Eduard Bernstein

 

Der Kampf der Sozialdemokratie und
die Revolution der Gesellschaft

(5.–19. Januar 1898)


Eduard Bernstein, Der Kampf der Sozialdemokratie und die Revolution der Gesellschaft: 1. Polemisches, 2. Die Zusammenbruchstheorie und die Kolonialpolitik, Die neue Zeit, 16. Jg., 1 Bd. (5.–19. Januar 1898), H. 16, S. 484–497, H. 18, S. 548–557.
Transkription: Daniel Gaido.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.



1. Polemisches

In allen Ländern, wo die sozialistische Partei zu politischer Bedeutung gelangt ist, beobachten wir die gleiche Erscheinung, dass sich eine innere Wandlung in ihr vollzieht. Frühere Überschwänglichkeit in Phrase und Argumentierung werden abgestreift, die Schwärmerei für Generalisierungen lässt nach, man spekuliert nicht mehr über die Verteilung des Bärenfels nach vollendetem allgemeinen Kladderadatsch, man beschäftigt sich überhaupt nicht allzu viel mit diesem interessanten Ereignis, sondern studiert die Einzelheiten der Probleme des Tages und sucht nach Hebeln und Ansatzpunkten, auf dem Boden dieser die Entwicklung der Gesellschaft im Sinne des Sozialismus vorwärts zu treiben. Dieser Wandlungsprozess ist nicht immer ein in jeder Hinsicht bewusster und gewollter, und noch seltener ein einheitlicher. Überlieferungen aller Art, Verschiedenheiten der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung lassen ihn in den verschiedenen Ländern, Unterschiede im Temperament oder der Erkenntnis lassen ihn bei den verschiedenen Personen schneller oder langsamer, widerspruchsvoller oder folgerichtiger sich vollziehen. Aber der Grundzug ist überall derselbe, ob es sich um die deutsche oder die französische, die skandinavische oder die italienische Sozialdemokratie handelt.

Formell erscheint diese Wandlung als ein Abfall von der Reinheit des Prinzips. Es fehlt denn auch nirgends an Elementen, die sich ihr mit aller Leidenschaft widersetzen. So hatte die deutsche Sozialdemokratie Anfang der neunziger Jahre ihre „Jungen“, die tatsächlich die Alten waren, insofern sie an den alten Phrasen und Schlagworten festhielten, die bisher in der Partei teils fast dogmatische Kraft, teils mindestens guten Kurs gehabt hatten. Soviel wird man denjenigen von ihnen, bei denen es sich um doktrinäre Meinungsverschiedenheit hinsichtlich der damaligen Parteitaktik gehandelt hat, nachträglich zugestehen müssen. In der Parteiliteratur fand sich manches, dass ihre Opposition rechtfertigte. Es sei hier nur an das Rundschreiben der Zentralbehörde des Kommunistenbundes vom März 1850 erinnert, auf das sich die Redaktion einer, damals mit der Opposition gehenden Parteizeitung berief. Sie übersah – was aber auch sonst gern übersehen wurde – dass der Urheber jenes Rundschreibens zur Zeit von dessen Abfassung keineswegs schon auf der Höhe seiner sozialpolitischen Erkenntnis stand, und dass sich in den Voraussetzungen, von denen das Schreiben ausging, in der Zwischenzeit sehr erhebliches geändert hatte.

Die Voraussetzungen, auf die es bei der Bestimmung taktischer Fragen ankommt, sind zweierlei Natur. Zunächst handelt es sich da natürlich um die äußere Rückwirkung der rein tatsächlichen Verhältnisse: Die ökonomische Verfassung des betreffenden Landes, seine soziale Gliederung und seine politischen Zustände, die Natur und die Machtverhältnisse seiner Parteien. Das zweite Moment ist intellektueller Natur: Der Höhengrad der Erkenntnis des Gesellschaftszustandes, die erlangte Stufe der Einsicht in die Natur und die Entwicklungsgesetze des Gesellschaftskörpers und seiner Elemente. Beide Faktoren verändern sich und beider Änderungen wollen bei der Erörterung taktischer Fragen berücksichtigt sein. Das klingt wie ein Gemeinplatz und sollte einer sein, aber in der Wirklichkeit finden wir die Regel häufig ignoriert, und ganz besonders glauben diejenigen sie ignorieren zu können, die die volle Verwirklichung des Sozialismus von einem größeren allgemeinen Zusammenbruch erwarten, in einem solchen die fundamentale Vorbedingung für den endgültigen Sieg des Sozialismus erblicken.

Es ist kein Paradoxalsatz, sondern eine oft beobachtete Tatsache, dass der doktrinäre Revolutionarismus innerlich gerade so konservativ ist wie der Doktrinarismus der reaktionärer Ultras. Beide sträuben sich gleich hartnäckig, Entwicklungen anzuerkennen, die ihrem „Prinzip“ widersprechen. Falls die Tatsachen eine zu laute Sprache sprechen, als dass man sie rundweg bestreiten könnte, werden sie sie auf alle möglichen Zufälligkeiten zurückführen, nur nicht auf ihre wirklichen, sachgemäßen Ursachen. Ganz natürlich. Denn wo die Doktrin zur Marotte wird, – und es gibt Don Quixotes des Umsturzes, wie es solche der Legitimität gibt, – da darf ihr Bekenner nie zugeben, dass an ihren Voraussetzungen sich irgendetwas wesentliches geändert hat. Er wird für Tatsachen, die ihm unbequem sind, Gründe aus allen möglichen Ecken zusammensuchen, aber er wird eines ängstlich vermeiden; ihre wirklichen Ursachen und Zusammenhänge sachgemäß zu untersuchen.

Haben sich nun die Voraussetzungen der sozialistischen Bewegung hinlänglich geändert, um des Eingangs charakterisierte Wandlung oder Wandlungstendenz zu rechtfertigen? Es war schon längere Zeit meine Absicht, dieser Frage eine Betrachtung zu widmen, und es ist mir daher ganz recht, wenn Herr Belfort Bar mit seinem Artikel Kolonialpolitik und Chauvinismus mich zu einer Auseinandersetzung herausfordert, die in letzter Instanz auf diese Frage hinausläuft. Denn wozu Versteckens spielen? Die von Herrn Bax formell nur beiläufig erhobene Anklage gegen den Schreiber dieses, dass er einen neuen, verderblichen Geist in der Sozialdemokratie zu lehren suche, oder, wie Herr Bax es ausdrückt, „das Endziel der sozialistischen Bewegung zu Gunsten des Gedankenkreises des heutigen bürgerlichen Liberalismus und Radikalismus völlig fahren lasse“, bildet den Hauptzweck, den Kern des Baxschen Artikels, das andere ist nur die Umkleidung. Womit ich indes nicht bestritten haben will, dass es Herrn Bax auch mit der in dem Artikel enthaltenen Aufforderung zum Kampfe gegen Windmühlen – oder vielmehr gegen. Dampfmühlen – heiliger Ernst sei. Wenn aber dieser letztere, hochinteressante Kampf mit der vollen Wucht geführt werden soll, deren er bedarf, so müssen selbstverständlich erst die Personen unschädlich gemacht werden, die ihm im Wege stehen. Und das sind ganz offenbar die so empörend philisterhaften „Mäßigkeitsmeier“ vom Schlage des Schreibers dieser Zeilen.

Soweit mit Herrn Bax einig, habe ich die Leser der Neuen Zeit weiter mit der Tatsache bekannt zu machen, dass der in Nr. 14 veröffentlichte Artikel des Herrn Bax eine Vorgeschichte hat. [1] Es ist sozusagen der zweite Lanzenhieb unseres tapferen Kämpen, oder, um es moderner auszudrücken, eine Anklageschrift in der zweiten Instanz. Zu seiner vollen Würdigung ist die Kenntnis der Vorgänge in der ersten Instanz kaum entbehrlich, und man wird es mir daher verzeihen, wenn ich ihnen zunächst einige Worte widme. Sie führen in die Zeit zurück, wo sich in der Neuen Zeit die Kontroverse zwischen Bax und Kautsky über die Tragweite des historischen Materialismus für die Erklärung geschichtlicher Erscheinungen abspielte. [2]

Wie man sich erinnert, war diese Kontroverse hervorgerufen worden durch einen Artikel des Herrn Bax in der Wiener Zeit, wo in einer Fußnote die „Neumarxisten“ Kautsky, Mehring und Plekhanov wegen der – nach Bax – von ihnen geübten höchst einseitigen Auslegung der Marxschen Doktrin der verdienten Missachtung preisgegeben wurden. [3] Von Kautsky gestellt, ließ sich Bax herbei, seine These in der Neuen Zeit zu beweisen, und – nun, es wird besser sein, mich jeden Urteils zu enthalten und nur die eine Tatsache sprechen zu lassen, dass Bax in seiner Schlußreplik Kautsky gegenüber, hinsichtlich ihrer Wertung des ökonomischen Moments, die Entdeckung machte, „dass unsere Anschauungsweisen gar nicht so weit auseinanderstehen“. Es wird nach dieser Erklärung die Leser der Neuen Zeit einigermaßen seltsam, wenn auch, angesichts früherer Erfahrungen, nicht gerade überraschend angemutet haben, Herrn Bax in seinem neuesten Artikel gelassen von Kautsky sagen zu hören: „Einem so hartgebackenen materialistischen Geschichtsauffasser wird alles Sentimentalität, das nicht direkt (!) aus ökonomischen Gründen im engeren Sinne hergeleitet wird.“ (Siehe Nr. 14.) [4] Soweit es sich bei der Polemik darum gehandelt hatte, Herrn Bax Verständnis und richtige Würdigung des Kautskyschen Standpunktes beizubringen, war sie, wie das Sprichwort geht, für die Katz!

Es heißt von den Katzen, dass sie immer auf die Pfoten fallen. Aber das ist ein Märchen. Gar mancher Kater Murr hat die Probe auf die Richtigkeit des Wortes mit seinen Leben gebüßt. Herr Bar hat es besser. Und wenn alle seine Gründe zu Boden fallen, er selbst wird unverletzt aus der Schlacht hervorgehen – unbezwungen wie jene Weiber, von denen der Dichter sagt, dass sie beständig

„Zurück nur kommen auf ihr erstes Wort,
Wenn man Vernunft gepredigt Stunden lang“. [5]

In Folge dessen jede Polemik mit Bax seine Gegner schließlich zu einer Kennzeichnung seiner polemischen Gewohnheiten zwingt.

* * *

Und nun erlaube man uns einen Auszug aus den Akten
Barbarenritter Bax kontra Zivilisationsphilister Bernstein

Ende 1896 veröffentlichte ich in der Neuen Zeit einen Artikel über die Stellung der Sozialdemokratie zu den türkischen Wirren (XV, 1, S. 108 ff). [6] Angesichts der widerspruchsvollen Haltung verschiedener sozialistischer Blätter zu dieser Frage entwickelte ich Eingangs des Artikels einige leitende Gedanken, die als Maßstab für die Beurteilung dieser und ähnlicher Fragen zu dienen hätten. Sie lassen sich kurz dahin zusammenfassen, dass nicht jede Erhebung einer Nationalität oder eines Volksstamms gegen ihre Beherrscher schlechtweg Anspruch auf die moralische oder aktive Unterstützung der Sozialdemokratie habe. Bei aller berechtigten Sympathie mit Freiheitskämpfen müsse die Sozialdemokratie doch auf das Interesse der allgemeinen Entwicklung und des Kulturfortschritts Rücksicht nehmen. So dass Aufstände von Stämmen, die sich das Recht anmaßten, Sklavenhandel zu treiben, oder von Räuberstämmen, die aus Überfällen gegen benachbarte Ackerbaustämme ein ständiges Gewerbe machten, die Sozialdemokratie kühl lassen, ja, gegebenen Falls selbst zu Gegnern haben würden. „Wir erkennen kein Recht auf Raub, kein Recht der Jagd gegen den Ackerbau an. Mit einem Worte, so kritisch wir der erreichten Kultur gegenüberstehen, so erkennen wir doch ihre relativen Errungenschaften an und machen sie zum Kriterium unserer Parteinahme“. (a. a. O., S. 109. [7]

Alles das war durchaus nicht neu, und in ähnlicher Form schon von vielen Sozialisten ausgesprochen worden, so dass ich mich zu der Bemerkung berechtigt glaubte, bis soweit würden meine Ausführungen wohl nirgends in der Partei auf Widerspruch stoßen.

Wie naiv man doch trotz aller Erfahrungen manchmal ist. Der Artikel erregte den Widerspruch und den höchsten Zorn des Herrn Belfort Bax. In einem fulminanten Artikel in der Londoner Justice warf mir Bax „Philisterhaftigkeit“ vor, weil ich mich soweit vergessen hatte, von Kultur zu sprechen, und bezichtigte er mich im Weiteren des konzentrierten Hochverrats am revolutionären Sozialismus – nämlich des Fabianertums – wobei er meine Ausführungen in seiner Manier kolorierte, das heißt mich ähnliches Zeug sagen ließ, wie jetzt am Eingang seiner Anklageschrift für die zweite Instanz. [8] Indes die verbrecherische Tat war noch zu frisch, die betreffende Nummer der Neuen Zeit in zu vielen Händen, und so war unser kühner Recke, der den südländischen Romantizismus des edlen Ritters von der trübseligen Erscheinung mit dem gewitzten Realismus des braven Sir John „synthetisch“ vereinigt, immerhin vorsichtig genug hinzuzufügen: „Bernstein muss sehr gut wissen, dass das Vorstehende“ – die Baxsche kolorierte Lesart – „der einzige praktische Sinn ist, den seine Ausführungen haben können“ (Justice, 7. Nov. 1896). [9] Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich das nicht nur nicht „sehr gut“, sondern sehr schlecht, nämlich gar nicht gewusst hatte.

Ich setzte mich also hin und schrieb eine Antwort, worin ich an der Hand von Zitaten aus Marx und Engels, und unter Bezugnahme auf eine Stelle von Lassalle in dessen Schrift Der italienische Krieg den Nachweis führte, dass die Genannten zu der Frage, um die es sich handelte, keinen prinzipiell anderen Standpunkt eingenommen hätten wie den von mir entwickelten. Ich brauche die Zitate hier nicht zu widerholen, möchte aber auf die, seitdem von Mehring in seiner Geschichte der deutschen Sozialdemokratie (Bd. I, S. 374) angeführten Stellen aus der Neuen Rheinischen Zeitung über die Schleswig-Holsteinische Frage hinweisen, wo Deutschlands Recht gegen Dänemark für „das Recht der Zivilisation gegen die Barbarei, des Fortschritts gegen die Stabilität”, der Skandinavismus aber als die Begeisterung für die „brutale, schmutzige, seeräuberische, altnordische Nationalität“ – als „Begeisterung für eine Innerlichkeit“ erklärt werden, deren Äußerungen in „Rohheit gegen Frauenzimmer, permanenter Betrunkenheit und mit tränenreicher Sentimentalität abwechselnder Berserkerwut“ bestünden. [10] (Es versteht sich von selbst, dass diese Worte nicht gegen die skandinavischen Völker schlechtweg gerichtet waren, sondern gegen die zeitwidrige Verherrlichung gerade des rückständigen Elements, das ihr nationales Leben damals beherrschte. E. B.) Gegen diesen rückständigen Geist und seine pseudoromantischen Verteidiger rief die Neue Rheinische Zeitung das Recht der Zivilisation und des Fortschritts auf. Man wird mir zugestehen, dass ich mich nicht mit Unrecht auf ihre Leiter berief. Beiläufig setzte ich hinzu:

„Aber es überrascht mich nicht wenig, zu sehen, wie eben derselbe Bax, der nur erst vor wenigen Wochen in der fabianischen Wiener Zeit so scharf gegen die angeblich zu engherziger Anwendung des historischen Materialismus von Seiten einiger Marxisten loszog, plötzlich in der Justice die engherzigste, gröbst- materialistische Auffassung des Kampfes der Sozialdemokratie predigt. Die moderne Zivilisation ‚einen Fluch und ein Uebel an sich‘ zu nennen; all und jedes nationale Gefühl für ‚Betrug‘ erklären; Mottos wie ‚lieber Sklaverei als Kapitalismus‘ ausgeben, das ist das Non plus ultra des Materialismus. Es bedeutet die Leugnung aller ideologischen Errungenschaften der modernen Zivilisation, aller Entwicklung der ethischen Begriffe.” [11]

Im gleichen Artikel bemerkte ich zu der von Bax ausgegebenen Idee, dass die Sozialdemokratie in Hinblick auf den vermeintlich nahen bevorstehenden Zusammenbruch der bürgerlichen Zivilisation alles aufbieten müsse, deren geographische Ausbreitung zu verhindern:

„Was Bax empfiehlt, ist reine Vergeudung von Zeit und Kraft. Sein Vorschlag, den Wilden gegen die vorrückende Zivilisation beizustehen, würde, wenn ausführbar, was es allerdings nicht ist, nur den Kampf verlängern, ihn aber nicht verhindern. Bax trat vor einiger Zeit [in der Justice. Ed. B.] dafür ein, den Wilden Feuerwaffen zu liefern, um ihre Widerstandskraft zu stärken. Aber er vergisst, dass wer Feuerwaffen braucht, von Zeit zu Zeit neues Pulver oder Patronen braucht, und diese Dinge wachsen bis jetzt noch nicht wild. Um sie zu beschaffen, muss der Wilde zum – Händler gehen, und einmal im Verkehr mit ihm, ist er unwiderstehlich in den Bannkreis derselben kommerziellen Einflüsse gezogen, vor dem ihn die Feuerwaffen bewahren sollten. Bax’ Vorschlag dreht sich wie seine Logik um den eigenen Schwanz. Der heuchlerische und wer weiß was noch Nonkonformist ist wenigstens logischer, wenn er dafür eintritt, dass man den Verkauf von Feuerwasser (Branntwein) an die Wilden verbiete.“ [12]

Natürlich war es mit einmal Rede und Gegenrede nicht getan. Herr Bax nahm ein zweites Mal das Wort, warf mir Unbestimmtheit in meiner Antwort vor und nötigte mich damit zu einer zweiten Einsendung. Ich entnehme ihr folgende, auf den vorliegenden Streitpunkt bezügliche Stelle:

„Er (Bax) zitiert die Britische Gesellschaft für den Schutz der Eingeborenen [Aborigines’: Protection Society]. Wenn ich über sie recht unterrichtet bin, so habe ich große Sympathie mit ihren Bestrebungen. Ich will die Eingeborenen Afrikas oder irgendeines anderen Kontinents durchaus nicht übervorteilt oder abgeschlachtet sehen, und ebenso wenig bin ich dafür, dass man ihnen Lebensweisen aufzwingt, für die ihr Klima ich nicht eignet. Wenn ich das Recht der höheren Zivilisation über die niedere betont habe und noch betone – und es ist mir unverständlich, wie ein Sozialist es leugnen kann – so heißt das nicht, dass die letztere überhaupt keine Rechte habe, und dass die Rechte der ersteren keine Pflichten auferlegen. Gerade von meinem Standpunkt aus ist eine humane Regelung der Frage der Eingeborenen möglich, während bei Bax alles von der Laune und dem vermeintlichen Interesse des Augenblicks abhängt. – Ist Bax wirklich nicht in der Lage, zwischen Urwüchsiger Sklaverei und Sklavenhandel zu unterscheiden? Glaubt er wirklich noch an das Märchen von der guten Ernährung und guten Behandlung des Sklaven, der nur als Sache gilt?“ [13]

* * *

Soviel von der ersten Instanz. Man wird zugestehen, dass wenn mein angefochtener Artikel – etwa in Folge nicht hinreichender Genauigkeit der Ausdrucksweise – wirklich die Auslegung zuließ, die Bar ihm in der Justice gab, nach den vorstehenden Erläuterungen dieses Missverständnis ausgeschlossen war. Und man wird daher eine Kampfesweise beurteilen können, die nach allen diesen Auseinandersetzungen jetzt, in der zweiten Instanz, unverblüfft und ohne jedes Bedenken anhebt:

„Vor einigen Monaten hat Eduard Bernstein in der Neuen Zeit der Meinung Ausdruck gegeben, als wenn die unumschränkte Ausdehnung der sogenannten modernen Kultur, mit anderen Worten, der heutigen kapitalistischen Wirtschaft mit Allem, was damit verbunden ist, an und für sich ein Vorteil für wilde und barbarische Völker sei.“ [14]

Es ist, „als wenn“ – nein, ich will den Vergleich unterdrücken.

Dagegen sei Herrn Belfort-Bax, der sich mit seiner „synthetischen Gechichtsauffassung“ so sehr über den „extremen Materialismus“ der „Neumarxisten“ erhaben dünkt, die kleine Tatsache entgegengehalten, dass die moderne Kultur zwar der kapitalistischen Wirtschaft sehr viel verdankt, aber sich darum durchaus nicht in ihr erschöpft. Vor allen Dingen gehört zu den Errungenschaften dieser Kultur eine Wertschätzung der Rechte der Persönlichkeit, des menschlichen Lebens, die, in der allgemeinen Anwendung und weiten Auffassung, die sie heute haben, keiner früheren Kultur bekannt waren. Wenn das Herrn Bax eine so gleichgültige Sache dünkt, dass er sie, wo von moderner Kultur die Rede ist, einfach übergeht, so muss ich nur fragen, warum und wofür Herr Bax denn überhaupt Sozialist ist? Vorausgesetzt, dass es wirklich der moderne Proletarier ist, um dessentwillen er beim bloßen Gedanken an Fabrikschornsteine in ästhetische Krämpfe verfällt, so handelt es sich doch im Sozialismus nicht bloß um bessere Fütterung desselben. Es gibt genug Fabrikanten, die sich das leibliche Wohl ihrer Arbeiter, wie sie es verstehen, sehr am Herzen liegen lassen und allerhand kostspielige Einrichtungen dafür ins Werk sehen, Wenn Herr Bar konsequent wäre, müsste er sie wenigstens ebenso hochstellen wie seine geliebten marokkanischen Paschas, denen er um ihre Feindschaft gegen Landstraßen willen alle gegen Sklaven verübten Grausamkeiten und gegen das übrige Volk verübten Erpressungen großmütig verzeiht. [15]

Das marokkanische Idyll, das Herr Bax uns vorführt, ist reizend genug; man könnte selbst fast Lust bekommen, in dieses glückselige Marokko auszuwandern, wären nicht so einige kleine Aber da. Da sind zunächst ewige Aufstände im Innern des Landes, gegen die zwar mit der blutigsten Grausamkeit vorgegangen wird – erst jüngst wieder schmückten fünfzig Rebellenköpfe die Mauern der Hauptstadt (vergl. Times, Wochenausgabe vom 26. November 1898) – oder die mit der Flucht ganzer Stämme nach Algerien enden. So flüchteten im Sommer dieses Jahres 700 Mitglieder des Sekhera-Stammes aus dem marokkanischen Paradies nach Algerien und baten, dass man ihnen die Ansiedlung unter dem Joch europäischer Verwaltung erlaube. Zur Zeit bereist der englische Sozialist Cunninghame Graham Marokko. Graham, der selbst ein halber Südländer ist – seine Mutter ist eine Spanierin – und der sich sehr zu den halb-zivilisierten Völkern hingezogen fühlt, wurde bei dem Versuch, über den Atlas in die Provinz Sous vorzudringen, auf Befehl des Gouverneurs der Provinz verhaftet, tagelang unter allerhand Vorwänden in strenger Bewachung gehalten und schließlich mit der Bedingung, sofort umzukehren, freigegeben. Sous ist nämlich einer der Jagdgründe auf Sklavenwild. In einem humoristisch gehaltenen Briefe des Daily Chronicle schildert Graham die landschaftliche Szenerie vor seinem Zelte und fährt dann fort wie folgt: „Pferde und Maulesel werden von Negersklaven zur Tränke geführt, Gefangene in Ketten klirren hinterdrein, Trupps von Dienstmannschaften, mit sechs Fuß langen Gewehren bewaffnet, schlendern unter dem Vorwand, den Platz zu bewachen, sorglos umher – wahrhaftig, ein auf den Feudalismus aufgepfropftes Arkadien oder der in Arkadien getauchte Feudalismus." [16] Wie malerisch immer die Szenerie sein mag, das Treiben der Menschen in diesem Arkadien hat wenig Verführerisches an sich. Jedenfalls aber jeher. wir die marokkanische Wirtschaft auf Feudalismus und Sklaverei begründet, und dies allein genügte, alles, was Herr Bax über das Wohlbefinden der Arbeiter in Marokko erzählt, verdächtig erscheinen zu lassen.

Es ist sehr wohl möglich, dass einzelne, in den Städten zunftmäßig ausgeübte Gewerbe, wie etwa die Fabrikation des marokkanischen Leders, ihren Arbeitern eine auskömmliche Existenz gewähren. In der feudalen Gesellschaft ist der zünftige Geselle der besseren Gewerbe überall ein Aristokrat der Arbeit gewesen. Aber dass der Durchschnittslohn des marokkanischen Arbeiters gleich 25 Liter Weizen pro Tag sei, dafür muss uns Herr Bax etwas mehr bringen als bloße Behauptungen, wenn wir ihm das glauben sollen. Er erzählt uns zum Beispiel, dass in Marokko die Getreideausfuhr verboten sei, durch welch segensreiches Verbot die Lebensmittel billig und die kapitalistischen Grundbesitzer aus dem Lande gehalten würden. Nun hat zunächst Marokko, wie Herr Bax aus jeder Handelsstatistik erfahren kann, seine Lebensmittelausfuhr. An Mais – das doch auch zum Getreide gehört – wurde 1888 (die letzte mir vorliegende amtliche Zahl) für 3 Millionen Mark, an Hülsenfrüchten für 7½ Millionen Mark ausgeführt. Dazu andere Arten Früchte, Rindvieh, Geflügel, Eier etc. Von einem Verbot der Ausfuhr von Weizen ist mir nichts bekannt, ich weiß nur von einem, allerdings hohen Ausfuhrzoll. Aber, ob direktes Verbot oder prohibitiver Zoll, so gehört doch ein Wunderglaube sondergleichen dazu, in solcher veralteten Wirtschaftspolitik wirkliche Fürsorge für das Wohl des Volkes zu erblicken. Im besten Falle wäre sie ein Pendant zu der Politik des Verzichts auf Landstraßen, die beiläufig noch im vorigen Jahrhundert auch bei zopfigen europäischen Regierungen ihre Anwälte fand. Friedrich II. von Preußen z. B. erklärte sich gegen den Ausbau der Landstraßen, weil sonst die Fremden, die das Land passierten, zu schnell vorwärtskämen und so zu wenig Geld im Lande verzehrten! In Marokko handelt es sich offenbar darum, das despotisch-feudale Regierungssystem des Sultans sicherzustellen, und wahrscheinlich wird für diesen Zweck die Abtrennung der Bevölkerungszentren voneinander für politischer erachtet. Denn welche Wohlfahrtsrücksicht es wünschbar macht, keine Landstraßen zu haben, ist bis auf Weiteres noch Baxsches Geheimnis.

Es ist an Marokko nichts, absolut gar nichts zu bewundern. Einfache Sitten [17] und relativer Wohlstand einzelner Volksklassen find durchaus nicht an Verkehrshemmmisse, Paschawillkür und Sklaverei gebunden, man findet sie auch anderwärts vor, wo diese schöne Dreieinigkeit fehlt. Herr Bax tut so, als ob Abwesenheit von Kapitalismus schon Abwesenheit von Noth und Ausbeutung bedeute, und als ob der Handelsverkehr notwendigerweise die Völker verelende. Solche Einbildungen entziehen sich jeder ernsthaften Diskussion. Andererseits scheint Bax nicht zu wissen, dass der Kapitalismus selbst seine Entwicklungsgeschichte hat und zu verschiedenen Zeiten verschieden aussieht, dass er unter dem Druck moderner demokratischer Einrichtungen und der ihnen entsprechenden gesellschaftlichen Pflichtbegriffe ein anderes Gesicht annehmen muss, als solange der Besitz auch die politische Herrschaft monopolisierter.

Dass bei dem heutigen Stande der öffentlichen Meinung in Europa die Unterstellung von Eingeborenen unter die Oberhoheit europäischer Verwaltungen durchaus nicht immer mit Verschlechterung der Lage derselben verbunden ist, sondern oft das Gegenteil bedeutet, dafür liegen eine ganze Anzahl unverdächtiger Zeugnisse vor. Mit wie viel Gewalt, Betrug und sonstigen Nichtswürdigkeiten auch die Ausbreitung der europäischen Herrschaft in früheren Jahrhunderten verbunden war und selbst heute oft noch ist, so steht dieser Kehrseite des Bildes doch die andere gegenüber, dass die Wilden heute unter daheim kontrollierter europäischer Herrschaft durchgängig besser daran sind als vorher. Grausame Kriege, Raub und Sklaverei sind auch vor der Ankunft der Europäer in Afrika nicht unbekannt gewesen, sie waren vielmehr beständig auf der Tagesordnung. Was aber unbekannt war, das waren Friede und Rechtsschutz in dem Umfang, wie die europäischen Einrichtungen sie ermöglichen, und die damit verbundene gewaltige Steigerung der Ernährungsmöglichkeiten. Ich habe seinerzeit an dieser Stelle einen bitter antienglischen Artikel der Grenzboten zitiert, wo – dort halb vorwurfsvoll – konstatiert wurde, dass sich unter dem Schutze britischer Herrschaft die Negerbevölkerung des Schiragebiets – zwischen dem Nyassa-See und dem Sambesi – binnen wenigen Jahren verzehnfacht habe (vergl. Neue Zeit XIV, 1, S. 485, und Grenzboten vom 4. Juli 1895. [18] Die Neger haben nämlich die Baxschen Schriften noch nicht gelesen und ziehen in ihrer Philisterhaftigkeit das Leben im englischen Schutzgebiet dem Leben in jenen paradiesischen Gefilden Afrikas vor, wo die Sklavenjagden dem Dasein erst den höheren Reiz verleihen. Ähnlich anderwärts. Wenn im Gebiet der Vereinigten Staaten heute circa 60 Millionen Menschen – und die große Mehrheit davon anständig – leben und für weitere Millionen Menschen Lebensmittel ausführen, wo einst einige Hunderttausende von Indianern beständige Kämpfe unter sich ob der Jagdgründe führten, so mag das Romantikern bedauerlich vorkommen, wir finden trotz der Schattenseiten des heutigen amerikanischen Lebens darin kein „Uebel an sich“. Was auch früher an den Indianern verbrochen worden, heute schützt man ihre Rechte, und es ist bekannt, dass ihre Zahl nicht mehr zurückgeht, sondern von Neuem wächst.

Bin ich, indem ich das anerkenne, ein „Lobhudler“ der Gegenwart? Nun, so verweise ich Bax auf das Kommunistische Manifest, das. mit einer „Lobhudelei“ der Bourgeoisie einsetzt, wie sie kein Soldschreiber derselben eindrucksvoller hätte schreiben können. In den fünfzig Jahren, seit das Manifest geschrieben worden, ist aber die Welt nicht zurückgegangen, sondern vorwärtsgeschritten, die Revolutionen, die sich seitdem im öffentlichen Leben vollzogen haben, das Aufkommen der modernen Demokratie, haben die gesellschaftliche Pflichtenlehre nicht unbeeinflusst gelassen.

Ein Beispiel, wie der Maßstab, wonach die Fragen hinsichtlich der Rechte der Eingeborenen beurteilt werden, sich fortschreitend hebt, liefert die gegenwärtige Agitation gegen den Beschluss der Kapregierung, gefangene Bechuanarebellen unter bestimmten Vorschriften an Farmer in fünfjährige Hörigkeit zu verdingen. Man kann bestreiten, dass die betreffenden Bechuanas überhaupt Rebellen genannt werden dürfen, beziehungsweise dass sie überhaupt strafwürdig waren, man kann auch an den Einzelheiten der betreffenden Vorschriften sehr viel aussetzen. Aber sicher sind fünf Jahre Zwangsarbeit immer noch milder als Er: schießen und auch weniger als die lebenslängliche Sklaverei, an die nach Var die Eingeborenen „gewöhnt sind“, wie nach dem Spruche der berühmten Köchin die Aale seit Urzeiten daran gewöhnt sind, lebendig geschunden zu werden. Noch im sechzehnten Jahrhundert erschien in England einem Thomas More ein derartiges zeitweiliges Zwangsarbeitssystem als eine ideale Strafrechtsreform, heute erscheint sie als abnormer Rückfall.

Herr Bax meint sehr viel zu sagen, wenn er gegen meinen Ausspruch, dass die Sozialdemokratie vornehmlich die Art zu kritisieren habe, wie die Wilden unterworfen würden, höhnisch bemerkt, solches Kritisieren sei „schließlich sehr nebensächlich“. [19] Das kommt indes sehr darauf an. Je nachdem wie und von wem die Kritik ausgeübt wird, ist sie nebensächlich oder nicht. Die Kritik, die zum Beispiel die Sozialdemokratie im deutschen Reichstag an Maßnahmen in Deutsch-Ostafrika gibt hat, ist durchaus nicht nebensächlich geblieben, wie unter Anderes ein gewisser Dr. Peters Herrn Bax erzählen kann. Um auf die öffentliche Meinung bestimmend wirken zu können, muss man freilich in der Lage sein, von ihr ernst genommen zu werden.

Unter dem Druck der Öffentlichen Meinung Englands hat sich die Britische Südafrika-Gesellschaft seinerzeit veranlasst gefunden, au die besiegten Matabeles von dem eroberten Herdenbestand Lobengulas die Hälfte, nämlich 40 000 Stück Rindvieh, auszuteilen. Damit wäre denselben, wenn nicht die Rinderpest kam, jedenfalls besser gedient gewesen, als mit den ihnen von Bax zugedachten Maximkanonen.

Die Drohung mit der Verenglisierung der ganzen Welt, die Herr Bax auf der Suche nach Argumenten dem Arsenal der deutschen Kolonialchauvinisten entnimmt und so geschmackvoll mit gemäßigt antisemitischen Redensarten versetzt, ist schon aus dem Grunde hinfällig, dass es sich heute bei der Kolonialfrage gar nicht mehr um Englands Vorrücken allein oder auch nur vorwiegend handelt. Frankreich und Deutschland auf der einen und Russland auf der anderen Seite tun heute ihr Möglichstes, England die Wege zu verlegen. Wenn sich aus dem Baxschen Gerede irgendein praktischer Schluss ziehen ließe, so wäre es der, dass die deutsche Sozialdemokratie die deutschen Kolonialchauvinisten in jeder Weise zu unterstützen hätte. Denn mit aller gebührenden Achtung vor den guten Absichten des Herrn Bax und seiner Freunde (übrigens bezweifle ich sehr, dass z. B. Herr Hyndman die Baxsche Idiosynkrasie gegen das Angelsachsentum teilt), wird man wohl einige Zweifel an ihrer Fähigkeit der Umsetzung des Willens in die Tat hegen dürfen. Die Herren von der Deutschen Ostafrika-Gesellschaft geben in diesem Punkte mehr Garantien. [20]

Indem verhält es sich mit den Behauptungen des Herrn Bax über das unwiderstehliche Assimilieren anderer Nationalitäten durch die Angelsachsen wie mit seinen meisten Angaben; sie halten die Probe nicht aus. Dass die Engländer Angehörige anderer Völker, die unter ihnen in der Zerstreuung leben oder kein starkes eigenes nationales Leben haben oder hatten, in großer Zahl assimiliert haben, ist eine altbekannte Tatsache. Aber damit ist es auch mit der spezifisch angelsächsischen Assimilationskraft zu Ende. Die Deutschen haben sich früher bei Franzosen ebenso schnell assimiliert wie bei Angelsachsen. Umgekehrt leben noch heute im ureigenen Gebiet des Vereinigten Königreichs Hunderttausende von Kelten, die trotz Jahrhunderte alter Unterwerfung durch Angelsachsen noch nicht angelsächsisch assimiliert sind, sondern ihre eigene Sprache sprechen und in dieser ihre Literatur pflegen (die Mehrheit der Bevölkerung von Wales). So sind auch die Franzosen in Kanada bis jetzt wenigstens noch nicht anglisiert, und ebenso wenig sind es die Franzosen auf Mauritius. In Britisch-Südafrika haben die holländischen Bürger und Bauern ihre Nationalität fast ungeschwächt erhalten, und in den Vereinigten Staaten sind ganze Landstriche noch heute skandinavisch. Auch die Deutschen haben sich dort noch sehr ansehnliche Kolonien erhalten, wo sie ihr Volkstum pflegen. Kurz, die Gefahr der Verengländerung der Welt ist durchaus nicht so groß, dass Herr Bax es nötig hätte, als Knackfuß II die Völker Europas zur Wahrung ihrer heiligsten Güter gegen diesen Alb aufzurufen. [21]

In einem Falle freilich ist den Angelsachsen das Assimilieren in hohem Grad gelungen. Seine normannischen Eroberer hat dieses lebenskräftige Volk sich völlig national untergeordnet. Das mag für Leute, die da glauben, dass Normannenblut in ihren Adern rolle, ein peinlicher Gedanke sein, für gewöhnliche Sterbliche hat er eher etwas Erhebendes. Das Aufgebot gegen das Angelsachsentum hat heute eine sehr reaktionäre Seite: hinter ihm steckt meist die Abneigung gegen den Unabhängigkeitssinn und die freien Einrichtungen der angelsächischen Völker. Oder aber es Handelt sich um reine Zänkerei der Kolonienjäger untereinander, und da werden Sozialisten sich in ihrer Stellungnahme erst geht nicht von solchen Schlagworten beeinflussen, sondern lediglich die Rücksicht auf den Weltfrieden obwalten lassen. Wir überlassen also die Knackfußiade des Herrn Bax den deutschen, französischen etc. Englandfressern zum beliebigen Gebrauch und wenden uns zu der Behauptung, jede Kolonialpolitik müsse von den Sozialisten mit aller Energie bekämpft werden, weil sonst der in Bälde zu erwartende Zusammenbruch der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung schädlicher Weise entsprechend verzögert würde.

Damit sind wir aber an einem Punkt angelangt, wo wir es nicht mehr mit spezifisch Baxschen Spekulationen und Visionen [22] zu tun haben, sondern mit einer in sozialistischen Kreisen ziemlich weit verbreiteten Anschauung. Wir wollen uns daher mit ihr in einem besonderen Artikel beschäftigen. Ehe wir aber von Herrn Bax Abschied nehmen, noch eine Bemerkung.

Herr Bax gibt deutlich zu verstehen und hat es anderwärts auch ausgesprochen, dass ich für ihn aufgehört habe, Sozialdemokrat zu sein. Meine Artikel, schreibt er, könnten so gut wie in der Neuen Zeit, oder auch besser, im Daily Chronicle oder der Vossischen Zeitung stehen. Der Vorwurf macht sich etwas komisch von Seiten eines Mannes, der mir zuerst gezeigt hat, wie man als revolutionärer Sozialist für alle möglichen bürgerlichen Blätter schreibt und der, wenn ich nicht falsch unterrichtet bin, noch heute Mitarbeiter des Daily Chronicle ist. Aber Herr Bax wird antworten, das Letztere sei ganz etwas Anderes, es handle sich hier nur um die für Sozialisten bestimmten, sozialistische Fragen behandelnden Artikel. Da fehle es an dem nötigen spezifisch sozialdemokratischen Element. Die „Mäßigkeitsmeier“, schreibt er, „verleugnen den Standpunkt der Partei, und das nennen die Herren Vernunft und Mäßigkeit.“ Wollte ich in der Weise des Herrn Bax polemisieren, so würde ich darauf erwidern, nach seiner Ansicht heiße also Vernunft und Mäßigkeit walten lassen – den Standpunkt der Partei verleugnen. Und ich würde mich in diesem Falle nicht einmal allzu weit von dem entfernen, was tatsächlich hinter seinem Vorwurf steckt. Nach ihm sollte ich meine Kritik vollständig von der Rücksicht auf den zu beschleunigenden großen Krach abhängig machen, aus dem der Sozialismus notwendigerweise als Sieger hervorgehen werde. Der andere Krimskrams sei Nebensache. Je schneller der große Krach herbeigeführt würde, umso schneller sei auch der Sozialismus da. Ich gestehe, dass ich in dieser Auffassung weder Vernunft noch Mäßigkeit entdecken kann, sondern nur eine unbewiesene Annahme. Für mich gehört zu den Vorbedingungen des „sozialistischen Endziels“ etwas mehr als eine verallgemeinerte Geschäftsstockung. Aber mein Sozialismus ist eben nach Bax nicht mehr waschecht.

Diesem Vorwurf gegenüber wird es erlaubt sein, uns den Sozialismus des Herrn Bax selbst etwas genauer anzusehen. Den sichersten Prüfstein für solche Untersuchung geben die Fragen des öffentlichen Lebens ab, mit denen sich der vermeintliche Sozialist vorwiegend beschäftigt. Welches sind nun die Sorgen des Herrn Bax in dieser Hinsicht? Da begegnet uns in seinen Veröffentlichungen zunächst in unzähligen Variationen die Klage, dass in der angelsächsischen Welt – was dieselbe allerdings in den Augen jedes rechten Mannes verurteilen muss – die Frauen eine privilegierte Klasse seien. Dann sehen wir Herrn Bax nach dem Züricher Arbeiterschutzkongress in großer Angst, das englische Publikum könne den in Zürich gefassten Beschluss gegen die Sonntagsarbeit mit einer Bewegung zu Gunsten der „Schrecken des britischen Sonntags“ verwechseln (Brief an das Daily Chronicle). Neuerdings hat sich dazu noch ein arger Verdruss darüber gesellt, dass eine große Anzahl britischer Sozialisten (und nicht bloß Fabianer) sich zur Frage der Abschaffung der monarchischen Regierungsform völlig gleichgültig, wo nicht ablehnend verhalten. Und schließlich ist Herrn Bax die Haltung vieler Sozialisten in der Frage der Religion nicht aggressiv genug, ist nach ihm „das, was die Deutschen ‚Kulturkampf‘ nennen, durchaus nicht überlebt“ (vergleiche über die letzteren beiden Punkte seinen Brief au Reynolds Newspaper vom 21. November 1897).

Nun, was sind das alles für Dinge? In der Frauenfrage zeigt Herr Bax Mücken und verschluckt er Kamele; er jammert über den Schutz, den das Gesetz den Frauen als den sozial und rechtlich Schwächeren gewährt, und sieht die Zurücksetzungen nicht, die die Frauen dafür in den Kauf nehmen müssen. Die „Schrecken der britischen Sonntagsruhe“ sind zu neun Zehnteln bloß Schrecken für eine Minderheit gelangweilter Bourgeois. Die große Masse gerade der fortschrittlich gesinnten Arbeiter Englands sind ebenso wie die Masse des Bürgertums durchaus nicht geneigt, am Charakter des Sonntags als allgemeinen Ruhetags Wesentliches zu ändern. Die Bekämpfung der monarchischen Regierungsform wäre im gegenwärtigen England schlimmer wie Zeitvergeudung. Denn zu dem Aufwand an Zeit, den die republikanische Agitation an sich er forderte, käme noch hinzu, dass selbst oder gerade, wenn sie Erfolg hätte, die nächste Wirkung die wäre, dass ein großer Theil des öffentlichen Interesses immer wieder auf rein nebensächliche Personenfragen und Ränkespiel aller Art hin, und von wirklich wichtigen Gesetzgebungs- und Verwaltungsfragen abgebracht würde. Der heutige Monarchismus ist in England keiner Reform im Wege, die das Volk ernsthaft will. Und was schließlich das Sehnen nach einem „Kulturkampf“ gegen die Religion, dass „Écrasez l’infâme“ [23], zu einer Zeit anbetrifft, wo in Europa keine der großen Kirchengemeinschaften der Verbreitung der Naturerkenntnis im Wege Steht, so liegt dessen – milde ausgedrückt – Zweckwidrigkeit so klar auf der Hand, dass jedes Wort darüber überflüssig erscheint. Alle wirklich reaktionären Tendenzen der verschiedenen Kirchengemeinschaften können heute auf dem allgemeinen Gebiet der sozialpolitischen Gesetzgebung wirksam bekämpft, durch Ausbau der Schule und Demokratisierung des öffentlichen Unterstützungswesens erfolgreich neutralisiert werden, und unter diesen Umständen in den vorgeschrittenen Ländern einen „Kulturkampf“ gegen die Religionen ins Werk sehen wollen, dazu muss man wirklich im Sultan von Marokko seinen Bundesbruder übersehen.

Kurz, im allerbesten Falle sind es reine Nebensachen, die das sozialistische Gemüt des Herrn Bax in Bewegung setzen. Theils politische oder metaphysische Spielereien, teils reine Phantasmagorien. Wollen wir uns bei englischen Sozialisten über die bedeutungsvollen Fragen der Sozialgesetzgebung und Verwaltungspolitik des modernen Englands informieren, dann müssen wir uns schon an die Literatur solcher Philister wie die Fabianer wenden; in den Schriften des Herrn Bax finden wir darüber keine Auskunft. Dafür begegnen wir dort so seinen ausgeklügelten Vorschlägen, wie zum Beispiel „Aufhebung der Einklagbarkeit von Kontrakten“, deren utopistischer Charakter ins Gesicht springt. Ich will Herrn Bax nicht auf das Gebiet der Geisterbeschwörung folgen, zumal wirklich kein Friedrich Engels nötig ist, um aufzuzeigen, welcher Höhegrad sozialpolitischer Erkenntnis aus solchen Rezepten spricht. Bei genauer Betrachtung finden wir, dass der Sozialismus des Herrn Bax sehr bekannte Züge trägt. Überspannter Hass gegen das Christentum und die Religion überhaupt, Übertreibung der Wichtigkeit der Regierungsform, Spekulation auf einen großen Krach, der womöglich mit einem Schwung ins gelobte sozialistische Land hinüberführt, das sind alles Merkmale des guten alten Blanquismus. Der synthetische Baxsche Sozialismus löst sich auf in einen Blanquismus, wie er in Frankreich heute fast vollständig überwunden ist, versetzt mit marxistischen Wendungen und mit einem gehörigen Quantum von Bax’ ureigenen Idiosynkrasien. An einer so schweren Mischung gemessen, kann der Sozialismus gewöhnlicher Menschenkinder allerdings auf keine andere Note rechnen wie: „Gewogen und leicht befunden“.
 

2. Die Zusammenbruchstheorie und die Kolonialpolitik

Auf dem Londoner internationalen Sozialistenkongress von 1896 wurde in der Resolution über die wirtschaftlichen Aufgaben der folgende Satz angenommen:

„Die ökonomische Entwicklung ist gegenwärtig schon so weit vorgeschritten, dass eine Krisis bald eintreten kann. Der Kongress fordert daher die Arbeiter aller Länder auf, die Leitung der Produktion zu erlernen, um als klassenbewusste Arbeiter die Leitung der Produktion zum Wohle der Gesamtheit übernehmen zu können.“

Es liegt klar auf der Hand, dass die „Krisis“, von der da gesprochen wird, nicht als eine gewöhnliche Geschäftskrisis gedacht wird, wie deren die moderne Gesellschaft schon öfter erlebt hat, sondern an die eigentliche, die große weltgeschichtliche Krisis, den Krach nicht so und so vieler kapitalistischer Unternehmungen, sondern der ganzen kapitalistischen Wirtschaft überhaupt. Es geht dies noch deutlicher aus dem englischen Wortlaut hervor, der wohl das Original des Satzes darbietet, während dem deutschen Text die Spuren der Übersetzung, und zwar in Eile vorgenommener Übersetzung, unverkennbar anhaften. In der englischen Fassung nun wird von „reißend schneller ökonomischer Entwicklung“ gesprochen, die es zur „gebieterischen Notwendigkeit“ für das Proletariat mache, als „klassenbewusste Staatsbürger“ das Verwaltungswesen zu studieren. [24]

Der Satz ist, wie vieles andere, auf dem Kongress im „Ramsch“ mitangenommen worden, ohne dass sich über ihn eine Diskussion erhoben hätte. Aber man kann annehmen, dass er auch bei weniger hastiger Verhandlung durchgegangen wäre. Was er empfiehlt, ist, wie Hafergrütze, unter allen Umständen nützlich, und was er behauptet, steht mindestens prinzipiell mit der zur Zeit in der Sozialdemokratie vorherrschenden Auffassung vom Entwicklungsgang der modernen Gesellschaft im Einklang.

Nach dieser Auffassung wird früher oder später eine Geschäftskrisis von gewaltiger Stärke und Ausdehnung, durch das Elend, das sie erzeugt, die Gemüter so leidenschaftlich gegen das kapitalistische Wirtschaftssystem entflammen, die Volksmassen so eindringlich von der Unmöglichkeit überzeugen, unter der Herrschaft dieses Systems die gegebenen Produktivkräfte zum Wohle der Gesamtheit zu leiten, dass die gegen dieses System gerichtete Bewegung unwiderstehliche Kraft annimmt und unter ihrem Andrängen dieses selbst rettungslos zusammenbricht. Mit anderen Worten, die unvermeidliche große wirtschaftliche Krisis wird sich zu einer allumfassenden gesellschaftlichen Krisis ausweiten, deren Ergebnis die politische Herrschaft des Proletariats, als der dann einzig zielbewusst revolutionären Klasse, und eine unter der Herrschaft dieser Klasse sich vollziehende völlige Umgestaltung der Gesellschaft im sozialistischen Sinne sein wird.

Der Gedankengang, der dieser Auffassung zu Grunde liegt, ist bekannt. Er stützt sich auf die sich vor unseren Augen vollziehende fortschreitende Konzentration der Betriebe, die Zunahme der um Lohn arbeitenden Klassen, die zwischen diesen und den kapitalistischen Klassen und in den Reihen der letzteren herrschenden Gegensätze, die Zwangsgesetze der Konkurrenz, und die Rückwirkung ökonomischer Verschiebungen auf die Gestaltung der politischen Parteien wie des ganzen öffentlichen Lebens überhaupt. Alles dies erfahrungsmäßig nachweisbare Tatsachen, aus denen sich die Folgerung, dass schließlich eine große wirtschaftliche Krisis den entscheidenden Umschlag herbeiführen werde, mit zwingender Notwendigkeit zu ergeben scheint. So hat sich denn in der Sozialdemokratie die Überzeugung eingebürgert, dieser Weg der Entwicklung sei unvermeidliches Naturgesetz, die große, allumfassende wirtschaftliche Krisis der unumgängliche Weg zur sozialistischen Gesellschaft. Obendrein erscheint er auch als der sicherste und kürzeste Weg, und einmal daran gewöhnt, die wirtschaftlichen Vorgänge und Feststellungen fast nur noch auf die für diese Auffassung sprechenden Tatsachen hin zu untersuchen und sich vorwiegend mit ihnen zu beschäftigen, kommt man dann auch bald zu der weiteren Ansicht, dass diese große erlösende Krisis, wenn nicht unvorhergesehene Ereignisse dazwischen kommen und der kapitalistischen Welt eine neue Galgenfrist gewähren, unmöglich in weiter Feme sein könne.

Wie steht es nun in Wirklichkeit mit der Aussicht auf diese große Krisis? Eine Reihe von Parteiblättern haben vor einigen Wochen sich mit den Ergebnissen der preußischen Gewerbezählung von 1895 beschäftigt und sind da zu äußerst pessimistischen Folgerungen für die Lebensdauer der gegebenen Gesellschaft gelangt. Unzweifelhaft zeigen die Erhebungen eine sehr bedeutende Zunahme der großen Betriebe in Industrie und Handel, und wenn man diese allein, ohne jede weitgreifende Nutzanwendung ins Auge fasst, dann lassen sich auch Ausdrücke wie „reißend schnelle Verdichtung der Industrie“ oder „unwiderstehliche Gewalt der Durchsetzung des Großbetriebs“ sehr wohl rechtfertigen. Aber auf die dem sozialistischen Leser so nahe liegende Frage nach der Bedeutung dieser Zunahme für die Entwicklung zum Sozialismus bezogen, sind Ausdrücke wie „reißend schnelle Verdichtung“ sehr geeignet, Vorstellungen zu erwecken, die dem wirklichen Stande der Dinge nicht entsprechen. Es sei uns daher erlaubt, einen Augenblick bei den betreffenden Zahlen zu verweilen.

In der eigentlichen Industrie ist die Verdichtung der Betriebe am stärksten. Wir sehen da die von einzelnen Personen allein besorgten Betriebe gegen 1882 um 12 Prozent, die Kleinbetriebe (1 bis 5 Gehilfen) um ¾ Prozent zurückgehen, Mittelbetriebe dagegen um 60 Prozent und die Großbetriebe um 83 Prozent zunehmen. Diese Verhältniszahlen scheinen die kühnsten Folgerungen zu rechtfertigen. Ganz anders ist das Bild, das die einfachen Zahlen der Betriebe ergeben. Wir sehen da:

 

 

1882

 

1895

Zahl
der
Betriebe

 

Prozent
der
Betriebe

Zahl
der
Betriebe

 

Prozent
der
Betriebe

Alleinbetriebe

   755.178

  61,8

   674.042

   67.6

Kleinbetriebe (1–5 Gehilfen)

   412.424

  33,7

   409.332

  34.6

Mittelbetriebe (6–50 Gehilfen)

     49.010

    4,0

     78.627

    6.7

Großbetriebe (51 und mehr Gehilfen)

       5.529

    0,5

     10.139

    0.9

 

1.222.139

100,0

1.172.140

100

Hier erscheint die Verschiebung geradezu unbedeutend, Zwerg- und Kleinbetriebe zusammen machen noch immer 90 Prozent aller industriellen Betriebe aus. Nun täuschen freilich auch diese Zahlen, und zwar nach der, dem vorher gegebenen Bild entgegengesetzten Seite hin. Sie lassen das Verhältnis der Großbetriebe zu den kleinen Betrieben als bedeutend geringer erscheinen, wie es in Wirklichkeit ist. Am nächsten der Wirklichkeit führt uns die Tabelle der in den verschiedenen Betriebsgfruppen tätigen Personen. Diese zeigt folgende Entwicklung:

 

  

1882

Prozent

  

1895

Prozent

Alleinbetriebe

   755.176

  22,3

   674.042

  14,78

Kleinbetriebe

1.031.141

  30,4

1.078.396

  23,66

Mittelbetriebe

   641.594

  18,9

1.070.427

  23,48

Großbetriebe

   962.382

  28,4

1.734.884

  38,06

 

3.390.293

100,0

4.557.749

100,00

Der Anteil der Großbetriebe an der in der Industrie geleisteten Arbeit stellt sich somit als unvergleichlich beträchtlicher heraus, als wie ihn die Zahlen der bloßen Betriebe zeigten. Es ist indes zu bemerken, dass hier schon alle Betriebe mit über 50 Personen als Großbetriebe gerechnet wurden. Trennen wir die Betriebe von 51 bis 200 Personen von denen, die 201 Personen und darüber beschäftigen, so teilt die letzte Reihe in der obigen Tabelle wie folgt:

 

  

1892

Prozent

  

1895

Prozent

Mäßige Großbetriebe (51 bis 200 Pers.)

403.049

11,9

   757.357

16,62

Sehr große Betriebe (201 Pers. u. mehr)

559.333

16,5

   977.527

21,44

 

962.382

28,4

1.734.884

38,06

Verhältnis und Wachstum der sehr großen Betriebe erscheinen hier weniger bedeutend. Die in solchen beschäftigten Personen machten 1895 erst etwas über ein Fünftel der Gesamten in der Industrie beschäftigten Personen aus, während Mittelbetriebe und mäßige Großbetriebe zusammen noch zwei Fünftel derselben in Anspruch nehmen. Und wenn wir uns betreffs der Zahlen für die kleineren Betriebe nähere Auskunft holen, so erfahren wir, dass gerade die größten von ihnen (Betriebe mit 3 bis 5 Personen) einen absoluten und relativen Zuwachs zeigen. Sie beschäftigen 1882 564.652, 1895 665.607 Personen, ein Mehr von 17,88 Prozent. Es sind die ganz kleinen, die Zwergbetriebe (zwei Gehilfen und darunter), die teils absolut, teils relativ zurückgegangen sind.

Es zeigen also die größeren Kleinbetriebe und Mittelbetriebe noch wenig Neigung, von der Bildfläche zu verschwinden. Sie treten nur in ihrem Verhältnis zur Großindustrie schrittweise zurück, beziehungsweise werden schrittweise von ihr überflügelt. Mit „Riesenschritten“, wenn man will. Und man weitergeht und nach dem, von Dr. L. Sinzheimer in seinem Buche über die Weiterbildung des fabrikmäßigen Großbetriebs [25]gegebenen Beispiel ein Vergleich der auf die einzelnen Betriebsgruppen entfallenden Produktenmasse anstellt, so wird man für den Großbetrieb noch günstigere Zahlen erhalten, bis an 60 Prozent der Gesamtproduktion. Aber die Viertelmillion größerer Klein- und Mittelbetriebe mit ihren nahezu zwei Millionen Arbeitern bleiben darum doch eine Realität. Auch darf nicht übersehen werden, dass ein sehr namhafter Teil der Großbetriebe sich auf die Herstellung von Roh- und Halbfabrikaten beschränkt, das bloße Verhältnis der Produktionsbasen daher ebenfalls nur bedingte Bedeutung beanspruchen darf. Noch gehört (von der Maschinenproduktion abgesehen) die Masse der feineren Arbeiten der mittleren Betriebe an, und sie nehmen nicht ab, sondern zu. Dem reinen Zahlenverhältnis nach verschlingt die Großindustrie weit mehr die ganz kleinen, als die Mittelbetriebe, die vielmehr nach den vorstehenden Tabellen als schier unerschütterliche Phalanx erscheinen.

Allerdings ist diese Unerschütterlichkeit auch nur die äußere Seite und herrscht in Wirklichkeit in diesem Lager nichts weniger als Festigkeit. Da werden hier allerhand bisher dem Kleingewerbe eigene Betriebe von der Großindustrie aufgesaugt oder sonst ums Leben gebracht, und dort bilden sich auf Grund neuer Technik oder neuer Verhältnisse, wie die Großindustrie sie hervorbringt, neue Mittelbetriebe aus. Es herrscht beständige Bewegung, Absterben alter und Aufkommen neuer Geschäftszweige, sowie häufige Umwälzungen im Schosse der einzelnen Berufsgruppen. Aber so wichtig dies für die Physiologie des modernen Handwerks und Kleinfabrikantentums ist, so ist es doch für unsere Betrachtung nebensächlich. Es handelt sich hier nicht um die Individuen, sondern um die ganzen Abteilungen. Der Aggregatzustand der Moleküle hat hier Veränderungen erlitten, aber ihre Masse ist nicht verringert und ihre Auflösung noch in weitem Felde. [26]Dass im Handel und Verkehr und in der Landwirtschaft das Verhältnis der Mittelbetriebe zu den Großbetrieben noch sehr viel stärker ist, als in der Industrie, ist bekan nt. Im Handel und Verkehr entfielen beschäftigte Personen auf

 

 

1882

 

1895

Betriebe

mit 2 und weniger Gehilfen

  411.509

   467.656

 

mit 3 bis 5 Gehilfen

  176.867

   342.112

mit 6 bis 50 Gehilfen

  157.328

   303.078

mit 51 und mehr Gehilfen

    25.619

     62.056

 

  771.323

1.174.902

Und in der Landwirtschaft wurden gezählt

 

 

Zahl

1882

 

Zahl

1895

 

Gebiet
in Hektaren
1895

Parzellenbetriebe

3.061.831

3.235.169

1.807.870

Kleine Bauerngüter

   981.407

1.016.239

3.285.720

Mittlere Bauerngüter

   926.605

   998.701

9.720.935

Größere Bauerngüter

   281.510

   281.736

9.868.367

Große Betriebe

     24.991

     25.057

7.829.007

Verglichen mit den Zahlen von 1882 haben im Handel und Verkehr die Mittelbetriebe und die mittleren Kleinbetriebe den stärksten Zuwachs erfahren, und in der Landwirtschaft stellten sich, äußerlich betrachtet, die mittleren Bauerngüter gegenüber 1882 besser als irgendein andere Betriebsklasse. Das von ihnen bedeckte Gebiet stieg von 9.158.398 auf 9.720.935 Hektar. Wie sich dieses Bild bei genauerer, in die Einzelheiten eindringender Untersuchung je nach Provinzen und Kreisen und der Natur der Betriebe verändert, kann hier unerörtert bleiben. Für unseren Zweck genügen die vorgeführten rohen Zahlen.

Sie zeigen uns, dass, welchem Zweig des Wirtschaftslebens wir uns auch zuwenden, wir nirgends auf wesentliche Veränderungen oder auch nur Verringerungen in der Zahl der Mittelbetriebe stoßen. Wie bedrängt auch die Lage mancher Inhaber von solchen sein mag, wie viel „Eintagsfliegen“ sich insbesondere im Handel in jedem gegebenen Moment in den Reihen der verschiedenen Betriebsklassen befinden, für das Ganze bleibt ihr Absterben gleichgültig, das Gesamtbild erfährt dadurch keine Veränderung.

Und doch ist das stetig fortschreitende Anwachsen der Groß- und Riesenbetriebe keine Fabel. Die Tabellen für Industrie, Handel und Verkehr bestätigen es uns mit zwingender Beweiskraft – namentlich, wenn wir berücksichtigen, dass im Handel Betriebe mit über 10 bis 15 Personen schon zu den Großbetrieben gerechnet werden müssen. Sie sagen uns bloß nicht, dass die Zunahme der Großbetriebe die Verminderung der mittleren Betriebe bedeute, sondern lassen vielmehr der Vorstellung Raum, als ob es sich da lediglich um ein Nebeneinander handelte, und nicht um einen Kampf ums Dasein gegeneinander.

Sicherlich stände diese Vorstellung in sehr vielen Fällen mit der Wirklichkeit in Widerspruch. Die Geschichte vieler Gewerbe erzählt uns von erbittertem Kampf ums Dasein der verschiedenen Betriebsarten gegeneinander und von fast absoluter Verdrängung, ja vollständiger Erdrückung der Kleinen und Mittleren durch die Großen. Soweit die einzelnen Geschäftszweige betrachtet werden, ist Zunahme von mittleren und Großbetrieben nebeneinander eine Ausnahme. Wenn das Gesamtbild von Industrie, Handel und Verkehr eine solche zeigt, so erklärt sich dies vielmehr erstens aus der stetig fortschreitenden Vermehrung der Gewerbsarten in der modernen Gesellschaft und zweitens aus der wachsenden Anpassungsfähigkeit und Beweglichkeit der heutigen gewerblichen Welt.

In unserer sozialistischen Literatur wird diesen so bedeutsamen Faktoren nur geringe Beachtung geschenkt. Gelegentlich einmal, etwa wenn es gilt. Zünftlern oder sonstigen Reaktionären entgegenzutreten, lassen wir uns herbei, einen Griff ins Arsenal des wirtschaftlichen Liberalismus zu tun und von der außerordentlichen Mannigfaltigkeit und Veränderlichkeit des Gewerbslebens unserer Tage zu erzählen. Im Übrigen aber machen wir es bei der Charakteristik der wirtschaftlichen Entwicklungsgesetze ähnlich wie bei der Begründung des Lohngesetzes. Wir unterstellen eine Starrheit und Beengtheit der gewerblichen Beziehungen, die dem Zeitalter der Manufaktur oder dem Beginn der Maschinenära, wo die gewerbliche Welt die Eierschalen des überkommenen Wirtschaftszustandes noch nicht abgestreift hatte, entsprechen mögen, aber mit den charakteristischen Eigenheiten des modernen Geschäftslebens in klaffendem Widerspruch stehen. Wir argumentieren oft, als seien uns das moderne, so ausgebildete und ausgebreitete Kreditwesen, die mit jedem Tage sich steigernden Erweiterungen und Erleichterungen des Verkehrs böhmische Dörfer oder mindestens ganz nebensächliche Dinge, während sie doch so gut ökonomische Faktoren von grundlegender Bedeutung für das Gesellschaftsleben und die gesellschaftliche Entwicklung sind, wie die Produktionstechnik, der wir mit Recht so viel Aufmerksamkeit schenken.

Im Kommunistischen Manifest und den in der gleichen Epoche entstandenen Schriften von Marx und Engels sind diese Faktoren durchaus nicht ignoriert, sondern im Gegenteil ausdrücklich hervorgehoben worden. Aber so viel dort hinsichtlich ihrer Wirkungen vorausgesagt ist, so ist es selbstverständlich, dass man um 1848 nicht alle Entwicklung voraussehen konnte. Eine den Anspruch auf den Namen wissenschaftlicher Sozialismus rechtfertigende Jubelschrift würde daher ebenso sehr sich mit der Untersuchung zu befassen haben, inwiefern die wirkliche Entwicklung der Dinge von den Annahmen des Kommunistischen Manifests und der zu ihm gehörigen Literatur abgewichen ist, wie mit der Feststellung der durch sie bestätigten Vorhersagungen. Indes sind die Beispiele ernsthafter Versuche, den wissenschaftlichen Sozialismus wissenschaftlich zu betätigen, noch sehr vereinzelt.

Marx und Engels selbst haben den tatsächlichen Vorgängen gegenüber nie der Doktrin zu Liebe die Augen verschlossen, sondern ihnen stets die vollste Aufmerksamkeit gewidmet. So hat denn auch Friedrich Engels bei der Herausgabe des III. Bandes des Kapital keinen Anstand genommen, die früher von ihm und Marx vertretene Idee eines zehnjährigen Produktionszyklus als veraltet zu behandeln. Als die Faktoren, durch welche „die meisten alten Krisenherde und Gelegenheiten zur Krisenbildung beseitigt oder abgeschwächt“ seien, bezeichnet er „die kolossale Ausdehnung der Verkehrsmittel“ – ozeanische Dampfschiffe, Eisenbahnen, elektrische Telegraphen, Suezkanal – und den Umstand, dass „dem überschüssigen europäischen Kapital in allen Weltteilen unendlich größere und mannigfaltigere Gebiete eröffnet sind“. [27]Engels vermutet nun, dass der Zyklus vielleicht nur eine Ausdehnung hinsichtlich der Zeitdauer erfahren habe, und meint weiter, jedes der Elemente, das einer Wiederholung der alten Krisen entgegenstrebe, wie Kartelle, Schutzzölle, Trusts, berge „den Keim zu weit gewaltigeren, künftigen Krisen in sich“.

Gegen diese letztere Annahme scheint mir, wenigstens soweit Kartelle und Trusts in Betracht kommen, mancherlei zu sprechen. Es sind da so vielerlei Formen und Anpassungsmöglichkeiten vorhanden, dass wenigstens kein zwingender Grund vorliegt, diese Wirkung für die allein wahrscheinliche zu halten. Im Übrigen wird es abzuwarten sein, ob wir, bei der steigenden Ausdehnung der Märkte, den schnellen Informationen über die Marktverhältnisse und der fortschreitenden Vermehrung der Produktionszweige, überhaupt in näherer Zeit allgemeine Krisen nach Art der früheren erleben, oder ob nicht an deren Stelle zunächst nur auf bestimmte Industriegruppen beschränkte internationale Krisen treten werden. Die Tatsache, dass neuerdings die große Stockung in der Textilindustrie die Masse der anderen Industrien fast unberührt gelassen hat, ist vielleicht an sich für diese Folgerung nicht beweiskräftig, da z. B. die gleichzeitige Prosperität der Metallindustrie zu einem erheblichen Teile den abnorm angespannten Anforderungen des Militarismus und Marinismus geschuldet ist; immerhin sei konstatiert, dass man auch in Industrien, auf welche diese nur wenig einwirken, von Rückwirkung der Textilkrisis verhältnismäßig wenig gemerkt hat. Der Kreis der Industrien und ihrer Märkte scheint heute zu groß, um an allen Punkten gleichzeitig und mit gleicher Schwere von Krisen getroffen werden zu können, es sei denn, dass ganz außergewöhnliche Ereignisse die Geschäftswelt aller Länder gleichmäßig in Schrecken jagen, überall gleicher Weise den Crédit lähmen.

Ich sage nicht, dass dem so ist, sondern drücke nur eine Vermutung aus, Vestigia terrent [28] – ich habe vor dem Prophezeien in diesen Dingen einen Heidenrespekt. Aber die Elastizität des modernen Kreditwesens bei enorm anschwellendem Kapitalreichtum, der vervollkommnete Mechanismus des Verkehrs in allen seinen Zweigen – Post- und Telegraphendienst, Personen- und Güterverkehr, die Ausbildung der Handelsstatistik und des Nachrichtendienstes, die Ausbreitung der Organisationen der Industriellen, das sind Tatsachen, und es ist ganz undenkbar, dass sie nicht auf die Beziehung von Produktionstätigkeit und Marktlage von bedeutendem Einfluss sein sollten.

Es spricht somit eine große Wahrscheinlichkeit dafür, dass wir mit dem Fortschritt der wirtschaftlichen Entwicklung für gewöhnlich überhaupt nicht mehr mit Geschäftskrisen der bisherigen Art zu tun und alle Spekulationen auf solche als die Einleiter der großen gesellschaftlichen Umwälzung über Bord zu werfen haben werden.

Das mögen diejenigen bedauern, die an alten Schlagworten hängen, welche sich früher einmal „bewährt“ haben [29], die sozialistische Gedankenwelt verliert damit durchaus nichts an überzeugender Kraft. Denn genauer zugesehen, was sind denn alle die von uns aufgezählten Faktoren der Beseitigung oder Modifizierung der alten Krisen? Alles Dinge, die gleichzeitig Voraussetzungen und zum Teil sogar Ansätze der Vergesellschaftung von Produktion und Austausch darstellen. Dass ihre Ausbildung das Krisenwesen nicht unbeeinflusst lassen werde, ist durchaus im Einklang mit der sozialistischen Lehre. Wäre es anders, so würde dies gerade auf einen groben Fehler in derselben hinweisen.

Nehmen wir aber an, es verhalte sich mit den Krisen noch wie früher, hätte die Sozialdemokratie selbst dann wirklich Grund, dass sehr baldige Eintreten des großen Zusammenbruchs herbeizuwünschen?

Man sehe sich die Zahlen an, die wir oben von Preußen, dem größten und einem der entwickeltsten Staaten Deutschlands gegeben haben. Es liegt auf der Hand, dass bei der aus ihnen sich ergebenden Zersplitterung der Betriebe in Industrie, Handel und Landwirtschaft die Sozialdemokratie – die einzige Partei, die angesichts der vollzogenen Parteientwicklung in Deutschland noch durch eine Erhebung der Massen ans Ruder gebracht werden könnte – vor eine unlösbare Aufgabe gestellt sein würde. Sie könnte den Kapitalismus nicht wegdekretieren, ja, ihn nicht einmal entbehren, und sie könnte auf der anderen Seite ihm nicht diejenige Sicherheit gewährleisten, deren er bedarf, um seine Funktionen zu erfüllen. An diesem Widerspruch würde sie sich unrettbar aufreiben, und das Ende könnte nur eine kolossale Niederlage sein. [30]Wir stehen im Jubiläumsjahr der französischen Februarrevolution, und es wäre sehr zu wünschen, dass man über den Erinnerungen an die glorreichen Volkstage und die schändlichen Taten der Reaktion nicht die wirklichen Lehren jenes Jahres übersähe, die Vorgänge vom Jubel des 24. Februar bis zum Drama des 24. Juni ohne Dramatik betrachtete. Die Verlegenheiten der provisorischen Regierung von 1848, groß wie sie waren, würden verschwinden gegenüber den Verlegenheiten, welche der Sozialdemokratie erwachsen würden, wenn eine verallgemeinerte Geschäftskrisis sie zu einer Zeit zur Herrschaft brächte, wo die Zusammensetzung der Gesellschaft noch eine ähnliche ist, wie sie in den obigen Tabellen sich kundgibt.

Es könnte nun erwidert werden, dass wenn man von dem Zusammenbruch der gegenwärtigen Gesellschaft spricht, man dabei mehr im Auge habe, als eine verallgemeinerte und gegen früher verstärkte Geschäftskrisis, nämlich einen totalen Zusammenbruch des kapitalistischen Systems an seinen eigenen Widersprüchen. Aber diese Vorstellung ist durchaus nebelhaft und übersieht ganz die großen Unterschiede in der Natur und dem Entwicklungsgang der verschiedenen Industrien und ihre sehr verschiedene Fähigkeit, die Gestalt von öffentlichen Diensten anzunehmen. Ein annähernd gleichzeitiger völliger Zusammenbruch des gegenwärtigen Produktionssystems wird mit der fortschreitenden Entwicklung der Gesellschaft nicht wahrscheinlicher, sondern unwahrscheinlicher, weil dieselbe auf der einen Seite die Anpassungsfähigkeit, auf der anderen – beziehungsweise zugleich damit – die Differenzierung der Industrie steigert. Es hilft auch nichts, sich darauf zu berufen, dass die mit einem solchen Zusammenbruch eintretende Volkserhebung voraussichtlich die Dinge mit Treibhausgeschwindigkeit zur höchsten Entwicklung bringen werde. Diese, aus der Geschichte der großen französischen Revolution abgeleitete Annahme beruht auf totaler Verkennung des großen Unterschieds zwischen feudalen und liberalen Einrichtungen, zwischen feudalistisch bewirtschaftetem Grundbesitz und moderner Industrie. Mit den meisten feudalistischen Rechten konnte man aufräumen, ohne mehr als einem verhältnismäßig kleinen Bruchteil der Bevölkerung Schaden zuzufügen, radikale Eingriffe ins bürgerliche Eigentumsrecht berühren einen unendlich weiteren Kreis von Interessen, die man nicht alle zur Emigration veranlassen kann. Feudale Landgüter konnte man zerschlagen und parzellenweise veräußern, modernen Fabriken gegenüber geht das nicht; je mehr davon nach dem Rezept der Commune expropriiert würden, umso größer die Schwierigkeit, sie während einer Erhebung in Betrieb zu halten. Die rein äußerliche Zuspitzung der Verhältnisse würde durchaus nicht mit einer Beschleunigung des inneren Entwicklungsprozesses der Industrie zusammenfallen, sondern im Gegenteil auf diesen vielfach aufhaltend einwirken.

Man wird nun die Frage aufwerfen, ob mit dieser Darlegung die Verwirklichung des Sozialismus nicht auf den St. Nimmerleinstag – „bis zu den griechischen Kalenden“, um mit Herrn Bax zu reden – verlegt oder auf viele, viele Generationen hinaus vertagt wird. Wenn man unter Verwirklichung des Sozialismus die Errichtung einer in allen Punkten streng kommunistisch geregelten Gesellschaft versteht, so trage ich allerdings keine Bedenken zu erklären, dass mir dieselbe noch in ziemlich weiter Ferne zu liegen scheint. Dagegen ist es meine feste Überzeugung, dass schon die gegenwärtige Generation noch die Verwirklichung von sehr viel Sozialismus erleben wird, wenn nicht in der patentierten Form, so doch in der Sache. Die stetige Erweiterung des Umkreises der gesellschaftlichen Pflichten, d.h. der Pflichten und korrespondierenden Rechte der Einzelnen gegen die Gesellschaft, und der Verpflichtungen der Gesellschaft gegen die Einzelnen, die Ausdehnung des Aufsichtsrechts der in der Nation oder im Staat organisierten Gesellschaft über das Wirtschaftsleben, die Ausbildung der demokratischen Selbstverwaltung in Gemeinde, Kreis und Provinz und die Erweiterung der Aufgaben dieser Verbände – alles das heißt für mich Entwicklung zum Sozialismus oder, wenn man will, stückweise vollzogene Verwirklichung des Sozialismus. Die Übernahme von Wirtschaftsbetrieben aus der privaten in die öffentliche Leitung wird diese Entwicklung natürlich begleiten, aber sie wird nur allmählich vor sich gehen können. Und zwar nötigen triftige Zweckmäßigkeitsgründe hier zur Mäßigung. Zur Ausbildung und Sicherung guter demokratischer Betriebsführung – ein Problem, von dessen Schwierigkeit u. a. die innere Geschichte des Betriebsamts des Londoner Grafschaftsrats ein Beispiel ablegt – gehört vor allem Zeit. So etwas lässt sich nicht extemporieren. Es ist aber auch, sobald die Gemeinschaft von ihrem Recht der Kontrolle der wirtschaftlichen Verhältnisse gehörigen Gebrauch macht, die faktische Überführung von wirtschaftlichen Unternehmungen in öffentlichen Betrieb nicht von der fundamentalen Bedeutung, wie man gewöhnlich glaubt. In einem guten Fabrikgesetz kann mehr Sozialismus stecken, als in der Verstaatlichung einer ganzen Gruppe von Fabriken.

Ich gestehe es offen, ich habe für das, was man gemeinhin unter „Endziel des Sozialismus“ versteht, außerordentlich wenig Sinn und Interesse. Dieses Ziel, was immer es sei, ist mir gar nichts, die Bewegung alles. Und unter Bewegung verstehe ich sowohl die allgemeine Bewegung derGesellschaft, d. h. den sozialen Fortschritt, wie die politische und wirtschaftliche Agitation und Organisation zur Bewirkung dieses Fortschritts.

Die Sozialdemokratie hat also danach den baldigen Zusammenbruch des bestehenden Wirtschaftssystems, wenn er als Produkt einer großen verheerenden Geschäftskrisis gedacht wird, weder zu gewärtigen, noch zu wünschen. Was sie zu tun, und noch auf lange Zeit hinaus zu tun hat, ist, die Arbeiterklasse politisch zu organisieren und zur Demokratie auszubilden, und für alle Reformen im Staate zu kämpfen, welche geeignet sind, die Arbeiterklasse zu heben und das Staatswesen im Sinne der Demokratie umzugestalten. Und was die Fragen der Kolonialpolitik und Eroberung neuer Märkte anbetrifft, so wird die Sozialdemokratie aus Gründen der Hochhaltung ihrer eigenen Prinzipien jedem Kolonialchauvinismus wie überhaupt jedem Chauvinismus entgegentreten, ohne sich zu dem entgegengesetzten Extrem hindrängen zu lassen, dass jede Geltendmachung und Hochhaltung nationaler Rechte, jedes Nationalbewusstsein unterschiedslos als chauvinistisch verfemt. Sie wird die Vergewaltigung und betrügerische Ausraubung wilder oder barbarischer Völker bekämpfen, aber sie wird auf jeden Widerstand gegen ihre Einbeziehung in die Geltungssphäre zivilisatorischer Einrichtungen als zweckwidrig verzichten und ebenso von jeder grundsätzlichen Bekämpfung der Erweiterung der Märkte als atomistisch Abstand nehmen. Die Ausdehnung der Märkte und der internationalen Handelsbeziehungen ist einer der mächtigsten Hebel des gesellschaftlichen Fortschritts gewesen. Sie hat die Entwicklung der Produktionsverhältnisse in außerordentlichem Grad gefördert und sich als ein Faktor der Steigerung des Reichtums der Nationen bewährt. An dieser Steigerung haben aber auch die Arbeiter von dem Augenblick an ein Interesse, wo Koalitionsrecht, wirksame Schutzgesetze und politisches Wahlrecht sie in den Stand setzen, sich steigenden Anteil an derselben zu sichern. Je reicher die Gesellschaft, umso leichter und sicherer die sozialistischen Verwirklichungen.

Bei alledem wird die Stellung der Sozialisten in den verschiedenen Ländern zur Kolonialpolitik eine sehr verschiedene sein müssen. Denn es kommt da sehr viel auf die Einrichtungen und die Zustände des Landes an, das solche Politik treiben will, auf die Natur der geplanten Kolonien und die Art, wie das betreffende Land kolonisiert und Kolonien verwaltet. Da in den meisten Ländern die Verwaltung der Kolonien ausschließlich Sache der privilegierten Klassen ist, so ist schon damit allein eine kritische Haltung für die Sozialdemokratie angezeigt. Aber die Vorstellung, dass man durch Bekämpfung aller und jeder Kolonialpolitik den Umsturz daheim beschleunigen könne, ist ganz und gar hinfällig, abgesehen davon, dass die Sache selbst utopistisch ist. Bevor man an so etwas denkt, müsste man die Dampfschiffe und Eisenbahnen aus der Welt schaffen. Wie utopistisch der Gedanke ist, zeigt sich schon daraus, dass er am stärksten in der Kindheit der sozialistischen Bewegung die Gemüter erfüllte. Wenn wir die sozialistische Literatur der dreißiger Jahre dieses Jahrhunderts nachschlagen, so finden wir dort schon den Gedanken verfochten, man müsse der Kolonialpolitik entgegenwirken, weil sie den Sieg der Volkssache hinausschiebe. „Keinem einzigen jungen Menschen“, schreibt der Poor Man’s Guardian vom 15. Februar 1831, „sollte man erlauben, außer Landes zu gehen, bevor er die Neugeburt dieses Landes erlebt hat“, und er donnert gegen die Kolonial- und Emigrationspolitik, die Leute in die „kanadischen Sümpfe“ und die „Wildnis von Neusüdwales“ verlockt. Wenn man das liest und sich dann vergegenwärtigt, was Canada und Neusüdwales geworden sind, so wird man notwendigerweise zur Vorsicht gegenüber solchen Schlagworten getrieben. Für den Poor Man’s Guardian gibt es ja viele Entschuldigungen. Erstens war die Bewegung eben noch jung, und dann stand man damals unmittelbar vor einer Umwälzung in England, die freilich anders ausfiel, als sie die tapferen Herausgeber dieses Blattes erstrebten. Wir aber sollten jetzt nach mehr als zwei Generationen über die naiven Vorstellungen der Anfänge der heutigen Sozialdemokratie hinaus sein. Wer sich heute um des an ihnen verübten Unrechts willen der Matabele annimmt, der folgt einem edlen Antrieb, den man nur achten kann, auch wenn man die Sache selbst für verloren ansieht. Wer aber die Sache der Matabele zu seiner eigenen macht, um dadurch die Ausbreitung der Zivilisation und die Erweiterung des Weltmarktes zu verhindern und den Eintritt des großen Zusammenbruchs zu beschleunigen, der begeht vor allem einen kolossalen Zeitfehler. Er schreibt 1898, wo er schreiben sollte 1831. Die Erfahrungen der siebzig Jahre, die dazwischen liegen, existieren nicht für ihn.

* * *

Anmerkungen

1. Eduard Bernstein, Die deutsche Sozialdemokratie und die türkischen Wirren, Die neue Zeit, 15. Jg., 1. Bd. (1897), H. 4, S. 108–116.

2. Karl Kautsky, Die materialistische Geschichtsauffassung und der psychologische Antrieb, Die neue Zeit, 14. Jg., 2. Bd. (1896), H. 47, S. 652–659.

Ernest Belfort Bax, Synthetische contra Neumarxistische Geschichtsauffassung, Die neue Zeit, 15. Jg., 1. Bd. (1897), H. 6, S. 171– 77.

Karl Kautsky, Was will und kann die materialistische Geschichtsauffassung leisten?, Die neue Zeit, 15. Jg., 1. Bd. (1897), H. 7, S. 213–218, H. 8, S. 228–238, H. 9, S. 260–271.

Ernest Belfort Bax, Die Grenzen der materialistischen Geschichtsauffassung, Die neue Zeit, 15. Jg., 1. Bd. (1897), H. 22, S. 676–687.

3. Ernest Belfort Bax, Die materialistische Geschichtsauffassung, Die Zeit (Wien), B. Band, Nr. 95 (11. Juli 1896), S. 20–22.

4. Belfort Bax, Kolonialpolitik und Chauvinismus, Die neue Zeit, 16. Jg., 1. Bd. (1898), H. 14, S. 420–427. (cita de p. 427)

5. Friedrich Schiller, Wallenstein (1799)

6. Eduard Bernstein, Die deutsche Sozialdemokratie und die türkischen Wirren, Die neue Zeit, 15. Jg., 1. Bd. (1897), H. 4, S. 108–116.

7. Eduard Bernstein, Die deutsche Sozialdemokratie und die türkischen Wirren, Die neue Zeit, 15. Jg., 1. Bd. (1897), H. 4, S. 108–16. (cita de p. 109)

8. Belfort Bax, Our German Fabian Convert; or, Socialism According to Bernstein, Justice, 7 November 1896. Eduard Bernstein, Amongst the Philistines: A Rejoinder to Belfort Bax, Justice, 14 November 1896. Belfort Bax, The Socialism of Bernstein, Justice, 21 November 1896.

9. Belfort Bax, Our German Fabian Convert; or, Socialism According to Bernstein, Justice, 7 November 1896.

10. Franz Mehring, Geschichte der deutschen Sozialdemokratie von Franz Mehring, Stuttgart: Verlag von J. H. W. Dietz, 1897, Band 1, S. 374.

11. Eduard Bernstein, Amongst the Philistines: A Rejoinder to Belfort Bax, Justice, 14 November 1896. Damit der Leser selbst urteile, hier die Baxischen Sätze: „Unlike Bernstein we regard modern Zivilisation as, per se, a curse and an evil.“ – „Better slavery than capitalism; better the Arab raider than the Chartered company, must be our device in these questions.“ „Happily the feeling is growing among the working classes that all national aspirations are a fraud and a red herring designed to trick them out of following the true gaol of international Socialism.“ [Belfort Bax, Our German Fabian Convert; or, Socialism According to Bernstein, Justice, 7 November 1896.] Der letzte Satz ist u. A. gegen die nationalen Bestrebungen der vom Przedświt repräsentierten politischen Sozialisten gerichtet. Herr Bax berief sich dabei auf den „ausgezeichneten“ Artikel des Frl. Luxemburg, aus dem er nicht die Verurteilung einer bestimmten Taktik, sondern die Verurteilung aller und jeder polnischen Nationalbestrebungen herauslas. [Rosa Luxemburg, Der Sozialpatriotismus in Polen, Die neue Zeit, 14. Jg., 2. Bd. (1896), H. 41, S. 459–470]

12. Eduard Bernstein, Amongst the Philistines: A Rejoinder to Belfort Bax, Justice, 14 November 1896. Auf diese Sätze hin erklärte in der gleichen Nummer der Justice, die meinen Artikel brachte, die Redaktion des Blattes, ich reihte mich damit neben ihre (der Justice) schlimmsten Feinde; ich verteidigte damit faktisch die schändlichen Handlungen der Britischen Südafrika-Gesellschaft in Matabeleland und verzehnfachte so die Schwierigkeiten der Sozialdemokratischen Föderation in England. [Eduard Bernstein, Amongst the Philistines: A Rejoinder to Belfort Bax, Justice, 14 November 1896.] Bax aber läuft seit jener Zeit herum und erzählt Jedem, der es hören will, es sei nur meine Schuld, wenn in England noch nicht die soziale Republik proklamiert sei.

13. Eduard Bernstein, Justice, Bax and Consistency, Justice, 28 November 1896.

14. Belfort Bax, Kolonialpolitik und Chauvinismus, Die neue Zeit, 16. Jg., 1. Bd. (1898), H. 14, S. 420–427. (cita de' p. 420)

15. Ein Beispiel von der liebenswürdigen Art, wie Sklaven in Marokko behandelt werden, ward neulich von der britischen Gesellschaft gegen Sklaverei in den Times publiziert (siehe die Wochenausgabe vom 26. November 1898). Darnach hatte ein reicher marokkanischer Emir einem achtjährigen Mädchen, das Zahnschmerzen halte, bloß weil es nicht zu weinen aufhörte, sämtliche Zähne ausbrechen lassen. Wahrscheinlich auch Sklaverei, die „aus der Entwicklung des Volkslebens gewachsen“ ist und deren Abschaffung „von den Eingeborenen gehasst wird“. Aber fragt mich nur nicht, von welchen.

16. [„Horses and mules are driven down to drink by negro slaves, prisoners clank past in chains, knots of retainers armed with six-foot guns stroll about carelessly, pretending to guard the place; it is, in fact, Arcadia grafted on feudalism, or feudalism steeped in Arcadia.” Robert B. Cunninghame Graham, Mogreb-el-Acksa: A Journey in Morocco, London: Duckworth and Co., 1898.]

17. Die, soweit sie in Marokko vorhanden sind, auf dem geringen Nahrungsbedürfnis der Bevölkerung und ihrem geringen Anspruch an Sauberkeit und Bequemlichkeit beruhen. In anderen Dingen sind die Sitten der Marokkaner durchaus nicht „einfach“.

18. Eduard Bernstein, Die Kämpfe ums Burenland, Die neue Zeit, 14. Jg., 1. Bd. (1896), H. 16, S. 484–490. (cita de p. 485). Zur Kenntniß der englischen Weltpolitik. Südafrika, Grenzboten, 4. Juli 1895.

19. Bax wird offenbar auch die Resolution des Genfer Kongresses der „Internationale“ (1866) über die Kinderarbeit bemängeln, die mit den Worten begann:

„Wir betrachten die Tendenz der modernen Industrie, Kinder und junge Personen beider Geschlechter zur Mitwirkung an dem Werk der gesellschaftlichen Produktion heranzuziehen, als eine fortschrittliche und heilsame und berechtigte Tendenz, obgleich die Art und Weise abscheulich ist, auf welche diese Tendenz unter der Kapitalherrschaft verwirklicht wird.“

20. Hinsichtlich der mir von Bax unterstellten Englandschwärmerei nur so viel. Es gibt sehr vieles in England, wofür ich ganz und gar nicht schwärme. Aber ich halte es mehr für Aufgabe eines sozialistischen Schriftstellers, seinen Landsleuten zu zeigen, worin ihnen das Ausland voraus ist, ihnen das Nachahmenswerte fremder Einrichtungen vorzuführen, als in die Schimpfereien der deutschen Chauvinisten auf England einzustimmen. Es wird Herrn Bax jedoch schwerfallen, mir ein einziges Beispiel kritikloser Verherrlichung Englands nachzuweisen.

Ähnlich verhält es sich mit meiner „Schwärmerei für die liberale Partei Englands“. Die Tatsache ist da, dass die englische Sozialdemokratie trotz eifrigster agitatorischer Tätigkeit außerordentlich langsame Fortschritte macht, bei Parlamentswahlen auch da geschlagen wird, wo das jetzige Wahlsystem faktisch dem deutschen Wahlrecht gleichkommt. Ich suche dies damit zu erklären, dass die Sozialdemokratie in England mit stärkeren, erfahreneren Gegnern und elastischeren Parteien zu tun habe, als in Deutschland. Statt einzusehen, dass dies die für sie ehrenvollste, schauendste Erklärung ihrer Niederlagen ist, schreien die maßgebenden Leiter der Sozialdemokratischen Föderation, ich nähme die Partei ihrer bittersten Feinde. Ich habe keinerlei Beziehung zu auch nur einem der liberalen Politiker Englands, und ich habe mich nicht einmal dazu entschließen können, den wiederholten dringenden Einladungen des Herrn Bax zum Beitritt in den Zentralklub der Liberalen, den „National Liberal Club“, Folge zu leisten – unter Anderes, weil es mir widerstrebte, die Gastfreundschaft von Leuten anzunehmen, die ich tags darauf würde bekämpfen müssen. Umso mehr muss ich die betreffenden Insinuationen in dem Artikel des Herrn Bax zurückweisen. Wenn's beliebt, lassen wir die Zustände in England himmelschreiend schlecht sein und die liberale Partei Englands lediglich aus einer Mischung von Heuchlern, Schuften und Dummköpfen bestehen. Aber welche Schlüsse ergeben sich dann, angesichts der vielen sozialistischen Misserfolge, hinsichtlich der taktischen Fähigkeiten der Führer der hiesigen Sozialdemokratie und der intellektuellen Vorbereitung der englischen Arbeiter für den demnächstigen großen Kladderadatsch und die Verwirklichung des Sozialismus? Und wie die Konsequenz des Herrn Bax eintaxieren, der in den Sozialistischen Monatsheften von der Beteiligung der Sozialdemokratie an den preußischen Landtagswahlen eine „Verwässerung unserer Prinzipien“ fürchtet, selbst aber durchaus nichts dabei findet, seit Jahren im „National Liberal Club“ seine Prinzipien – sagen wir „anzufeuchten“?

Wohlgemerkt, es liegt mir durchaus fern, zu behaupten, dass ein überzeugter Sozialist nicht Mitglied des „National Liberal Club“ sein dürfe. Die hiesigen Verhältnisse lassen dies sehr wohl als zulässig erscheinen. Aber wenn dem so ist, welchen Sinn hat es dann, eine politische Phraseologie zu kultivieren, die dem tatsächlichen Zustand der Dinge durchaus ins Gesicht schlägt?

21. [Hermann Knackfuß (1848–1915) war Akademielehrer, Kunstschriftsteller, Illustrator und Maler von Historien und Porträts.]

22. Herr Bax sieht schon ganz Afrika in einen Wald oder eine Einöde von Fabrikschornsteinen verwandelt. Nun handelt es sich aber für die Kapitalistenwelt bei der Erschließung Afrikas durchgängig um Gewinnung von Absatzgebieten für Industrieprodukte im Austausch gegen Bodenprodukte. Außer Bax hat noch kein Mensch daran gedacht, Afrika in ein vergrößertes Lancashire zu verwandeln. Im Übrigen steckt hinter dem Abscheu vor Fabrikschornsteinen heutzutage meist weiter nichts als ästhetische Verschrobenheit. Gewiss ist ein Fabrikschornstein kein sonderlich malerischer Anblick, gar manches elende Fischerhaus und manche Büdnerkotte, durch deren Fugen überall der Wind pfeift, sehen sehr viel malerischer aus. Aber eine nach den Anforderungen moderner Sozialhygiene eingerichtete Fabrik ist, bei rationeller Arbeitszeit, in den meisten Fällen ein viel zuträglicherer Aufenthalt, als so eine malerische Hütte. Die Arbeit in der Fabrik ist schon heute in unzähligen Fällen gesünder als die Arbeit im Hause. Daneben gehen aus den Fabriken Erzeugnisse der Metall-, Holz- und Faserverarbeitung hervor, die für die Masse eine Verschönerung ihrer Umgebung möglich machen, die keine frühere Zeit kannte. Auf Grundlage der Fabrikindustrie werden dem Kunstgewerbe neue Gebiete und immer weitere Abnehmerkreise erschlossen. Und selbst die „Werkstatt der Welt“, England, ist noch recht weit davon entfernt, eine „Einöde“ von Fabrikschornsteinen darzustellen.

23. [La frase de Voltaire: “Ecrasez l’Infâme” (“Aplastad al infame” o “aplastad la cosa repugnante”) se refiere a la religión que reclama autoridad sobrenatural y hace cumplir esa afirmación mediante penalidades, y por implicación a la Iglesia Católica Romana.]

24. Hier der englische Text: „The economic and industrial development is going on with such rapidity that a crisis may occur within a comparatively short time. The congress, therefore, impresses upon the Proletariat of all countries the imperative necessity for learning, as class-conscious Citizens, how to administer the business of their respective countries for the common good.“

25. Vergl. Die neue Zeit, Bd. I, S. 305 ff. Ferner S. 71 dieser Schrift.

26. Um kein Missverständnis zu erwecken, sei hier jedoch darauf erwiesen, dass der moderne Mittelbetrieb in der Industrie oft in hohem Grad kapitalistischer Betrieb ist.

27. Das Kapital, III. Bd., 2. Teil, pag. 27, Note. Vergl. auch 1. Teil, pag. 395. und 2. Teil, pag. 145.

28. Footprints frighten me. (Horace)

29. In einem Parteiblatt ward mir vorgeworfen, ich gefiele mir darin, „an altbewährten sozialdemokratischen Theorien und Forderungen zu nörgeln und zu mäkeln“. Nun besteht aber jedes theoretische Arbeiten im „Nörgeln“ und „Mäkeln“ an bisher angenommenen Sätzen. Zudem welcher Irrtum wäre nicht zu irgendeiner Zeit „altbewährte“ Wahrheit gewesen!

30. Das vorstehende modifiziert sich in dem Masse als die Sozialdemokratie sich mit dem Gedanken vertraut machte, die ihr zufallende Macht gegebenenfalls mit bürgerlich demokratischen Parteien zu teilen, und in entscheidenden Momenten entsprechend handelte.


Zuletzt aktualisiert am 30. Mai 2025