Eduard Bernstein

 

Politische Parteien und wirtschaftliche Interessen in England

(1897)


Ursprünglich: Neue Zeit, XV. Jg. 2. Bd., Nr.40, 1896-97, S.426-432.
Diese Version: Eduard Bernstein: Zur Theorie und Geschichte des Socialismus: Gesammelte Abhandlungen, Bd.2, Berlin 1904, S.110-122.
Transkription/HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.



Vorbemerkung

Der vorliegende Aufsatz ist, wie aus seinen einleitenden Sätzen hervorgeht, die Antwort auf eine vermeintliche Correctur einiger Ausführungen von mir über englische Parteiverhältnisse. Ein junger russischer Schriftsteller, Th. Kapelusz, hatte in einer Abhandlung über Industrie und Finanz [1] diesen Ausführungen einen Commentar gegeben, durch den die ihnen zu Grunde liegenden Thatsachen nach seiner Ansicht erst in ihrer richtigen Bedeutung gekennzeichnet würden. Wenn ich mir die Mühe nahm, seine Correctur in einem besonderen Artikel ausführlich zurückzuweisen, so bewog mich dazu nicht nur die Thatsache, dass sie dem wirklichen Sachverhalt direct widersprach. Was mir vor allem die Erwiderung geboten erscheinen liess, war vielmehr der Umstand, dass der Verfasser ganz offenbar das Opfer einer Methode geworden war, die um jene Zeit in der socialistischen Litteratur grassierte und deren Verfehltheit und Verderblichkeit mir nach und nach immer deutlicher zum Bewusstsein gekommen war. Um dem Kind einen Namen zu geben, will ich sie die supramarxistische Geschichtsconstruction nennen. Die Lehre von der Beherrschung der Politik durch die Ökonomie, wie sie der Marxismus vom wirtschaftlichen Liberalismus übernommen und an der Hand der Lehre von den Classenkämpfen weiter ausgebildet hatte, ward da zum Formular einer Dogmatik, auf Grund deren die Erklärung von Geschichtsvorgängen nicht methodisch ermittelt, sondern nach irgend welchen Symptomen schablonenmässig construiert wurde. Mit einem paar Formeln aus dem Arsenal des Marxismus glaubte man den unfehlbbaren Schlüssel zu besitzen, historische Erscheinungen ähnlich zu reconstruieren, wie es dem Zoologen an der Hand der Osteologie möglich ist, aus einzelnen Knochen die Classe des Tieres zu bestimmen, dem diese angehörten. Eine wahre Manie, den geschichtstheoretischen Cuvier zu spielen, breitete sich aus und führte zu den ungeheuerlichsten Aufstellungen.

Selbst von der Schule und an dein Aufkommen des Übels nicht ganz unbeteiligt, konnte ich es nicht über mich gewinnen, nun mich vor dem Publicum als seinen Ankläger aufzuspielen, zumal mich dies genötigt hätte, meine Kritik weiter auszudehnen als mir dies aus persönlichen Gründen passend erschien. So beschränkte ich mich längere Zeit darauf, in beiläufigen Bemerkungen vor ihm zu warnen. Die Zurückhaltung, die ich mir dabei in Bezug auf die Form erlegte, wurde indes von denen, an deren Adresse meine Warnungen vornehmlich gerichtet waren, völlig missverstanden.

Die Kapeluszsche Arbeit, die an einer Stelle mich direct ins Spiel brachte, gab mir erwünschten Anlass, einen Schritt weiter zu gehen. Allerdings auch nur einen Schritt. Noch immer abgeneigt, den Kritiker der eignen Schule zu spielen, liess ich es bei einer Abwehr mit Bezug auf den einen Punct bewenden, hinsichtlich dessen ich von dem Verfasser, ich kann nicht sagen, angegriffen, aber nach ier herrschenden Methode von oben herab „verbessert“ worden war. Weiter zu gehen verbot mir unter anderm der Umstand, dass aus der Kapeluszschen Studie jedenfalls Fleiss und ein nicht unbedeutendes Talent sprachen. Sie war in vieler Hinsicht besser als Arbeiten, die an dem gleichen Fehler litten, und es schien mir daher unbillig, sie generell als Typus der falschen Methodik, anzugreifen. Dem, der verstehen wollte, sagte meine Antwort ohnehin genug.

Denn aus ihr kann man unschwer ersehen, wohin die Methode führen muss, nach der Dr. Kapelusz gearbeitet hatte, zu welch widersinnigen, den Thatsachen ins Gesicht schlagenden Folgerungen sie den verleitet, der in der gleichen Weise Geschichtsmaterialismus treibt. Berühmten Mustern, vor allem einem wiederholt von ihm citierten russischen Schriftsteller folgend – wie denn überhaupt dieser Supramarxismus in Russland zu seiner classischen Höhe gelangte – macht Kapelusz mit der Analyse von Parteien kurzen Process. In der Ökonomie wird eine lebendige, beständig neue Beziehungen schaffende Entwicklung anerkannt, manchmal sogar übertrieben; sobald aber von der Wirtschaft zur Politik übergegangen wird, so stereotypiert sich alles. Eine politische Partei befürwortet eine gewisse auswärtige Politik, an dieser Politik hat anscheinend eine bestimmte Wirtschaftsgruppe ein besondres Interesse folglich vertritt die besagte Partei nicht in dieser speciellen Frage, sondern gleich schlechtweg die Interessen dieser Gruppe oder Classe, ist sie die Partei dieser Wirtschaftskategorie. Religiöse Einflüsse, Rechtsanffassungen, historisch ausgebildete nationale Wirtschaftsprincipien werden zu Nullen gegenüber den wirklichen oder vermeintlichen Tagesinteressen von Wirtschaftsgruppen, gleichviel welches die politischen Einrichtungen des Landes und das Stärkenverhältnis dieser Gruppen zu den übrigen Kraftfactoren des öffentlichen Lebens sind. Einflüsse, die für gewisse Gebiete der Politik eines Landes – hier also die Wirtschaftspolitik, von Gewicht sind, werden durch das Mittel nominalistischer Personificierung von Wirtschaftskategorieen kurzerhand als massgebend für Fragen hingestellt, bei denen sie factisch oft nur eine mitbestimmende, manchmal sogar eine ganz untergeordnete Rolle spielen. Bei solcher Methode ist es aber unvermeidlich, dass selbst sehr feine, auf gründlicher Untersuchung bestimmter Seiten des Wirtschaftslebens beruhende Analysen zu grundfalschen Schlüssen führen. Es wird eben mit unrichtigen Gewichten und unvollständigen Gleichungen operiert. Der Kapeluszsche Aufsatz war, wie schon bemerkt, eine durchaus nicht untüchtige Arbeit; er enthält sehr lesenswerte Partien, wenngleich er selbst in seinen stärkeren Entwicklungen nicht fehlerfrei ist. So wird z.B. bei Behandlung der englischen Weltpolitik der Einfluss einer gewerblichen Kategorie ganz übersehen, der zwar Marx noch wenig Beachtung schenkte, die aber heute ein sehr grosses Wort zu sprechen hat: das Seetransportcapital. Ferner würde Kapelusz manche Erscheinungen der Wirtschaftspolitik besser veranschaulicht haben, wenn er die „Finanz“ etwas mehr nach dem Vorbild der Saintsimonisten unter dem Gesichtspunct der Banken behandelt hätte, bezw. neben der Finanz im engeren Sinne – die Geldkönige – die Banken schärfer hätte hervortreten lassen. Dies nebenbei. Was mich veranlasst, den Gegenartikel in diese Sammlung aufzunehmen, ist weiter oben dargelegt. Es handelt sich um die Blosslegung der Gefahren einer Methode, die zur Zeit seiner Abfassung in der marxistischen Schule Mode zu werden schien und als solche selbst auf die besten tüchtigeren Leute schädigend zurückwirkte. Sie drohte zu eine litterarischen Epigonentum schlimmster Art zu führen. In ihren gröberen Auswüchsen ist sie heute, wie es scheint, überwunden. Aber doch hat sie noch ihre Vertreter, und so ist es keineswegs überflüssig, sich mit ihr zu befassen.



In seinem Aufsatz: Warenexport und Capitalienexport [2] bemerkt Th. Kapelusz, nachdem er eine Äusserung von mir über den Unterschied zwischen der Politik der Radicalen und der der Conservativen Englands in Südafrica citiert hat:

„Aber der Unterschied zwischen beiden Richtungen besteht nicht nur in der Wahl der Mittel, nicht nur in de frommen Vorliebe der nonconformistischen Mucker für den Frieden – er hat eine reelle ökonomische Grundlage. Die Radicalen sind die Vertreter des Capitals, welches in die ausländidischen Industrien und in fremde Anleihen geht ... sie haben keinen Grund, die wachsende Concurrenz seitens der jüngeren capitalistischen Länder zu fürchten, sie ziehen sogar grosse Vorteile aus dem Protectionismus derselben, weil ihre junge, aufstrebende Industrie ihnen Zinsen und Dividenden in immer steigendem Masse einbringt. Die Conservativen dagegen vertreten das eigentliche Industriecapital, den Warenexport, im Gegensatz zu dem Capitalienexport.“

Und an einer anderen Stelle des gleichen Aufsatzes schreibt Kapelusz im Anschluss an einen von mir im Vorwärts gezogenen Vergleich zwischen der Politik der genannten Parteien in Kreta und Südafrica:

„Die Thatsachen dieses Gegensatzes können nicht allein mit dem Hinweis auf die Feindschaft mit Deutschland erklärt werden: dies wäre nur die Paraphrase der Frage gewesen. Nur aus dem oben erwähnten Gegensatz der Interessen des Industrie- und Finanzcapitals kann die verschiedene Stellung der Conservativen und Radicalen in Südafrica und in Kreta erklärt werden.“

Darnach vertreten die englischen Radicalen als Partei die Interessen des Finanzcapitals im Gegensatz zu den Interessen des Industriecapitals, die des Capitalienexports im Gegensatz zu denen des Warenexports. Oder mit anderen Worten, die der Rentiers und Financiers gegenüber denen der Industriellen, und „nur“ aus diesem Gegensatz ist ihr Gegensatz zur auswärtigen Politik der Conservativen zu erklären.

Nicht der Finanzwelt zum Trotz, sondern aus besonderer Liebe zu ihr haben somit die englischen Radicalen sich jeder gewaltsamen Action gegen die Transvaalburen widersetzt und die Einverleibung Kretas in Griechenland verlangt. Ich muss gestehen, dass mir dies neu ist. Nirgends ist stärker gegen die Boeren gehetzt und feindseliger gegen die Griechen getrieben worden, als in den englischen Finanzblättern, nirgends sind die englischen Radicalen schlechter angeschrieben als in der englischen Finanzwelt. Andererseits ist es eine allbekannte Tatsache, dass nichts Lord Roseberys Position bei den Radicalen mehr geschwächt, nichts zu seinem Sturze mehr beigetragen hat, als der Umstand, dass er der Schwager der Rothschilds ist.

Die grossen Financiers in England sind heute durch die Bank conservativ oder unionistisch-liberal. Seit der letzten grossen Abtrennung der Whigs von der liberal-radicalen Partei (1886) sind Finanzgrössen in der letzteren ebenso selten wie Grossindustrielle in den Reihen der Socialdemokraten. Dagegen haben die Radicalen noch immer einen starken Anhang unter den Vertretern des Industriecapitals. Ich könnte hier mit einer Fülle von Namen aufwarten, es wird aber besser sein, die parlamentarische Vertretung der fraglichen Parteien sprechen zu lassen. Giebt dieselbe auch kein absolut zutreffendes Bild der socialen Composition der Parteien, so wird sie doch immerhin deren Charakter deutlich erkennen lassen.

Nach dem Constitutional Yearbook für 1897 zähl britische Parlament in den verschiedenen Parteien:

 

    Conser-    
vative

Liberal-
Unionisten

Liberale
u. Radicale

Vertreter des Grundbesitzes

  93

  8

  18

Angestellte im Staatsdienst
(Armee, Marine, Diplomatie und Bureaukratie)

  48

  4

    3

Juristen

  84

17

  49

Buchhändler und Zeitungbesitzer

    8

  1

    6

Banquiers, Börsenmakler und Finanzagenten

  15

  4

    1

Grosskaufleute und andere Handlungsinteressenten

  22

10

  19

Fabrikanten, Civilingenieure und Hüttenbesitzer

  34

14

  32

Kohlengrubenbesitzer

    2

  3

    8

Brauer, Destillateure, Weinhandler

  13

  2

    4

Schiffsherren

    8

  3

    5

Ärzte und Lehrer

    3

    9

Schriftsteller und Journalisten

    2

  2

    8

Kleinhändler

    1

Buchhalter

    1

Lohnarbeiter

  10

Ohne Beruf

    7

  1

    5

Nicht classificiert

    1

Zusammen

339

69

180

Conservative und Unionisten zusammen stehen im jetzigen Parlament den Liberal-Radicalen im ganzen im Verhältnis von 7 : 3 gegenüber. Messen wir daran die wirtschaftliche Vertretung in den beiden Gruppen, so sehen wir den Grundbesitz, den höheren Staatsdienst, den Alkohol und die Finanz ganz unverhältnismässig stärker im conservativ-unionistischen Cartell wie bei den Radicalen vertreten. Annähernd proportionell sind das Rheder-, das Grosskaufmanns- und das Interesse der Juristenwelt verteilt. Stärker als es der Proportion entspricht ist das eigentliche Fabrikantentum, die Classe der Grubenbesitzer, und ganz ausser allem Verhältnis stark das Element der Ärzte, Lehrer, Schriftsteller und Lohnarbeiter auf Seiten der Radicalen vertreten.

Man mag für die Anomalien der parlamentarischen Vertretung sehr viel in Abzug bringen, aber ein Verhältnis von 19 Vertretern der Finanz (wovon 14 Banquiers sind) auf Seiten des unionistischen Cartells gegen nur einen einzigen Banquier auf Seiten der Liberal-Radicalen wäre undenkbar, wenn die letzteren die Sonderinteressen der Finanz im Gegensatz zu denen der Industrie verträten. Oder, von einer anderen Seite her, wie würde sich mit jenem Gegensatz die Proportion von 32 Industriellen, 8 Grubenbesitzern, 19 Grosskaufleuten und 5 Schiffsherren gegen einen einzigen Banquier in der radicalen Vertretung vertragen? Diese Zahlen stehen mit der Kapeluszschen Behauptung in schroffstem Widerspruch.

Man könnte nun sagen, nicht was die Leute sind, charakterisiert sie, sondern das, was sie thun. Damit wären wir aber gerade für das, was Kapelusz in den citierten Sätzen beweisen will, auf sehr gefährlichem Boden. Jede Classe hat ihre verlorenen Schafe oder, wenn man will, weissen Raben, aber wenn 19 weisse Raben auf einen schwarzen kommen sollen, so hört alle Naturgeschichte auf.

Sehen wir uns jedoch eine der Thaten der Radicalen an, auf die Kapelusz seine Theorie stützt: der vom Cabinet Rosebery 1895 verhängte Zoll für nach Indien eingeführte Gewebe, durch welchen Zoll die Interessen der Industrie Englands den Interessen der in indischen Fabriken angelegten englischen Capitalien geopfert worden seien. Als einzelner Act genommen, könnte die Massregel allerdings so erscheinen. Thatsächlich aber verhält sich die Sache so, dass das radical-liberale Cabinet Gladstone-Rosebery bezw. dessen indischer Staatssecretair, Lord Kimberley, 1894 unter anderen indischen Zöllen auch den seit 1875 bis dahin erhobenen Zoll auf Gewebe gerade hatte abschaffen wollen. Daraufhin hatten jedoch die indischen Fabrikanten, sowie indische Nationalisten eine grosse Agitation in Indien entfaltet, unter dem Geschrei, die Regierung opfere das Interesse Indiens dem Interesse Lancashires auf. Da nun ausserdem das indische Budget infolge des andauernden Preisfalls der Valuta ein steigendes Deficit aufwies, eine Belastung des indischen Volkes mit einer neuen Steuer sich aber von selbst verbot, Hess sich der inzwischen an Stelle Lord Kimberleys zum Staatssecretair für Indien ernannte Sir Henry Fowler, der Sohn eines Methodistenpredigers, bewegen, die Abscha:ffung des Zolles auf Gewebe bis auf weiteres zurückzunehmen. Jetzt schlugen natürlich die Fabrikanten von Lancashire Lärm, man habe sie den Indiern aufgeopfert, und die Conservativen liessen sich die gute Gelegenheit, die Bevölkerung Lancashires gegen die Liberalen aufzurufen, nicht entgehen. Ans Ruder gekommen, haben sie aber den Zoll nicht aufgehoben, sondetn zu der Massregel gegriffen, die Fowler schon in seiner Budgetrede vom 16. August 1894 als das geeignete Mittel bezeichnet hatte, dem Zoll den Charakter eines Schutzzolls zu nehmen: nämlich die Einführung einer entsprechenden Fabrikatsteuer auf indische Gewebe. Das Verhalten Fowlers war gewiss sehr anfechtbar, aber es war ein Rückzug bei einem von den Radical-Liberalen unternommenen Anlauf zur Niederreissung von Zollschranken, nicht die Fortsetzung einer grundsätzlich beobachteten Wirtschaftspolitik. Es ist etwas mehr englisches liberales Capital – vom conservativen gar nicht zu reden – in Textilfabriken von Lancashire angelegt, wie in allen Textilfabriken Bombays zusammengenommen. Der Satz, dass die Bill „den Zweck hatte, die indischen Profite der englischen Capitalien, zum Schaden der eigentlichen englischen Industrie, noch höher zu steigern“, wird schon durch die einfache Thatsache widerlegt, dass es sich um gar keine neue Steuer handelte. Die Bill war eine Verlegenheitsmassregel, weiter nichts. Der russische Schriftsteller, den Kapelusz citiert, stellt mit seinem billigen, nach dem Ausland gerichteten Radicalismus die Dinge sehr schief dar.

Es ist nicht meine Absicht, hier auf die specielle Theorie einzugehen, deren Entwicklung der Kapeluszsche Aufsatz gewidmet ist. In dieser Hinsicht geziemt es sich vielmehr, erst einmal das Ende seiner jedenfalls sehr interessanten Abhandlung abzuwarten. Ich beschränke mich vielmehr auf denjenigen Punct derselben, der direct an von mir herrührende Äusserungen polemisch anknüpft und in Bezug auf den die folgenden Capitel nichts principiell Neues bringen können. Die Rollen der beiden Parteien, um die es sich handelt, einmal verteilt, kann es sich, soweit von ihnen überhaupt weiterhin die Rede ist, nur noch um Einzelanwendungen handeln. Ich glaube übrigens, dass meine vorstehenden Ausführungen eher geeignet sind, den Gedanken, um den es sich für Kapelusz hauptsächlich handelt, zu unterstützen, als ihn umzustossen oder abzuschwächen.

Wenn es nämlich richtig wäre, dass die Liberalen vorwiegend das Interesse des exportierten Capitals und die Conservativen vorwiegend das des Warenexports vertreten, dieser aber in England der Bedeutung des ersteren weichen muss, so wäre damit die Thatsache schwer zu vereinbaren, dass die Conservativen und nicht die Liberalen in England dominieren; was bekanntlich, soweit das eigentliche England in Betracht kommt, jetzt seit über zehn Jahren der Fall ist. Selbst der Hinweis auf das demokratische Wahlrecht würde darüber nicht hinweghelfen, denn stärker noch als im Parlament ist die conservative Partei in den Salons, in den vornehmen Clubs, an der Börse vertreten. In den Villenquartieren werden nur noch Conservative gewählt, die Londoner City ist conservativ, die Börsenpresse ist conservativ, und die grosse Tagespresse kommt durch Vermittlung der Finanz auch mit jedem Jahre mehr in die Hände der Conservativen. [3] Eine unerklärliche Erscheinung, wenn die von Kapelusz vorgenommene Einteilung stimmte.

Thatsächlich vertreten jedoch die Conservativen im grossen und ganzen beide Capitalsinteressen, das exportierende wie das exportierte Capital, Finanz und Industrie. Die Zurückführung der politischen Gruppierung auf Wirtschaftsinteressen ist in der Weise, wie Kapelusz sie vornimmt, im heutigen England ganz und gar nicht zulässig. Der Gegensatz von Finanz und Industrie ist hier durchaus nicht grösser wie der von Industrie zu Industrie. Es giebt Industrien, die ihrer Natur nach stark am Freihandel interessiert sind, und solche, die eher Interesse am Schutzzoll hätten. Es giebt Finanzinteressen, die eng mit dem Interesse der Exportindustrien verbunden sind, und andere, die keinerlei directen Zusammenhang mit der Industrie haben. Auf der anderen Seite sind die beiden rivalisierenden politischen Parteien so gross, dass in ihrem Schosse die grössten wirtschaftlichen Interessengegensätze Platz haben. [4] Jede speciellere wirtschaftliche Classificierung dieser Parteien ist daher irreführend, nur sehr allgemeine wirtschaftspolitische Tendenzen lassen sich da feststellen, und auch hierin kann man nicht vorsichtig genug vorgehen.

Gerade, weil England so ungemein reich ist, eine so zahlreiche Capitalistenclasse hat, kämpfen die Classen oder Gruppen des Besitzes nicht mehr gegen einander in der Weise um ihr Dasein oder ihre Position, wie es in weniger kapitalistischen Ländern der Fall ist. Eine Gruppierung, wie Kapelusz sie vornimmt, würde einer sehr viel tiefer stehenden Stufe der Entwicklung entsprechen. Die Verwischung der Interessen im capitalistischen Lager wird noch gesteigert durch die fabelhafte Ausdehnung des Actienwesens in der Industrie. Es wird sehr wenige Geldleute geben, die ihr Vermögen nur in einer bestimmten Gattung von Papieren anlegen. Die Mehrzahl, und darunter gerade die grössten Finanzleute, haben Staatspapiere und Industrieactien, vaterländische imd fremde „Werte“ verschiedenster Art in ihrem Koffer. So ein moderner Fürst der Finanz ist Minenbesitzer in Spanien, Hüttenbesitzer in den Vereinigten Staaten, Plantagenbesitzer in Brasilien, Gläubiger der verschiedensten Staatsregierungen und daneben englischer Landwirt und Inhaber aller möglichen englischen Industriepapiere. Wie soll der Mann da genau wissen, ob sein Besitz ihn z.B. mehr zum Schutzzoll oder aber zum Freihandel verpflichtet? Würde man ihm die Frage so stellen, so würde er wahrscheinlich genötigt sein, wie der alte Rothschild seinen Secretair zu fragen: Meyer, wie denke ich über diesen Punct? Es ist ein verhältnismässig kleiner Teil der capitalistischen Welt, der ein so ausgeprägt wirtschaftliches Sonderinteresse vertritt, dass man von einem tieferen und grundsätzlichen Gegensatz gegen andere capitalistische Interessen sprechen kann. Im allgemeinen werden die Interessengegensätze innerhalb der capitalistischen Welt nur noch als häusliche Conflicte behandelt, bei denen ja gelegentliche heftigere Zusammenstösse auch nicht fehlen. Auf die politische Parteistellung hat die Angehörigkeit zu einer bestimmten Interessengruppe heute nur ausnahmsweise Einfluss; wo sie nicht durch weitere, allen Gruppen gemeinsame Interessen bestimmt wird, haben ideologische und idiosynkratische Einflüsse einen sehr grossen Spielraum.

Will man die beiden grossen englischen Parteien wirtschaftlich charakterisieren, so lässt sich generell nur so viel sagen, dass die conservativ-unionistische Partei die Partei des Besitzes, die radicale die des Erwerbs ist. Da aber der Besitzende erwerben und der Erwerbende besitzen will, ist das nur ein Unterschied in der Abtönung, und ein Repräsentant des Besitzes kann, sofern er sich mit der Steuerpolitik der Radicalen aussöhnen mag, ebenso gut bei ihnen sitzen wie bei ihren Gegnern, der Erwerbslustige gelegentlich seine Interessen bei den Conservativen besser gewahrt finden, wie bei den Liberalen. Die Liberalen oder Radicalen Englands haben ein Wirtschaftsprincip, das sie besonders hochhalten, und das ist der Freihandel. Am Freihandel sind nun sehr verschiedene Classen oder Wirtschaftsgruppen speciell interessiert, bestimmte Gruppen von Arbeitern wie solche von Fabrikanten, von Händlern und Geldleuten. Es ist also sehr wohl möglich, dass der Radicale als Advocat des Freihandels gelegentlich Interessen von Financiers gegen wirkliche oder vermeintliche Interessen von Industriellen vertritt. Aber das geschieht dann nebenbei, als Folge, nicht als leitendes Motiv seiner Parteinahme, genau wie der Socialdemokrat unter Umständen Interessen zeitweise mitvertritt, die ihm an sich fernliegen. Auch handelt es sich dann stets um Unterabteilungen der betreffenden Wirtschaftsclassen, um gewisse Finanzinteressen und um gewisse Gruppen von Industriellen, nicht um die Finanz und die Industrie. Wer also z.B. der Radicale im Kampfe gegen die von den Industriellen Lancashires unterstützte bimetallistische Agitation darauf hinweist, dass England als Gläubiger der ganzen Welt beim Bimetallismus verlieren würde, so thut er das nicht Sachwalter der Finanz, sondern weil er in diesem Kampfe all Interessen und alle Argumente anruft, die gegen den Bimetallismus sprechen. Ebenso wenn er gegen die Reichsschutzzöllnerei auf die Thatsache hinweist, dass, wenn die Schuldner Englands ihre Zinsen überhaupt bezahlen sollen, sie sie in der Regel in Waren bezahlen müssen. Was er jedoch auf solche Weise als Wirtschaftspolitiker den Finanzleuten mit der einen Hand giebt, wird er ihnen als Steuerpolitiker mit der grössten Seelenruhe mit der anderen Hand nehmen.

Eine Partei, die in England regierungsfähig sein will, muss auf alle grossen nationalen Interessen Rücksicht nehmen, und so können die Radicalen, wenn sie am Ruder sind, die Interessen der englischen Besitzer von ausländischen Staatspapieren nicht als gleichgiltige Sache behandeln. Sie müssen dieselben so gut schützen, wie es die Conservativen thun. Manchmal sogar noch etwas mehr, weil, wenn sie es hierin am kleinsten fehlen lassen, die Conservativen den fürchterlichsten Lärm schlagen. Inconsequenz und Verrat an der eigenen Sache gehören zu den Schönheiten des englischen Parteisystems. Beide Parteien thun am häufigsten das, was sie am wenigsten wollen. Man kann sie deshalb niemals auf Grund einzelner Massnahmen beurteilen.

Die radicalen englischen Freihändler sind Gegner der Kampfzölle, weil sie glauben, dass es auf der Bahn derselben keinen Halt giebt, dass sie das Übel, gegen das sie gerichtet sind, verschlimmern statt zu verbessern. Sie sind ferner dagegen, einem Lande oder einer Colonie durch Waffengewalt von aussen her eine Wirtschaftspolitik aufzuzwingen. Dies, und ihre Gegnerschaft gegen die Idee des Reichszollvereins lässt sie vielen als gleichgiltig gegen die Interessen der englischen Industrie erscheinen. Sie behaupten aber, und kaum mit Unrecht, dass der Reichszollverein der englischen Industrie sehr leicht mehr Schaden als Nutzen bringen würde, dass er Reibungen hervorrufen würde, die heute nicht existieren, und Englands Handelsverbindungen mit solchen Ländern compromittieren würde, nach denen es heute mehr exportiert, als nach allen für einen Zollverband in Frage kommenden Colonieen (Australien, Canada, Südafrica) zusammengenommen. Den intimeren Anschluss dieser an das Mutterland erwarten sie gerade von der ihnen gewährten politischen und wirtschaftlichen Autonomie, und es sieht nicht aus, als ob sie sich darin getäuscht haben, Wenn englische Capitalisten, die in den Colonieen Geld angelegt haben, von deren Zollautonomie Vorteil ziehen, so ist das ein zufälliges Zusammentreffen. Gerade die radicalen Freihändler weisen die Zumutung, die englische Handelspolitik von dem im Ausland investierten englischen Capital abhängig zu machen, entschieden ab.

„Es ist wahr“, schreibt der Financial Reform Almanac von 1897 in einem Aufsatz über den Wert des Colonialhandels, „die Colonieen, und namentlich Australien, haben viel Geld (für englische Industrieproducte) ausgegeben, weil wir ihnen das Capital zum Ausgeben geliehen haben. Manche britische Ausleiher wünschen, sie hätten ihr Geld nicht so willig für coloniale Unternehmungen vorgeschossen. Allerdings haben sie (die Colonieen) vornehmlich in diesem Lande gekauft, aber nur weil wir ihnen den besten Gegenwert für ihr Geld gegeben haben, aber der Handel mit ihnen ist durchaus nicht besser als der mit fremden Ländern, und sicherlich bei weitem nicht so gross. Wir haben nach Canada für 7 Millionen, nach Südafrica für 9 Millionen und nach Australien für 17 Millionen Pfund Sterling Waren exportiert. Aber im selben Jahre (1894) war unser Export nach den drei (von Reichszöllnern) verachteten Ländern, wie folgt: Vereinigte Staaten 30 Millionen, Deutschland 29 Millionen und Frankreich 19 Millionen Pfund Sterling.“

Und an einer anderen Stelle:

„Aber warum weiter gehen? Die blosse Thatsache, dass wir fast den ganzen Handel haben, den unsere Colonieen mit anderen Ländern treiben, ist ein klarer Beweis, dass der Handel, den sie mit dem Ausland unterhalten, in besonderen Artikeln bestehen muss, die wir entweder überhaupt nicht, oder jedenfalls nicht so gut producieren können wie einige andere Länder, und dieser Handel würde auch in Zukunft unzweifelhaft sich jenen Ländern zuwenden, die ihn heute haben. Der Handel mit unseren Colonieen kann in merkbarem Grade nur mit ihrer Bevölkerungszunahme wachsen, und wir können die Handelsverbindungen, die wir mit fremden Ländern unterhalten, nicht auf die Erwartung hin gefährden, dass unsere Colonieen im Laufe von Generationen genügend anwachsen werden, um den Platz dieser fremden Märkte zu ßbernehmen.“

Der Financial Reform Almanac ist der Dolmetscher der wirtschaftspolitischen Ideen der englischen Radicalen. Weder aus ihren programmatischen Erklärungen, noch aus ihren Handlungen oder ihren Verbindungen lässt sich der Beweis liefern, dass sie die Interessen der Finanz im Gegenstz zu denen der Industrie vertreten.


Footnotes

1. Die Neue Zeit, 1896-97, Bd.II. pag.324.

2. Industrie und Finanz, I.

3. Speciell in London ist das Verhältnis der conservativen zur radicalen Presse wie 3 : 1, wenn nicht noch stärker. Die Pall Mall Gazette hat der Finanzmann Astor, die Sun der Finanzmann Hooley aus dem radicalen ins conservative Lager gebracht. [Nach dem Krach des Mr. Hooley (1898) ist die Sun von einem liberalen Speculanten, Mr. Horatio Bottomley, angekauft worden, der sie in liberaler Färbung redigieren lässt. Aber Mr. Bottomley, beiläufig ein Neffe des Genossenschaftssocialisten Holyoake, wird von vielen Liberalen als anrüchig gemieden.]

4. Die unverhältnismässig grosse Anzahl von Kohlengrubenbesitzern in der radicalen Fraction verhindert z.B. nicht, dass die Bergarbeitervertreter im Parlament überhaupt nur in dieser Fraction zu finden sind. Die „liberalen“ Bergarbeiter bekämpfen sich dabei untereinander oft bitterer als die conservativen und liberalen Grundbesitzer. [Bei der soeben erfolgten Parlaments wähl (October 1900) haben z.B. in Sunderland die Liberalen einen einflussreichen Schiffsrheder und den Führer der organisierten Schiffszimmerer, Mr. A. Wilkie, nebeneinander als Candidaten für den zwei Abgeordnete ernennenden Wahlkreis aufgestellt. In einem anderen Wahlkreis Nordenglands lud das liberale Wahlcomité erst einen Grubenbesitzer, und als dieser ablehnte, sodann einen Bergarbeiterführer zur Candidatur ein. Diese Beispiele wären noch sehr zu vermehren.]


Zuletzt aktualisiert am 27.1.2009