaftsprincips.
Ich habe das Communistische Manifest angeführt, weil das Actionsprogramm, das Parvus mir gegenüber für die einzig den Socialismus repräsentierende Politik erklärt, das des Communistischcn Manifestes ist. An diesem Programm habe ich mich versündigt, indem ich eine Untersuchung darüber anstellte, ob und wie weit die Verhältnisse ihm entsprechen.
Nun aber ist das Manifest von seinen Urhebern selbst schon 1872 für teilweise veraltet erklärt worden, und zwar veraltet erklärt worden in ausdrücklicher Betonung u.a. „der praktischen Erfahrungen, zuerst der Februarrevolution und noch mehr der Pariser Commune“. Welche praktischen Erfahrungen der Februarrevolution gemeint sind, wird nicht gesagt, aber die der Commune werden ausdrücklich als das Programm teilweise negierend bezeichnet. „Namentlich die Commune“, heisst es, „hat den Beweis geliefert, dass ‚die Arbeiterclasse nicht die fertige Staatsmaschine einfach in Besitz nehmen und sie für ihre eigenen Zwecke in Bewegung setzen kann‘.“ Bezieht sich in diesem Puncte die Correctur mehr auf die politische Form der Bewegung, was aber notwendig auch den Charakter der ökonomischen Massregeln in Mitleidenschaft zieht, so haben die Verfasser des Communistischen Manifests auch sonst allerhand geschrieben und hat die thatsächliche Entwicklung allerlei gezeitigt, was die Voraussetzungen des Manifests erschüttert. So fusst das Manifest noch durchaus auf dem ehernen Lohngesetz. Es kennt die Coalitionen der Arbeiter nur in ihrer ersten, unentwickelten, rebellischen, aber unbeständigen Form. Es kennt die Arbeiter nur erst als politisch entrechtete Classe. Es unterstellt eine Raschheit der ökonomischen Entwicklung, mit welcher die Wirklichkeit nicht Schritt gehalten hat, eine Zuspitzung der Eigentums- und Einkommensverhältnisse, wie sie in Wirklichkeit nicht eingetreten ist. Die moderne Lohnarbeiterschaft ist nicht die gleichgeartete, in Bezug auf Eigentum, Familie, etc. gleich ungebundene Masse, die im Manifest vorausgesehen wird. Grosse Schichten heben sich aus ihr zu kleinbürgerlichen Existenzverhältnissen empor. Andererseits geht die Auflösung der Mittelstände viel langsamer vor sich, als sie das Manifest sich vollziehen sieht. Das eherne Lohngesetz ist von Marx selbst verworfen, der regenerierende Einfluss der Fabrikgesetzgebung auf die Lage der Arbeiter von ihm selbst constatiert worden. Engels hat selbst zugegeben, dass er und Marx die Raschheit der ökonomischen Entwicklung überschätzt hatten. An alledem ist der Socialismus nicht gestorben, noch hat jemand von „Umwälzung des Socialismus“ geschrieen, als Marx und Engels 1872 im Vorwort zum Manifest ihrem 1847-48 noch verfochtenen Quasifacobinismus den Abschied gaben. [2] Von jemand, der auf dem Boden des historischen Materialismus zu stehen behauptet, ist es daher mehr wie eigentümlich, angesichts der erwähnten und noch vieler anderer Änderungen in den Voraussetzungen des Manifests zu erklären, wer nicht die dort vorgezeichnete revolutionäre Action unter allen Umständen für möglich und zielführend hält, gebe den ganzen bisher von der Socialdemokratie verfochtenen Socialismus auf.
Nun bestreitet allerdings Parvus, dass sich an den Voraussetzungen des Manifestes wesentliches geändert habe. Und er bestreitet vor allem meine Behauptung, dass die Berufsstatistik nicht jene reissend schnelle allseitige Concentrierung der Industrie aufzeige, die auf einen baldigen Zusammenbruch der bestehenden und einen schnell zu bewerkstelligenden Übergang von dieser in eine völlig socialistische Gesellschaft folgern liesse. Meine Betrachtung der Statistik sei „durchaus unwissenschaftlich“.
Gewiss, wenn ich die Zahlen, wie sie die summarischen Tabellen der Berufsstatistik zeigen, absolut hätte gelten lassen, so wäre das, um mit Parvus zu reden, „durchaus unwissenschaftlich gedacht“ gewesen. Aber das ist es gerade, was ich nicht gethan habe. Ich habe im Gegenteil sehr energisch betont, dass die Tabellen in vieler Hinsicht täuschen, dass sie eine Festigkeit in verschiedenen Grössengruppen der Betriebe vermuten lassen, die in Wirklichkeit nicht bestehe. Ich habe ferner ausdrücklich constatiert [3], dass der moderne Mittelbetrieb in der Industrie oft in hohem Grade capitalistischer Betrieb sei, was Parvus indess nicht abgehalten hat, mir als einem, der davon keine Ahnung habe, an der Hand der Farbenindustrie vorzuhalten, dass eine Industrie mit im Durchschnitt zwanzig Personen pro Betrieb eine sehr capitalistische Industrie sein kann. In gleicher Weise belehrt er mich höhnisch beim Handel, dass die Zahl der Angestellten nichts über den Charakter des Unternehmens sage, wo ich wieder ausdrücklich darauf hinwies [4], „dass im Handel Betriebe mit über 10 bis 15 Personen schon zu den Grossbetrieben gerechnet werden müssen“. Dann wieder sucht er aus den Specialtabellen der Betriebsclassen solche Geschäftszweige heraus, die recht crasse Gegenüberstellungen erlauben: Kleinbetriebe, an denen eine gewisse Lächerlichkeit haftet, werden mit Riesenbetrieben in Gegensatz gebracht, um den von mir constatierten ungeschwächten Fortbestand grosser Massen von Klein- und Mittelbetrieben als eine Sache erscheinen zu lassen, der nur crasse Ignoranz Bedeutung beilegen kann. [5] Über die grosse Zahl der Klein- und Mittelbetriebe der Metall-, Leder-, Holz- etc. Verarbeitungsindustrien geht er dagegen stillschweigend hinweg. Wenn es Parvus darauf angekommen wäre, vor Leuten, die die Dinge nicht kennen, billige Knalleffecte zu erzielen, so wäre diese Art der Polemik sehr zweckentsprechend, zur Sache selbst beweist seine Deduction garnichts.
Worum hat sich meine Untersuchung gehandelt? Erstens um die Krisenfrage, die hier unerörtert bleiben kann, und zweitens um die Nähe einer völlig socialistischen Umwälzung der Gesellschaft, bezw. der Vergesellschaftung aller Productions- und Circulationsmittel.
Die Vergesellschaftung kann in verschiedenen Formen vor sich gehen: als Verwandlung in Staatsbetrieb, als Verwandlung in Gemeindebetrieb, als Verwandlung in mehr oder weniger verantwortlichen Genossenschaftsbetrieb. Dass der Staatsbetrieb nicht nach Willkür ausgedehnt werden kann, brauche ich vielleicht selbst Parvus nicht erst nachzuweisen. Und er wird auch wohl begreifen, dass eine Revolution keineswegs ein sehr günstiger Zeitpunct dafür wäre.
Der Staat oder die oberste Vertretung der Nation, die in einer solchen Epoche alle Hände voll zu thun und den Kopf voller Sorgen hätte, müsste wahnsinnig sein, wenn sie sich dann auch noch neue Aufgaben so schwieriger Natur wie die Einrichtung und Controlierung umfassender staatlicher Pruductionsstätten in Masse aufladen wollte. Ganz abgesehen davon, dass sich nur ganz bestimmte Productionszweige für den Betrieb auf nationale Rechnung eignen.
Kommt die Gemeinde. Ein Teil des hinsichtlich des Staates Gesagten trifft auch für sie zu. Unternehmungen, die nicht ein regelmässiges, im allgemeinen gleichförmiges Bedürfnis der Gemeindemitglieder versorgen, eignen sich nicht für den Gemeindebetrieb. Und selbst wenn Gemeinden sich auf Warenproduction für den allgemeinen Markt verlegen wollten, könnten sie nur schrittweise vorgehen.
Die Masse der Industrieen und Geschäfte bliebe somit dem Betrieb entweder durch private Unternehmer oder durch Genossenschaften überlassen. Und da ist es eine sehr grosse Frage, ob der Drang nach Genossenschaftsbildung wirklich so gross und kräftig sein würde, wie es von früheren Socialisten vorausgesetzt wurde. Abgesehen von den Consumgenossenschaften, die auf einem anderen Blatte stehen, sind die Erfahrungen hier immer noch sehr bescheidene. Man wird sagen, heute sei das eben etwas anderes, heute seien die Genossenschaften aufs Concurrieren angewiesen, und ausserdem verfugten die Arbeiter nicht über die nötigen Mittel zur Bildung leistungsfähiger Genossenschaften. Aber mit Concurrenz würde mindestens in der Übergangsepoche auch gerechnet werden müssen [6], und was die Geldmittel betrifft, so stehen diese doch heute vielfach den Arlieitern in sehr ansehnlichem Maasse zur Verfügung, ohne dass sie in auch nur nennenswertem Umfange zur Bildung von Productivgenossenschaften verwendet würden. Das Capitalvermögen, welches die englischen Arbeiter in ihren Spar-, Hilfs-, Gewerkschaftsvereinen aufgehäuft haben, wird auf Hunderte von Millionen Mark geschätzt. Wäre ein starker Drang nach genossenschaftlicher Arbeit vorhanden, so müsste er sich unter diesen Umständen immerhin merklich bekräftigen, aber von wenigen Ausnahmen abgesehen, bei denen zumeist auch noch Einflüsse ausschlaggebend waren, die mit dem Genossenschaftsgedanken an sich nichts zu thun haben, hat sich noch sehr wenig davon gezeigt. Die Textilarbeiter in Lancashire haben z.B. beträchtliche Summen Geld in dortigen Fabriken angelegt, und es herrscht vielfach die Meinung, dass sie sich dadurch Stimmen im Verwaltungsrat dieser Fabriken gesichert hätten. Aber zur Zeit der Discussion über die von den Fabrikanten während der Stockung im Sommer vorigen Jahres vorgeschlagene Lohnreduction schrieb Mawdsley, der Secretär der Spinnergewerkschaft, mit einer gewissen Genugthuung an demokratische Blätter, die Arbeiter hätten sich nur wenig auf das riskierte Geschäft der Anlegung ihres Geldes in Actien eingelassen, sie hätten es vorgezogen, Obligationen einzuthun, die seien ziemlich sicher. Unzweifelhaft, und nur Pharisäer können dies den Arbeitern verargen. Aber kann man darnach von einem starken Trieb reden, den Fabrikanten loszuwerden und genossenschaftlich zu producieren? [7] Man wird einwenden, das sei kleinbürgerlich argumentiert, diese Dinge müssten im grossen eingerichtet werden, dann werde es gehen. Indes, erstens kann man nicht alles über Nacht auf grossem Fusse einrichten [8], und dann ist es doch eine eigene Art Folgerung, dass der genossenschaftliche Sinn sich kräftiger in Unternehmungen bethätigen soll, die dem Arbeiter fertig gegenübertreten und die er vielleicht kaum übersieht, als in solchen, wo er wirklich „Selbstproducent“ sein kann.
Kurz, überall wohin wir uns wenden, sehen wir, dass die Dinge unendlich viel verwickelter Hegen, als dass sie mit den paar Worten Concentration, Expropriation, Organisation, Association abgethan wären. [9] Auf jeden Fall, Association oder Nichtassociation, bleiben zunächst eine ungeheure, in die Hunderttausende gehende Menge von Geschäften, die nicht auf öffentliche Rechnung, sondern für Sonderrechnung betrieben werden, bleibt damit im weiten Umfange Warenproduction, bleibt so lange auch Geldwirtschaft und alles was damit zusammenhängt. Und darum sagte und wiederhole ich, dass wenn die Socialdemokratie bei dieser Gliederung des Wirtschaftsorganismus ans Ruder käme, sie den Capitalismus vorerst nicht entbehren könnte, soll nicht totale Stockung alles Geschäftslebens eintreten und eine Reaction heraufbeschwören, gegen welche der Thermidor und der 2. December harmlos erscheinen würden. Könnte sie ihm aber die Sicheiheit gewähren, deren er zur Erfüllung seiner Functionen bedarf, könnte sie der Geschäftswelt Vertrauen in den regelrechten Gang der Geschäfte — Sicherheit des Eigentums, geordnete Rechtspflege etc. — einflössen ? Sicherlich am wenigsten, wenn sie unter den Verhältnissen an die Macht käme, die die Zusammenbruchstheorie voraussetzt. Parvus spricht davon, was „wir“ in solchem Falle z.B. alles für das Landvolk thun, wie „wir“ ihm u.a. seine Grundschulden ablösen helfen und die Bauern mit Verordnungen über den Wirtschaftsbetrieb beglücken würden, dass es nur so eine Art hätte. Aber auf „uns“, lieber Parvus, kommt es dabei garnicht an. Sie wollen z.B., dass der Staat alsdann die Verzinsung und Abzahlung der Hypotheken übernähme. Das ist sehr rücksichtsvoll von Ihnen gegenüber den jetzigen Hypothekengläubigern. Aber wenn nun das Landvolk sich weigert, überhaupt Zinsen zu zahlen? Der Bürger Bax z.B., der so vieles an Ihrem Artikel billigen wird, würde sofort als zweiter Wat Tyler sich an die Spitze der Bauern stellen und Sie ohne Gnade zum Baumeln verdonnern. Zinsen zahlen? Der erste Act der Revolution muss vielmehr in der Nichtigkeitserklärung aller Contracte bestehen. Aber sehen wir von Bax ab. Wenn die Revolutionen alle im Schosse der Gesellschaft schlummernden Kräfte aufrufen, so rufen sie daneben auch Narren auf, und leider ist vorläufig die Welt noch so, dass die Narren ziemlich grosse Chancen haben. Wer bestimmte nach dem Februar 1848 die verhängnisvollsten Handlungen der Masse in Paris? Nicht die anerkannten Wortführer und Denker des Socialismus, nicht Pierre Leroux und nicht Lamermais, nicht Cabet und nicht Proudhon, nicht Louis Blanc und auch nicht Blanqui. Am 15. Mai war es der innerlich haltlose Huber, am 23. Juli der Dichterling Pujol, die den Massen die Parole gaben. Wer dominierte in der Commune? „Dass die Pariser daran sind, für Boulanger ins Zeug zu gehen, ist ein schlimmes Symptom“, schrieb Friedrich Engels 1889 in einem mir vorliegenden Privatbrief. Für wen sind sie heute daran, ins Zeug zu gehen? Für die Brüderschaft Drumont-Rochefort. Wir haben in Deutschland eine treffliche, sich von Etappe zu Etappe ununterbrochen vorwärts entwickelnde Arbeiterbewegung, warum soll ich ihr baldiges Gelangen in eine Position wünschen, von der sich nach allem, was die Vergangenheit gelehrt hat und die sachliche Prüfung der Verhältnisse bestätigt, annehmen lässt, dass sie sie noch nicht würde halten können? Ich will nicht von den Zerstörungen reden, die eine solche Entwicklung der Dinge mit sich brächte, aber selbst der engste Interessenstandpunci der Socialdemokratie spricht hier gegen jede leichtfertige Behandlung der Frage. Eine Niederlage bedeutete mehr als einen zeitweiligen Misserfolg. Aller historische Materialismus hilft über die Thatsache nicht hinweg, dass es die Menschen sind, die ihre Geschichte machen, dass die Menschen Köpfe haben und dass die Disposition der Köpfe keine so mechanische Sache ist, um lediglich durch die Wirtschaftslage regiert zu werden. Warum verhalten sich Arbeiter, die in ganz gleicher Classenlage sind, oft diametral verschieden? Neben allerhand sonstigen Ideologien beeinflussen geschichtliche Erinnerungen und Überlieferungen ihr Handeln. So wirken grosse Niederlagen noch Jahrzehnte demoralisierend und desorganisierend auf die unterlegene Classe.
Es kann für die arbeitenden Classen überall notwendig werden, im Kampfe für ihr Recht zu den äussersten Mitteln zu greifen. Sollte die Verblendung der herrschenden Gewalten in Deutschland es dahin treiben, so würden die deutschen Arbeiter selbstverständlich ihre Entscheidung nicht von Erwägungen wie die vorentwickelten abhängig machen, sondern thun, was die Gebote der Selbstachtung und Selbstbekräftigung von ihnen erheischen. Die herrschenden Classen haben, wie Engels gezeigt hat, in solchen Fällen heute mehr Trümpfe als früher in der Hand, aber sie verfügen nicht über alle Trümpfe. Die Arbeiterclasse kann auf die Demokratie, diese Vorbedingung ihrer wirtschaftlichen Emancipation, nicht verzichten und würde selbst in einer Niederlage ihren Gegnern schwere Wunden schlagen.
Aber nicht um diese Frage handelt es sich für mich. Das Thema, das ich zu erörtern hatte und habe, ist das der socialistischen Umgestaltung der Grundlagen des Gesellschaftsleben, der Socialisierung von Production und Circulation. Und für diese, behaupte ich, kann die Socialdemokratie heute als Oppositionspartei mehr thun, wie wenn sie durch eine Katastrophe plötzlich ans Ruder käme. Als sociale Oppositionspartei treibende Kraft der wirtschaftlichen Entwicklung wie sie wirksamer noch nie in der Geschichte dagewesen, würde sie als herrschende Gewalt bei der gegebenen Gliederung der Gesellschaft wahrscheinlich genötigt werden, sich selbst untreu zu werden, statt revolutionierend aufhaltend zu wirken. In solchen Situationen handelt es sich nicht darum, was die Parteien wollen, sondern was die Umstände ihnen abnötigen. Wenn alle Geschäfte stocken, Handel und Wandel darniederliegt, fragen die Leute nicht, ob eine Sache socialistisch ist, sondern ob sie ihnen zu Arbeit und Brot verhilft.
Ich bin kein Formalist, und wenn mir Parvus vorwirft, dass, indem ich den Gedanken zurückweise, die Socialdemokratie schon in nächster Zeit durch eine Katastrophe ans Ruder zu bringen, ich den „grundsätzlichen Ausgangspunct der gesamten Parteithätigkeit“ aufgebe, so werde ich mich nicht damit verteidigen, dass ich sage, davon stände kein Wort im Parteiprogramm. Auf den Geist, nicht auf das Wort kommt es an. Aber ich bestreite, dass die von der Partei vertretenen Grundsätze zu den Folgerungen zwingen, die Parvus aus ihnen zieht.
Marx selbst hat 1872 in Amsterdam erklärt, dass in Ländern wie England und den Vereinigten Staaten es möglich sei, die socialistische Umgestaltung auf gesetzlichem Wege durchzuführen, und er hat ein anderes Mal hinsichtlich der Bodenfrage in England erklärt, man käme wahrscheinlich am billigsten fort, wenn man die Landlords auskaufte. Der Weg gesetzlicher Ablösung erschien ihm also billiger, als der Weg gewaltsamer Expropriation. Nun bin ich, und ich glaube in diesem Puncte die grosse Masse der deutschen Socialdemokraten hinter mir zu haben, der Meinung, dass, was an uns liegt, den Katastrophenweg unnötig zu machen, auch von uns zu geschehen hat. [10] Die ganze Stellung der Partei zu den Fragen der Gesetzgebung ist von diesem Gedanken geleitet. Wir fragen nicht bei Reformen, ob sie die Katastrophe, die uns ans Ruder bringen könnte, beschleunigen oder nicht, sondern wir fragen, ob sie die Arbeiterclasse in ihrer Entwicklung fördern, ob sie dem allgemeinen gesellschaftlichen Fortschritt dienen oder nicht.
Es hat in der Geschichte noch keine Umwälzung von so grosser Tragweite gegeben, wie die von der Socialdemokratie erstrebte. Um so unwahrscheinlicher, sie mit einer Katastrophe durchsetzen zu können. Es bedarf dazu langer, in die Tiefe gehender Arbeit. Und glaube man nicht, dass, weil es sich bei der Alltagsarbeit um kleine Dinge handelt, diese Arbeit von geringerem Werte sei, als die grossen Actionen. Es ist gerade die kleine Arbeit, die hier oft die grösste Bedeutung hat. Auf dem Gebiete der modernen Arbeiterbewegung sind es nicht die sensationellen Schlachten, sondern die in unablässigem zähen Ringen von Stufe zu Stufe erklommenen Positionen, auf die es ankommt.
Es ist doch lächerlich, nach fünfzig Jahren noch mit Sätzen des Communistischen Manifests zu argumentieren, die ganz anderen politischen und socialen Zuständen entsprechen wie die, mit denen wir heute zu thun haben. Man braucht kein Lobredner des Gegebenen zu sein, um den bedeutenden Fortschritt zu erkennen, der sich seit der Abfassung des Manifests in der staatsbürgerlichen Stellung der Arbeiter vollzogen hat.
Man hat mir vorgeworfen, ich hätte die Fühlung mit der Masse verloren, und daher mein Pessimismus. Aber erstens bin ich garnicht pessimistisch, und zweitens, was heisst Fühlung mit der Masse? Die pessimistischsten Äusserungen über die Arbeiterclasse, die ich kenne, rühren von Leuten her, die gerade mitten in der Arbeiterbewegung stehen. [11] Daneben kann man dann wieder die Ausbrüche von Leuten vernehmen, die an socialistischer Katastrophitis leiden und den grossen Kladderadatsch alle Jahre ein paarmal schon vor der Thüre sehen.
Ich habe auch einmal an jener interessanten Krankheit gelitten, aber ich bin längst von ihr zurückgekommen. Ich bin der Überzeugung, dass die socialistische Bewegung in ihrem Vormarsch der Krisen garnicht bedarf. Ich bin ferner der Überzeugung, dass die bürgerliche Gesellschaft noch beträchtlicher Ausspannung fähig ist, und dass die Production und das Geschäft innerhalb dieser Gesellschaft noch manche Formveränderungen durchmachen können, ehe sie völlig „zusammenbricht“. [12]
Indess niemand kann die Zukunft vorausbestimmen. Wir können unseren Kampf nur nach dem richten, was wir sehen. Aus der Analyse der vor uns liegenden Entwicklung und ihren Tendenzen formiert die Partei ihr Programm und verficht es mit aller Energie. Sie kämpft nicht in dem Wahne für politische Macht, über Nacht ans Ruder zu kommen, sondern in dem Bestreben, der Arbeiterclasse einen immer stärkeren Einfluss auf die Gesetzgebung und das ganze öffentliche Leben zu sichern, ihr immer bessere Existenzbedingungen zu erringen. Es ist widersinnig, den Kampf für politische Macht lediglich als Kampf um die volle und ausschliessliche Herrschaft im Staate zu betrachten. Bis es dahin kommt, sind noch viele Etappen zurückzulegen, und es war kein Geringerer als Friedrich Engels, der den Ausspruch gethan hat: Wir nehmen auch Abschlagszahlungen.
* * *
Parvus hat mir auch vorgeworfen, dass, wenn ich die grundsätzliche Verwerfung der Colonialpoljtik bekämpfte, ich damit thatsächlich die Colonialpolitik verteidigte. Welche Logik. Ich habe die Anschauung, als müsse man jeder Colonialpolitik deshalb Widerstand leisten, weil sie den Zusammenbruch der bestehenden Gesellschaft verzögere, sowie den grundsätzlichen Widerstand gegen jede Erweiterung der Märkte als utopistisch bekämpft. Damit verteidige ich noch garnichts, ich erkenne nur an, dass es Fälle geben kann, wo die Socialdemokratie keinen Grund hat, Unternehmungen für den Aufschluss neuer Märkte zu bekämpfen. Ich verlange eine sachliche und nicht eine von utopistischen Vorstellungen ausgehende Kritik der Colonialpolitik.
1. „Die Vergesellschaftung des Grund und Bodens ist vor allem eine Rechtsform.“ Welcher im „Nebel der Ideologie“ tappende verwirrte Geist hat das wohl geschrieben und das Wort Rechtsform noch extra unterstrichen? Nun, kein anderer als Parvus im fünften der gegen mich gerichteten Artikel. Dieser Jupiter scheint den Metamorphosen auch nicht abhold. Hier was soll ich dazu sagen, wenn er, der so empört ist, in meinem Artikel keinen originellen Gedanken zu finden, nicht einmal im Titel originell zu sein versteht? Ed. Bernsteins Umwälzung des Socialismus! Hätte er noch gesagt: Untergrabung.
2. In Marx’ Classenkämpfen von 1848 (erschienen 1850) werden die Blanquisten noch als die proletarische Partei des damaligen Frankreich bezeichnet. Ich habe an anderer nachgewiesen, wie wenig diese Bezeichnung auf die sehr gemischte Gesellschaft zutrifft, die sich 1848 um Blanqui sammelte und diesen zur Teilnahme an Acten nötigte, die er selbst als sinnlos erkannte.
3. Vergl. die Note auf Seite 226 dieses Buches [N.Zt., XVI. 1, Seite 551].
4. Vergl. Seite 88 dieses Buchs.
5. So hält er mir u.a. vor, ich vergässe beim Verkehrswesen die Eisenbahnen und bewiese die „Unmöglichkeit der socialen Revolution“ an den Droschkenkutschern. Ich will mich über den Werth dieser Art von Polemik nicht weiter aufhalten, sachlich hat mich das Beispiel nur an die weisen Leute erinnert, die von der Einführung der Eisenbahnen den Ruin der Fuhrhalter prophezeiten. Zwischen den Eisenbahnen, die für mich schon deshalb ausser Betracht kamen, weil über ihre Fähigkeit zur Vergesellschaftung von Anfang an kein ernsthafter Streit bestand (selbst im manchesterlichen England sorgte die Gesetzgebung schon 1844 für den Heimfall der Eisenbahnen an den Staat), und den Droschkenkutschern stehen Fuhr- und Speditionsgeschäfte aller Art, von hochcapitalistischen bis zu sehr kleinbürgerlichen Unternehmen, deren Zahl die Eisenbahnen nicht vermindert, sondern vermehrt haben. Obwohl nun gerade das Verkehrswesen aus leicht begreiflichen Gründen sich noch am ehesten zur Vergesellschaftung eignet, gibt ws doch auch hier Geschäfte sehr capitalistischer Natur, bei denen es als zweifelhaft bezeichnet werden muss, ob sie ohne weiteres würden vergesellschaftet werden können; die Überführung in staatlichen oder communalen Betrieb wurde vielmehr auch hier nur schrittweise erfolgen können
6. Genossenschaften mit Monopol wären aus vielen Gründen das grössere Übel.
7. Wie Daily Chronicle vor einigen Tagen berichtete, steht die einzige Spinnerei- und Webereigenossenschaft Lancashires, die Burnley Self-Help Cotton Spinning and Manufacturing Society, im Begriff zu liquidieren. Capitalmangel ist sicherlich nicht der Grund; sie hatte zuletzt 152.000 Mark Stammcapital und 280.000 Mark Obligationencapital. Der grosse Consumverein Burnley stand hinter ihr, und ihre Kunden waren meist Consumvereine.
8. Weil die hunderttausend Handweber Deutschlands noch nicht verhungert seien, müsse nach mir die Socialdemokratie „offenbar die Hände von den grossen Spinnereien und Webereien weghalten“, höhnt Parvus. „Offenbar“ glaubt er damit einen vernichtenden Hieb gegen mich zu führen. Mir zeigt die Bemerkung nur, dass er keine Ahnung davon hat, was für eine grosse Aufgabe allein die Vergesellschaftung der grossen Spinnereien und Webereien bedeuten würde. Wie differenziert ist nicht blos die Spinnerei, das elementarste Glied der Textilindustrie. Und nun erst die Weberei — von den Industrieen der Verarbeitung der Gewebe gar nicht zu reden. In der socialen Revolution, wie Parvus sie schildert, würde das Vorhandensein von hunderttausend „noch nicht verhungerter Handweber“ das Problem jedenfalls nicht erleichtern.
9. Parvus hat wundervolle Rechenmethoden. Betriebsgruppen, die ihm nicht in den Kram passen, sagt er kurzweg bankerott und dann sind sie fort, und die „socialrevolutionare Kerntruppe“ ist um so und so viele Köpfe reicher. Keine Krisis könnte verheerender in Klein- und Mittelgewerbe aufräumen, kein Misswachs mehr Bauern „verelenden“, als unser Jupiter Ammonius mit seinem Donnerkeil. Aber der Allvater ist gerecht und verschont auch die Capitalistenclasse nicht. 80.000 capitalistische Betriebe bedeuten für ihn 80.000 Interessenten des Capitals. Dass es Actiengesellschaften und andere capitalistische Compagnien in der Industrie giebt, dass hinter vielen Grossbetrieben, selbst wenn sie nominell auf einen Namen lauten, ganze Gruppen von Interessenten stehen, kümmert ihn nicht — wollte ich in seiner Weise schreiben, müsste ich sagen, weiss er nicht. 80.000 Betriebsinhaber, das ist die ganze capitalistische Truppe, der sechs Millionen Lohnarbeiter als „socialrevolutionäre Kerntruppe“ gegenüberstehen, unterstützt durch die Mehrheit der Kleinindustriellen, die teils selbst begeisterte Revolutionäre sind, teils „uns nicht stören“, da, „was wir vornehmen, ihnen nur zu Gute kommen kann“, Parvus leitet diese Berechnungen ernsthaft mit einer Vorlesung über politische Strategie ein. In der That zeigt sie, wie man im Handumdrehen eine sociale Revolution „strategisch“ ausführen kann — auf dem Papier. (In einem Artikel, der nach dem vorstehenden erschien, holt Parvus das Versäumte nach und rechnet eine capitalistische Armee von 416.000 mit 1.200.000 Verbündeten aus, gegen 15 Millionen Lohnarbeiter und mit ihnen solidarischer Handwerker, sowie 1 Millionen vom Capital „ruinierter“ oder ihm unabhängig gegenüberstehender kleiner Leute. Selbst die Richtigkeit dieser Zahlen zugegeben, sind sie für unsere Untersuchung nebensächlich. Es handelt sich nicht darum, wie gross die „revolutionäre“ Armee ist, sondern wie entbehrlich heute die Hauptleute der Industrie sind, um mit Carlyle zu reden.)
10. Die vom Mainzer Parteitag der deutschen Socialdemokratie (September 1900) einstimmig beschlossene Resolution über die derzeitige Weltpolitik der capitalistischen Grossstaaten verwirft sie u.a., weil sie „eine allgemeine Katastrophe“ wahrscheinlich mache. [Zusatznote]
11. Auch Herr Bax hegt, wie seine Rede auf dem Londoner internationalen Congress gegen die Volksabstimmung über den Krieg gezeigt hat, eine sehr geringe Meinung von der Urteilsfähigkeit des Volkes. Sie hindert ihn aber nicht, das nach ihm urteilsunfähige Volk schleunigst per Revolution zur Herrschaft bringen zu wollen.
12. So haben z.B. die grossen Warenhäuser mehr auf die Methoden der kleinen und mittleren Geschäfte zurückgewirkt, als sie sie absorbiert haben.
Zuletzt aktualisiert am 28.1.2009