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Aus Der sozialistische Akademiker, November 1896, S. 668–673.
Transkription: Graham Seaman.
HTML-Markierung: Graham Seaman für das Marxists’ Internet Archive
Eine Strasse im Proletariatviertel. Es ist Spätherbst, und eine feuchtkalte, neblige Atmosphäre lässt die schmutzigen Häuser noch hässlicher erscheinen, als sie ohnehin sind. Vor den Schankhäusern lungern abstossende Gestalten, der niedrigsten Schicht des Abschaums der Weltstadt angehörig – sie schauen nach irgend einem „Geschäft“ aus, das ihnen die Mittel verschafft, das Innere des Schnapstempels zu betreten. Wie sie selbst zerrissen und schmierig gekleidet sind, so auch ein grosser Theil der Passanten. In der That fällt der Blick nur selten auf einen Menschen, dessen Aeusseres nicht den Eindruck machte, als sei in ihm jeder Sinn für Schönheit abgestorben. Risse in der Kleidung, die mit ein paar Nadelstichen ausgebessert wären, Schmutz, der nicht der Arbeit entstammt, werden gleichmüthig zur Schau getragen, und dass es nicht immer der äusserste physische Mangel ist, der dieser absoluten Vernachlässigung aller Aesthetik zu Grunde liegt, verrathen die vielen Süssigkeitsläden, deren Stammkundschaft aus Kindern besteht, die in zerrissenen Schmutzlappen einherwandern. Der Einfluss der schmutzstarrenden Umgebung wirkt wie der Fluch des Zauberers: es fallen ihm alle zum Opfer, die in diesen Strassen hausen.
Um die Zeit, wo die Arbeiter die Werkstätten und Fabriken verlassen – die Einen, um so schnell als möglich den Zug zu erringen, der sie aus dieser Umgebung in die Vororte entführt, die Anderen, um vor oder in Wirthshäusern der Nachbarschaft sich die Zeit zu vertreiben, bis sie sich in ihre Höhlen zum Schlaf begeben – stellt sich an der Ecke der Gasse, wo diese in die Hauptstrasse des Viertels ausläuft, eine kleine Gruppe von Leuten ein, deren Kleidung man es sofort ansieht, dass sie hier nicht zu Hause sind. Sie tragen Zeitungen und Flugblätter mit sich, und wie nun der Verkehr lebhafter zu werden beginnt, fangen sie, Einer nach dem Andern an, auf die paar Neugierigen, die sich um sie sammeln, eindringlich einzureden. Der Ton ihrer Reden, die Gesten, mit denen sie sie begleiten, zeigen deutlich an, dass sie keine Sendboten kirchlicher Gemeinschaften sind. Wir treten näher, und ein Mann in gereitten Jahren mit einem Löwenkopf auf einem massiven, gedrungenen Körper, einfach und doch eigenartig, ungezwungen aber sauber gekleidet, bietet uns aus einem Packet Zeitungen ein Exemplar zum Kauf an. Bald darauf giebt er das Packet einem der mit ihm Gekommenen, der nun an seiner Stelle das Blatt feilbietet, und schickt sich an, den gerade am Ende seiner Ansprache angelangten Kameraden, der bisher gesprochen, abzulösen. Seine eindrucksvollen, markigen Worte werden nur von wenigen der Zuhörer aufgenommen, und von denen, die ihnen bis zu Ende lauschen, ist es wieder nur eine kleine Minderheit, deren Benehmen erkennen lässt, dass die Botschaft von einer besseren Zeit, von einem Paradies auf Erden, das sie zu errichten mitberufen sind, auf sie nicht mehr als einen Augenblickseindruck macht. Bei den Meisten dagegen, die von der kleinen Gruppe Notiz nehmen, ob sie nun gleich darauf weitergehen oder einige Minuten stehen bleiben, überwiegt offenbar die Vorstellung, dass es auf ihre Penny’s abgesehen ist. Sie schätzen den über Fünfzigjährigen mit dem buschigen, silbergrauen Haar und den leuchtenden blauen Augen, der in so merkwürdiger Bewegung zu ihnen spricht, nicht anders ein, als irgend einen Choräle ableiernden Strassenbettler, einen Marktschreier, der eine Waare anpreisen will, oder einen italienischen Orgeldreher. Im besten Falle ist er ihnen mit seinen Brandmarkungen der Drohnen der Gesellschaft, der Hölle auf Erden, welche die Ausbeutung geschaffen, und für deren Beseitigung die Ausgebeuteten sich zum Kampf zusammenthun müssen, ein hoffnungslos überspannter Schwärmer.
Ein Schwärmer – ja. Nur ein Enthusiast, nur ein Mensch, der von innerem Feuer für eine Idee erfüllt ist, konnte sich unter den Verhältnissen eines William Morris zu dieser Art Agitation entschliessen. Die Opfer, welche die Rolle des Führers einer grossen Volksbewegung mit sich bringt, werden durch den Ruhm oder Ruf entschädigt, den eine solche Thätigkeit verspricht; die Aussicht auf rednerische Triumphe in grossen Volksversammlungen oder in Parlamenten hat für gar Manchen so Bezauberndes, dass sie ihn gleichgiltig werden lässt gegen die Verfolgungen und Entbehrungen, die dafür in den Kauf zu nehmen sind. Aber was bot diese mühevolle, an Entäuschungen überreiche Agitation einem William Morris, dem schon damals von den leitenden Organen der Nation anerkannten Dichter, dem hochangesehenen Künstler und ‚erfolgreichen Fabrikanten? Auf jenen Versammlungen an Strassenecken waren keine Lorbeeren zu erwerben, kein Reporter berichtete über die dort gehaltenen Reden an die Presse, kein rauschender Beifall wartete des Wind und Wetter trotzenden Redners. Im Gegentheil, oft genug waren es Insulten und Kothwürfe, die er zu gewärtigen hatte. Dass Morris sich mit rückhaltloser Offenheit zur Sozialdemokratie bekannte, als dieselbe in England von aller Welt als Wahnsinn verachtet wurde, dass er der jungen Bewegung grosse finanzielle Opfer und noch grössere Opfer an Zeit und Arbeit brachte, dass er sie mit Perlen echter Poesie und gedankenreichen Aufsätzen beschenkte und überall seinen Mann stellte, wo Gefahr im Verzuge war, sichert seinem Andenken die unvergängliche Hochachtung und Liebe seiner Genossen. Aber dass er, der im Westend gefeierte Dichter und Künstler, sich nicht zur gröbsten und undankbarsten Agitationsarbeit zu gut hielt, dass er, dessen Name genügt hätte, das gewählteste Publikum der eleganten Welt anzuziehen, um vielleicht einen Proletarier für den Sozialismus zu gewinnen, in Arbeitervierteln sich allen den Strassen-Agitator erwartenden Unbilden unterzog, das scheint mir ein charakteristischer, ein so liebenswürdiger Zug dieses bedeutenden Mannes, ein so eindrucksvolles Zeugniss für die Tiefe seiner sozialistischen Gesinnung, dass es dem Gedächtniss der Ueberlebenden besonders aufbewahrt zu werden verdient. Obgleich er in der grossen Welt einen Namen hatte, hielt er sich nicht für zu gross, seinen Antheil propagandistischer Kleinarbeit unter den auf der tiefsten Sprosse der gesellschaftlichen Stufenleiter Stehenden auf sich zu nehmen.
Es ist ein fesselndes Bild, den berufenen Dichter-Künstler, der es verstand, seine Ideen von einer Verjüngung des Kunstsinnes in hochgeschätzten Erzeugnissen des Gewerbfleisses bildnerisch zur Anschauung zu bringen, sich als modernen Prometheus vorzustellen, wie er den unter dem Einfluss grober, eintönig-mechanischer Arbeit körperlich Verbildeten und geistig Verrohten und in nicht minder eintönig-hässlicher Umgebung jeden Schönheitssinns verlustig Gegangenen eine neue Auffassung vom Leben einzuhauchen suchte, ihnen die Lehre von einer zu erkämpfenden besseren Zukunft verkündete, in der die Menschen in Kraft, Schönheit und Freude leben und sich bethätigen würden.
Morris’ Evangelium war das Evangelium der Freude, der gesunden Schönheit. Seine Poesie war stark romantisch, aber um eine Welt schildern zu können, die seinem Gesellschafts-Ideal am Nächsten kam, musste er in ein Zeitalter zurückgreifen, wo der Erwerbssinn noch nicht dem ganzen Gemeinwesen seinen Stempel aufgedrückt hatte, in die vorkapitalistische Zeit. War seine Romantik antikapitalistisch, so war sie doch darum nichts weniger als antidemokratisch. Von jener modernen aristokratischen Romantik, jener Romantik der Fäule, der Uebersättigung, des Raffinements, finden wir bei ihm keine Spur. Er liebte die Kunst, aber die einfache, nicht die raffinirte, ihre demokratische, nicht ihre aristokratische Seite.
„Zuvörderst muss ich Sie bitten“, heisst es in einem von ihm im Jahre 1883 in Oxford gehaltenen Vortrag, „den Begriff Kunst über jene Gegenstände hinaus auszudehnen, die reine Kunstwerke sind, nicht nur Malerei, Bildhauerei und Architektur, sondern auch die Formen und Farben aller Hausgeräthe, ja, selbst die Anlage der Felder für Ackerbau und Weide, die Gestaltung der Städte und Strassen mit heranzuziehen. Denn ich muss Sie bitten, sich klar zu werden, dass jedes einzelne der Dinge, die zusammen unsere Umgebung ausmachen, nothwendiger Weise entweder schön oder hässlich ist, entweder uns erhebt oder herabdrückt, entweder eine Plage und Qual für seinen Verfertiger ist oder eine Freude und ein Trost für ihn“. Und den letzten Gedanken führt er im gleichen Vortrag an anderer Stelle sehr schön dahin weiter aus, dass er sagt: „Die Kunst ist der Ausdruck der Freude des Menschen an seiner Arbeit. Wenn dieser Satz nicht wörtlich von Professor Ruskin herrührt, so fasst er wenigstens seine Lehre über diesen Gegenstand zusammen. Und nie ist eine wichtigere Wahrheit verkündet worden; denn wenn es durchweg möglich ist, Arbeit und Lust zu vereinen, welch’ seltsamer Wahnsinn ist es dann, wenn Menschen sich willig zu lustloser Arbeit entschliessen, welch’ scheussliche Ungerechtigkeit von Seiten der Gesellschaft, Menschen zu lustloser Arbeit zu zwingen. Denn da alle nicht unehrlichen Menschen arbeiten müssen, so handelt es sich darum, sie entweder zu zwingen, ein unglückliches Leben zu führen, oder ihnen zu erlauben, glücklich zu leben. Die Hauptanklage, die ich gegen die moderne Gesellschaft erhebe, ist, dass sie auf der kunstlosen und damit glücklosen Arbeit der grossen Mehrheit der Menschen beruht, und all’ dies äussere Degradirung des Anblicks des Landes, von der ich gesprochen, ist mir nicht nur deshalb verhasst, weil sie den Wenigen unter uns, die noch Liebe zur Kunst haben, Missvergnügen verursacht, sondern auch, und gerade vor Allem, weil sie der Beweis ist für das Leben, das das System der wirthschaftlichen Konkurrenz der grossen Masse der Bevölkerung aufzwingt“.
Jede Arbeit sollte nach Morris’ Aufassung ein künstlerisches Element enthalten, die Herrschaft des Arbeitenden über den Stoff zum Ausdruck bringen. Im Bewusstsein des wirklichen Schaffens, der freien Behandlung des Materials, sah er die Würze, die die Arbeit zum Vergnügen macht. Daher seine eigenthümliche Stellung zur Maschine, die der Schöpferkraft des Arbeiters keinen Raum lässt, vielmehr den schöpferischen Sinn in ihm ertödtet. Dass er diese Abneigung vielleicht in mancher Hinsicht übertrieb, soll nicht geleugnet werden. Wenn er z. B. seine Kelmscott-Ausgaben von auserlesenen Werken der Dichtkunst auf der Handpresse herstellen liess, so liess sich dagegen einwenden, dass die Druckmaschine heute besser oder jedenfalls nicht schlechter druckt als die Handpresse, die zeitraubende Arbeit des Druckens auf dieser also für die Güte des Werks überflüssig war. Aber Morris hatte eben auch über nothwendig und überflüssig seine eigenen Gedanken. Nicht die rein technische Oekonomie war ihm das erste Erforderniss, sondern, wenn ich mich so ausdrücken darf, die Oekonomie des Arbeitsgenusses. „Alle Arbeit, die schwer mit der Hand zu verrichten wäre,“ lässt er in seiner Utopia einen Vertreter der Zukunftsgesellschaft sagen, „wird mit ausserordentlich verbesserten Maschinen gemacht, und alle Arbeit, die mit der Hand herzustellen ein Vergnügen ist, wird ohne Maschine angefertigt.“ Die Maschine soll nur Qual, nicht Arbeit schlechtweg ersparen. Der Gedanke scheint auf den ersten Blick wirklich utopistisch, auf maasslose Verschwendung hinauszulaufen. Aber nach Morris, und er hatte darin sicher Recht, findet gerade heute maasslose Arbeitsverschwendung statt, die zweckloseste Abrackerei, die widersinnigste Arbeitstheilung zwischen Mensch und Maschine. Ein grosser Theil der Menschheit rackert sich ab, um faktisch Ueberflüssiges, das Niemand wirkliche Freude macht, zu schaffen, und ein anderer Theil treibt unsinniges Zeug, um der ertödtenden Langeweile des Nichtsthuns zu entgehen. Die produktive Arbeit wieder zum Genuss – zur anziehenden Arbeit Fourier’s – zu machen, darin sah er eine der Hauptaufgaben, die Hauptaufgabe des Sozialismus. Jeder Arbeiter in seiner Art ein Künstler, jedes Arbeitsstück ein Dokument der Lust und Liebe, mit der es verfertigt worden, das war sein Zukunftsideal.
Trotz, oder vielmehr wegen seiner hohen künstlerischen Denkweise liebte Morris die Einfachheit, denn alle wahre Kunst ist einfach. Und wie in der bildenden Kunst, so in der Litteratur. Mit fast allen grossen Männern hatte er die Liebe für Sage und Märchen, für die einfache Erzählung gemein, wie er ja selbst vorwiegend Märchendichter war. In hohem Grade einfach war auch sein Auftreten. Es wäre unwahr und nicht einmal ein Lob zu behaupten, dass er nicht das Bewusstsein seines Werthes gehabt hätte. Er verstand es sehr gut, Leute fern von sich zu halten, die ihm antipathisch waren. Aber er hatte nichts Affektirtes an sich, kein falsches Pathos, keine erheuchelte Herrlichkeit. Er sprach immer zur Sache, selten lange, und nur die Unruhe seiner Bewegungen verrieth, dass es in ihm arbeitete. Auch seine Kleidung, so eigenartig sie war, war unauffällig. Nichts lenkte von vornherein den Blick auf sie. Nur dem aufmerksamen Beschauer sagten das blaue Hemd und der ungezwungen getragene kurze Rock, dass der Träger sie nicht von ungefähr gewählt. Ueberhaupt liebte es Morris, mehr anzudeuten als prahlerisch anzukündigen. Vom modernen Theater hielt er, wie einer seiner Freunde, der „stets paradoxe“, aber durchaus ehrliche Fabianer, George Bernard Shaw, in der Saturday Review erzählt, sehr wenig, und als er einmal in einem von ihm selbst verfassten sozialistischen Schwank den Erzbischof von Canterbury zu spielen hatte, hielt er ein paar Kniehosen für vollkommen genügend, den Charakter der Rolle zur Anschauung zu bringen.
Dieser Schwank oder, um die von Morris gewählte Bezeichnung zu nehmen, dieses Zwischenspiel: Der Spiess umgekehrt, oder der erwachte Nupkins, ist im Jahre 1887 verfasst, und sein „Held“ Nupkins ist der vor einigen Monaten endlich pensionirte Londoner Richter Peter Edlin, dessen Praxis, die winzigsten Eigenthumsvergehen kleiner Leute mit langjährigen Gefängniss und Zuchthausstrafen zu ahnden, nicht nur die Entrüstung der Sozialisten herausforderte. Das stück wurde im Lokal der sozialistischen Liga aufgeführt, einem einfachen Lagerraum im zweiten Stockwerk eines Geschäftshauses unweit von Smithfield Markt. Es besteht aus zwei Theilen: einer Gerichtsverhandlung gegen einen Schwindler, ein armes Weib und den Sozialisten Jack Freeman, die den Richter in seiner Eigenschaft als Vertreter skandalöser Klassenjustiz zeigt und am Schluss durch die ausbrechende Volkserhebung unterbrochen wird, und einer Scene nach der siegreichen Revolution, wo Nupkins verurtheilt wird, für seinen Lebensunterhalt produktiv zu arbeiten. In der Gerichtsscene schildert Morris eine jener Agitations Versammlungen auf der Strasse, wie wir sie oben skizzirten. „Ich war von der äusserst spärlichen Zuhörerschaft enttäuscht“, lässt er den als Zeugen auftretenden Erzbischof, den er selbst spielte, aussagen. „So gut ich mich erinnere, waren zu Beginn Ihrer (des Angeklagten) Rede ausser Ihnen drei Personen anwesend. Die Thatsache hat sich meinem Gedächtniss unter der Einwirkung der groben und rohen Worte eingeprägt, die Sie beim Besteigen des Stuhls oder Sockels zu Ihrem Begleiter äusserten, der ein Packet Exemplare eines verwerflichen und gemeinen Blattes, genannt Commonweal, unter dem Arm trug, von denen er mich, wenn ich so sagen darf, nöthigte, eines zu kaufen. Sie sagten: ‚Das muss ich sagen, Bill, verdammt harte Geschichte, an einen Laternenpfahl, eine Jöhre und einen alten Kumpan ’ne Rede halten zu sollen‘ – der letztere Ausdruck auf mich gemünzt, wie ich annehme“. Wie die Rede fortging, habe dann ein herumziehender Eishändler seinen Verkaufsstand dort aufgeschlagen, zwei Schutzleute hätten sich genähert, und bis zum Schluss der Rede seien dann ausserdem noch etwa zehn Personen herangetreten. Ein anderer Zeuge – der Dichter Tennyson, den Morris als Repräsentant der Kunst heranzieht und mild parodirt – berichtet über eine Sitzung der sozialistischen Liga, die aus fast 17 Personen bestanden habe: „Sie sassen und rauchten; und ein Dummkopf führte den Vorsitz, und ein anderer Dummkopf verlas Briefe; und dann zerbrachen sie sich, bis es mir zum Ekel wurde, den Kopf, wo dieser oder jener Dummkopf nächste Woche hingehen sollte, dummes Zeug zu schwätzen, und dann und wann rissen ein alter kahlköpfiger Dummkopf und ein stämmiger Dummkopf in Blau [1] Witze, über die ziemlich viel gelacht wurde. Aber ich verstand die Witze nicht, und so trollte ich mich“. [2]
In diesem Scherzbild ist bitterer Ernst. Das war die Situation der Sozialisten Londons zu der Zeit, wo Morris sich mit seiner ganzen Persönlichkeit der Bewegung widmete. Und zu der Gegnerschaft der gewerkschaftlichen Organisation, der tödtenden Gleichgiltigkeit der unorganisirten Arbeiter kamen die Zerwürfnisse in den eigenen Reihen, die Konflikte im Lager des kleinen Häufleins Sozialisten, die die herkulische Aufgabe der Besiegung jener Gegnerschaft und Indifferenz vor sich hatten. Es wäre unpassend, heute auf die Umstände zurückzukommen, die zur Spaltung des sozialistischen Lagers, zur Gründung des Commonweal führten. Soviel darf jedoch gesagt werden, dass die persönliche Bitterkeit bei den Betheiligten, zu denen in erster Reihe Morris gehörte, eine sehr tiefgehende war. Aber trotzdem es an Material dazu nicht fehlte, wird man sein Blatt, das Commonweal, von Anfang bis zu Ende vergeblich nach einem jener gehässigen persönlichen Angriffe auf die Gegenseite durchsuchen, die sonst selbst bei rein sachlichen Differenzen so beliebt zu sein pflegen. In dieser Hinsicht kann man das von Morris gegebene Beispiel nicht hoch genug stellen. Ueberhaupt wüsste ich nicht, dass das Commonweal, so lange Morris Einfluss auf dasselbe hatte, je einem Angriff auf Sozialisten anderer Schattirung enthielt.
Die sozialistische Liga gerieth allmählich in’s anarchistische Fahrwasser. Man hatte sich so sehr auf den Anti-Parlamentarismus versessen, dass man schliesslich von der Logik der Dinge dazu getrieben wurde, mit den Anarchisten in’s gleiche Horn zu stossen. Ein Theil der Mitglieder der Liga trat aus, andere gingen völlig zu den Anarchisten über, wieder andere suchten, eine Mittelstellung einzunehmen. Zu ihnen gehörte Morris. Aber es gab bald wenig mehr zu vermitteln, Morris selbst war enttäuscht und verhielt sich immer passiver. Shaw schreibt seine Enttäuschung dem Ausreissen der Londoner Arbeiter bei dem Zusammenstoss mit der Polizei auf Trafalgar Square (13. November 1887) zu, und dass dies auf ihn, der sich damals äusserst muthig benahm, sehr niederdrückend gewirkt haben wird, ist wohl glaublich. Eine andere Art Enttäuschung kam aus dem Schoosse der Bewegung selbst. Morris sah sich schliesslich genöthigt, sich ganz vom Commonweal zurückzuziehen, das nun rein anarchistisch redigirt wurde. Auch diese Trennung ging jedoch ohne jeden öffentlichen Skandal vor sich. Und als später der Anarchist Mowbray als Herausgeber des Commonweal für einen thörichten Artikel verhaftet wurde, den das Blatt gebracht hatte, war es der gründlich vom Anarchismus kurirte Morris, der sofort alles ihm zugefügte Unrecht vergass und eine ziemlich hohe Kaution stellte, um Mowbray auf freien Fuss zu bringen.
Dem Sozialismus ist Morris bis zu Ende treu geblieben. Hier wurzeltene Ueberzeugung zu tief, um einer Stimmung weichen zu können. Er war kein Fanatiker der Methode, und darum ist nichts absurder, als jetzt nach seinem Tode darüber zu streiten, ob er zuletzt sich mehr der fabianischen Taktik oder der Taktik der sozialdemokratischen Föderation genähert habe. Wahrscheinlich sah er, dass hüben und drüben tüchtige und ehrliche Leute waren, die in ihrer Weise die Sache des Sozialismus förderten, und jedenfalls hatte er persönliche Freunde in allen Lagern, in welche die kämpfende Sozialdemokratie Englands heute zerfällt. Mit einem Worte, er war kein Sektirer. Wohl hatte er in vielen Punkten sehr bestimmte Ansichten; konnte er sogar, wenn es darauf ankam, sehr starrköpfig sein, aber er sah doch ein, dass sich eine so umfassende Bewegung, wie die sozialistische, am wenigsten in einem Lande wie England nach einem Kopfe modeln, dass sich die Einheit, die er erstrebte, nicht erzwingen lässt. Nicht aus einem Mangel an Festigkeit des Charakters, nicht aus schmählichem Bedürfniss nach Allerweltsbrüderschaft entsprang die ausserordentliche Toleranz, die William Morris in der sozialistischen Bewegung bekundet hat. Sie wurzelte in seinem künstlerischen Empfinden, seinem feinen, jede tüchtige Individualität schätzenden, aller Schablone abholden Geist, sie entspricht auch dem Geist der Geschichte, dem Höhepunkt der Entwicklung seines Landes. Der wohlerzogene festländische Sozialist braucht Zeit, diesen Geist zu verstehen. Hat er ihn einmal, begriffen, dann erst wird er einen Mann wie William Morris verstehen lernen.
1. Morris selbst
2. Auf die Frage, ob er die Sozialisten wenigstens verstanden habe, wenn sie im Ernst waren, lässt Morris den damals noch lebenden Tennyson antworten: „Nein, ganz und gar nicht. Ich kann auch nicht sagen, dass ich es versucht habe. Ich will den Sozialismus gar nicht verstehen; er gehört nicht zu meiner Epoche“. Sehr hübsch ist auch der Naturforscher Tyndall, soweit Politiker, parodirt. Morris lässt ihn alles Unheil der Welt auf Gladstone’s Homerulebill zurückführen, die dem armen Tyndall in der That den Kopf verdreht hatte. Ueberhaupt ist „der erwachte Nupkins“ wohl das beste und jedenfalls das geschmackvollste bisher geschriebene sozialistische TendenzLustspiel.
Zuletzt aktualisiert am 5. November 2020