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Eduard Bernstein, Die deutsche Sozialdemokratie und die türkischen Wirren, Die neue Zeit, 15. Jg. 1. Bd. (1897), H. 4, S. 108–116.
https://library.fes.de/cgi-bin/neuzeit.pl?id=07.02479&dok=1896-97a&f=189697a_0108&l=189697a_0116&c=189697a_0108..
Transkription: Daniel Gaido.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Es wird keinem aufmerksamen Beobachter entgangen sein, dass die Haltung der sozialdemokratischen Presse zu den Kämpfen der türkischen Armenier gegen das Sultansregiment und seine Alliierten eine nichts weniger als Einheitliche ist. Artikel zu Gunsten der ersteren wechseln mit solchen, welche mehr oder weniger direkt für die ottomanische Regierungspartei ergreifen und die Bewegung der Armenier auf die Umtriebe von Agenten der russischen Regierung zurückführen. Nur in einem Punkt herrscht eine gewisse Übereinstimmung. Auf allen Seiten vermeidet man es, sich klar und unzweideutig darüber auszusprechen, für welche positive Lösung der gegenwärtigen Wirren die Sozialdemokratie einzutreten oder ihre Stimme in die Waagschale zu werfen hat. Die Unsicherheit über den in dieser Hinsicht einzunehmenden Standpunkt spiegelt sich in dem fast ängstlichen Bemühen wider, die Besprechung der Ereignisse so unbestimmt als möglich zu halten.
Das ist aber für eine Partei von der Stärke der deutschen Sozialdemokratie ein geradezu beschämender und auf die Dauer nicht aufrechtzuerhaltender Zustand. Wenn matt den vierten Teil der Wähler des Deutschen Reiches repräsentiert, so trägt man ein Stück Verantwortung für die Politik dieses Reiches. Als Mitunterzeichner des Berliner Vertrags von 1878 ist das Deutsche Reich Mitbürge für die in diesem Vertrage ausbedungenen Reformen in Türkisch-Armenien, es hat im Konzert der Großmächte Sitz und Stimme, und wie es diese Stimme ausübt, in welchem Sinne es zu den Vorschlägen auf Regelung der Wirren in der Türkei Stellung nimmt, untersteht der Kritik – wenn auch leider noch nicht der Entscheidung – des deutschen Reichstags. Je nachdem wird es Pflicht der Vertretung der Sozialdemokratie im Reichstag werden, die Reichsregierung für ihr Verhalten in dieser Frage zur Rechenschaft zu ziehen. Aber das wäre gegebenenfalls nur eine Kritik nach geschehener Tat. Die Verpflichtung der Partei geht weiter. Nach Maßgabe ihres Einflusses auf die öffentliche Meinung muss sie versuchen, die Politik der Reichsregierung von vornherein zu beeinflussen, ihr eine bestimmte Direktive zu geben, muss sie die deutsche Diplomatie zur Unterstützung gewisser Vorschläge und Verwerfung anderer auffordern. Ob ihre Aufforderungen befolgt werden, kann an der Verpflichtung nichts ändern. Ihre unter sehr viel ungünstigeren Umständen erfolgte Verwahrung gegen die Annexion Elsass-Lothringens war absolut aussichtslos und war doch ein geschichtlich bedeutender Akt.
Nur in einem Falle wäre die Zurückhaltung der deutschen Sozialdemokratie, so wenig rühmlich sie ist, wenigstens kein Verstoß gegen ihre politische Pflicht. Wenn ihr bekannt wäre, dass die deutsche Reichsregierung dieselbe Haltung in der türkisch-armenischen Frage einnimmt, die sie unter den obwaltenden Umständen für die richtig hält, liegt ein zwingender Anlass, ihre Stimme zu erheben, nicht vor. Wie weit ihre Presse den Ereignissen folgt, ist dann nur mehr eine Frage der Informationsausgaben dieser Presse, aber keine Frage der Parteipolitik.
Ist nun die Orientpolitik der Reichsregierung eine solche, dass die Sozialdemokratie der Verpflichtung enthoben ist, ihr mit eigenen Vorschlägen entgegenzutreten? Dies erfordert zunächst, sich darüber klar zu werden, welches die Gesichtspunkte sind, von denen aus der Sozialdemokratie die Emanzipationskämpfe der unter türkischer Herrschaft stehenden Völker zu betrachten hat.
Von vornherein liegt es nahe, jeder Emanzipationsbewegung unsere Sympathie zu schenken, und im Allgemeinen wird man guttun, diese einer demokratischen Partei natürliche Tendenz zum Ausgangspunkt der Untersuchung zu nehmen. Geben wir zunächst dem Gefühl sein Recht und fragen wir dann, ob Verstand und berechtigtes Interesse zum gleichen Schluss gelangen oder inwiefern sie ihn modifizieren.
Nicht jeder Kampf beherrschter Völkerschaften gegen ihre Oberherren ist jedoch in gleicher Weise ein Emanzipationskampf. Afrika beherbergt Stämme, die sich das Recht vindizieren, Sklavenhandel zu treiben, und nur durch die europäischen Kulturnationen daran verhindert werden können. Ihre Erhebungen gegen die letzteren lassen uns kühl, ja, werden uns im gegebenen Falle zu Gegnern haben. Das Gleiche gilt von jenen barbarischen und halbbarbarischen Völkerschaften, die aus dem Überfall ackerbautreibender Nachbarvölker, vom Vieh- etc. Raub ein ständiges Gewerbe machen. Kulturfeindliche und kulturunfähige Völker haben keinen Anspruch auf unsere Sympathie, wo sie sich gegen die Kultur erheben. Wir erkennen kein Recht auf Raub, kein Recht der Jagd gegen den Ackerbau an. Mit einem Wort, so kritisch wir der erreichten Kultur gegenüberstehen, erkennen wir doch ihre relativen Errungenschaften an und machen sie zum Kriterium unserer Parteinahme. Wir werden bestimmte Methoden der Unterwerfung von Wilden verurteilen und bekämpfen, aber nicht, dass man Wilde unterwirft und ihnen gegenüber das Recht der höheren Kultur geltend macht.
Ein Emanzipationskampf, für den wir uns zu erwärmen und gegebenenfalls unsere Kraft einzusetzen haben, muss ein kulturelles Interesse in sich tragen. Sei es, dass Völker, Nationalitäten, die ein eigenes Kulturleben entwickelt haben, sich gegen eine Fremdherrschaft erheben, die ihre Entwicklung hindert, sei es, dass vorwärtsstrebende Klassen sich gegen ihre Unterdrückung durch zurückgebliebene Klassen auflehnen. Wir erkennen jedem Volke das Recht der Nationalität zu, das sich fähig erwiesen hat, eine solche, ein nationales Kulturleben zu entwickeln, bzw. zu erhalten.
Bis dahin werden unsere Ausführungen schwerlich auf ernsthaften Widerspruch stoßen. Wenn vor einiger Zeit sozialistischerseits der Vorschlag gemacht werden konnte, den Wilden und Barbaren in ihren Kämpfen gegen die vordringende kapitalistische Zivilisation Beistand zu leisten, so. ist das ein Ausstoß von Romantizismus, der nur in seinen Konsequenzen verfolgt zu werden braucht, um seine Unhaltbarkeit zu erweisen.
Aber nicht einmal jeder Erhebung von kulturfähigen Völkern können wir mit gleicher Sympathie gegenüberstehen. Die Freiheit einer unbedeutenden Nationalität in außereuropäischen oder halbeuropäischen Gegenden wiegt nicht die freiheitliche Entwicklung der hochzivilisierten großen Kulturvölker Europas auf. Wo daher ein Kampf solcher die Interessen dieser Entwicklung ernsthaft gefährdet ist eine ablehnende Haltung ihm gegenüber durchaus am Platze.
Wohlgemerkt, ernsthaft gefährdet. Denn es hieße den berechtigten Selbsterhaltungstrieb der Nationen zu einem unerträglichen und selbst wieder reaktionären Egoismus ausweiten, wollte man jede kleine Unbequemlichkeit, jedes Phantom einer möglicherweise eintretenden Gefahr zum Vorwand nehmen, sich den Bestrebungen unterdrückter kleinerer Nationalitäten auf Abschüttelung eines drückenden Joches feindselig gegenüberzustellen, selbst wenn es mit dem Hinweis auf den großen Tag „des endgültigen Sieges des Sozialismus“ geschieht, der allen Unterdrückten Erlösung bringen werde.
Mit diesem schönen Hinweis hat sich bekanntlich auch der jüngste Londoner Sozialistenkongress aus der Schlinge gezogen, als er zu dem Streit unter den polnischen Sozialisten über ihre Stellung zur Frage der Wiederherstellung Polens sich zu äußern hatte. Angesichts der knappen Zeit, die dem Kongress zur Verfügung stand, und die eine wirkliche Debatte über die Frage gar nicht erlaubte, ist es zu verzeihen, wenn er zu einem Gemeinplatz seine Zuflucht nahm. Er hat sich damit das Verdienst erworben, dass sich unsere polnischen Freunde nun darüber streiten können, welcher Richtung unter ihnen die Resolution des Kongresses eigentlich mehr Recht gibt. Unserer Ansicht nach der in dieser Zeitschrift von Fräulein Luxemburg vertretenen Richtung, aber wir müssen gleich hinzufügen, dass wir den Hinweis auf den „endgültigen Sieg des Sozialismus“ ganz und gar nicht unterschreiben. Wenn die Italiener und andere Völker ohne diesen endgültigen Sieg zu ihrer nationalen Befreiung gelaugt sind, so ist gar nicht abzusehen, warum die Polen und andere noch nicht befreite Nationalitäten auf ein Ereignis verwiesen werden sollen, dass sicherlich nicht in der Form eines „endgültigen Sieges des Sozialismus“ eintreten wird. Fräulein Luxemburg hat für die Taktik der Gruppe, der sie angehört, sehr viel triftigere Argumente ins Feld geführt, als diesen utopischen Hinweis auf das Jüngste Gericht.
Wie sich die Arbeiter nirgends durch den Hinweis auf die zukünftige Gesellschaft, wo es kein Lohnsystem mehr geben wird, auf die Dauer davon abhalten lassen, für unmittelbare Verbesserung ihrer Löhne zu kämpfen, so wird sich auch kein Volk, keine Nationalität auf den Tag einer allgemeinen Befreiung vertrösten lassen, sondern jede günstige Gelegenheit benutzen, ihre Freiheit schon vorher zu erringen. Das ist ihr gutes Recht, das wir ihnen selbst dann nicht streitig machen werden, wenn es mit unserem jeweiligen Interesse kollidiert und die Verhältnisse uns zwingen, um höherer Interessen willen gegen sie Stellung zu nehmen, wie das um die Mitte dieses Jahrhunderts von den europäischen Revolutionsparteien gegenüber den christlichen Untertanen der Türkei geschehen ist.
Wir können darauf verzichten, eine nachträgliche Untersuchung darüber anzustellen, ob das immer richtig war, ob nicht manchmal in dieser Hinsicht mehr geschehen als notwendig. Soviel ist jedenfalls unbestreitbar, dass die europäische Revolution lange Zeit Recht hatte, wenn sie in Russland ihren Erbfeind und in Folge dessen in Russlands Gegner, der Türkei, ihren zeitweiligen Verbündeten sah und sich jeder Schwächung dieses Wirten widersetzte. Speziell für Deutschland brauchen wir nur an Olmütz zu erinnern. Selbst wie die nationale Einigung Deutschlands heute beschaffen ist, ist sie nur durch Überrumpelung Russlands möglich geworden; dass sie aber nur in der Form der Zerreißung Deutschlands möglich war, ist in erster Linie Russlands Werk. Auch waren es nicht Humanitätsgründe, die 1875 Russland veranlassten, sich der von Bismarck und Moltke für nötig gehaltenen erneuerten Heimsuchung Frankreichs zu widersetzen, sondern das Bestreben, Deutschland nicht zu stark werden zu lassen. Seitdem hat Russland, trotz der Liebesdienste, die ihm Bismarck immer wieder geleistet, mehr und mehr sich zum Schutzherrn Frankreichs aufgeworfen, lange Zeit in der stillen Hoffnung, schließlich doch noch eine orleanistische Reaktion zu Stande zu bringen, die es erlauben werde, sich offen vor der Welt als Alliierte zu zeigen. Schließlich hat Zar Nikolaus es für angezeigt gefunden, einen Schritt weiter zu gehen und der Republik einen Besuch abzustatten, wobei er indes nicht versäumte, seine geliebten Orleans in jeder Weise auszuzeichnen.
Wenn beiläufig die Franzosen den russischen Autokraten mit Jubel empfingen, so ist das zu natürlich, als dass man sich darüber aufhalten oder durch Redensarten hinwegtäuschen sollte. Es ist lächerlich zu sagen, dass die Franzosen bei der russisch-französischen Allianz nur die Zahlenden sind. Wenn dieses Bündnisse Russland zu einer unerhörten Machtstellung in Europa verhalfen hat, so ist es andererseits Russlands Freundschaft zuzuschreiben, dass Frankreich sich in so kurzer Zeit wieder zur Position einer Großmacht ersten Ranges emporschwingen konnte, die in Europa, Asien und Afrika ein gewaltiges Wort in die Waagschale zu werfen hat. Ohne Russland im Rücken hatte Frankreich heute schwerlich den größten Teil Hinterindiens, ganz Madagaskar, und ein Riesenstück Afrikas zu eigen. Die Franzosen sind ein kluges Volk, das bei aller Lebhaftigkeit wohl zu rechnen und namentlich auch die Geschäftsregel versteht, dass man jammern muss, wenn man es zu etwas bringen will. Außerdem kann man es ihnen nicht verdenken, wenn sie trotz aller Beteuerungen deutscherseits, dass man absolut nicht daran denke, Frankreich zu nahe zu treten, die Deckung durch die Freundschaft Russlands vorziehen.
Wir wollen uns auch gar nicht darüber tauschen, dass das russisch-französische Bündnis bei einem großen Teil der französischen Arbeiter bis in die Reihen der Sozialisten hinein populär ist oder wenigstens als berechtigt anerkannt wird. Für denjenigen, der die Dinge nüchternen Blicks betrachtet, hatte es durchaus nichts Überraschendes und damit auch nichts zur Entrüstung Veranlassendes, als verschiedene sozialistische Gemeinderäte es nicht über sich bekamen, Hegen die Bewilligung der Mittel für die Empfangsfeierlichkeiten zu Ehren des Zaren zu stimmen. Der Satz, dass der Proletarier kein Vaterland hat, wird von dem Augenblick an, wo, und in dem Maße modifiziert, als derselbe als vollberechtigter Staatsbürger über die Regierung und Gesetzgebung seines Landes mitzubestimmen hat, und dessen Einrichtungen nach seinen Wünschen zu gestalten vermag. Die Geschichte und die Institutionen Frankreichs wirken zusammen, in dem französischen Arbeiter Nationalgefühl zu entwickeln, und solange es überhaupt Nationen gibt, wird sich daran noch auf ziemliche Zeit hinaus wenig ändern. Auch schließt das Nationalbewusstsein internationales Denken und Handeln nicht aus, ebenso wenig wie die Internationalität die Wahrung nationaler Interessen verbietet. Wenn wir jedoch den französischen Sozialisten das Recht zuerkennen, innerhalb bestimmter Grenzen nationale Rücksichten gelten zu lassen, so schließt das auf der anderen Seite bereits ein, dass wir in Fragen der Weltpolitik nicht jedes Schlagwort unbesehen annehmen, das von der Seine herüberklingt.
Wenn Russland auf Frankreich innere politische Entwicklung nur geringen Einfluss auszuüben vermag, so ist es für Deutschlands politische Entwicklung ein ständiges und direktes Hindernis. Mit dem zaristischen Russland im Rücken wird Deutschland es nie zu einer wirklichen politischen Freiheit bringen. Es ist nicht einmal als Großmacht nach außen hin frei. Seine ganze internationale Politik wird durch die Rücksichten gefälscht, die es heute auf den russisch-französischen Zweibund nehmen muss. Und um die Abhängigkeit noch zu erhöhen, predigt gerade jene deutsche Presse, die sich als die besonders nationale aufzuspielen liebt, eine stupide Anglophobie, dank deren wir am Vorabend eines russisch-englisch- französischen Bündnisses stehen, das Deutschlands Position noch unbehaglicher gestaltet als sie ohnehin ist. Der sozialistische Labour Leader brachte jüngst eine Zeichnung, welche die Weisheit dieser Engländer hab drastisch veranschaulicht. Der russische Bär und der gallische Hahn – letzterer schon im Bärenpelz – halten sich umschlungen und erdrücken dabei beinahe den zwischen ihnen stehenden Repräsentanten des deutschen Reiches, der mit gepresster Stimme ausruft: „Oh, lasst uns gegen England losziehen“. Aber Bär und Hahn machen keine Miene, ihm den Gefallen zu tun.
Wie steht es nun im Orient? Ist die Türkei auch heute noch eine Deckung gegen Russland? Kein Mensch mit gesunden Sinnen wird das behaupten wollen. Zerfressen im Innern, unfähig sich zu einem modernen Staatswesen emporzuarbeiten, ist sie das Spielzeug der russischen Diplomatie geworden. Auf Russland blickt der Sultan als seinen vornehmsten Schutzgeist, wie Russland pfeift, so tanzt er. In ihrer derzeitigen Verfassung ist die Türkei nicht nur keine bedenkliche Nachbarschaft für Russland, sondern im Gegenteil die angenehmste, die es sich wünschen kann. Es ist keine Übertreibung zu sagen, der Türke ist Russlands Wachtposten am Bosporus und an den Dardanellen.
Wie das gekommen ist, braucht hier nicht erörtert zu werden. Genug, es ist so. Vor dreißig und vierzig Jahren war es möglich, eine Regenerationsfähigkeit der Türkei von innen heraus für möglich zu halten, heute kann nur davon träumen, wer die Augen absichtlich vor dem Licht der Tatsachen verschließt. Es ist nicht nötig, die Ursache dieser Reformunfähigkeit in den besonderen Eigenschaften der Türken selbst und ihrer Religion zu suchen, obwohl diese unzweifelhaft auch ein Moment der Rückständigkeit der Einrichtungen des Landes bilden. Dagegen spricht nicht, dass Mohammedaner (aber nicht Türken) dem durch Barbareneinfälle zurückgeworfenen Süd-Europa gegenüber einst wirklichem Träger der Kultur waren. Sie waren das als Erben griechisch-alexandrinischer Wissenschaftspflege, die sie nicht sofort vernichteten, die sie aber, einmal auf ihre eigenen Hilfsquellen zurückgeworfen, weder weiter zu entwickeln noch auch nur sich fortzuerhalten wussten. Ihre Religion, der Islam, hat sie nicht daran verhindert, wieder zu vollständigen Barbaren zu werden, er hat es, unter dem Einfluss orientalischer Lebensverhältnisse, eher befördert, denn er ist mit seiner Bestimmungslehre und seinen Satzungen die Religion von Barbaren: Nomaden, Kaufleute alten Stils, in Dorfgemeinschaften lebende Bauern.
Indes die Religion allein kann auf die Dauer kein Volk in seiner Entwicklung aufhalten, wenn nicht andere Momente noch hinzutreten. Was die Türken verhindert hat, es zu einem modernen Staatswesen zu bringen, ist, dass sie in ihrem Reich Eroberer geblieben sind, als Eroberer gewirtschaftet haben. Sie haben es nicht verstanden, die unterworfenen Völkerschaften zu assimilieren, sie haben sie nur auszurauben verstanden. Dass sie dabei die Henne, die ihnen die goldenen Eier legte, nicht abschlachteten, ist nur ein mäßiges Verdienst, immerhin kann anerkannt werden, dass sie nicht das grausame, blutgierige Pack gewesen sein können, als dass sie von Kanzeldemagogen hingestellt werden. Sie waren eben Barbaren: Gewalttätigkeit wechselte mit Indolenz ab. Die Naturalabgaben, die sie den unterworfenen Völkern abpressten, bedrückten diese, aber erdrückten sie nicht. Leben und leben lassen ist das Prinzip der Naturalwirtschaft. Ebenso entspricht der Naturalsteuer die lokale Selbstregierung, weil sie die Steuererhebung erleichtert. Die Freiheit in der Türkei, von der gern gesprochen wird, ist die Freiheit des vormodernen Staates, des Staates, der es noch nicht zu einer starken, allen seinen Bestandteilen ihr Gesetz aufzwingenden Zentralgewalt gebracht hat. Der Sultan ist Despot in einem ganz anderen Sinne wie der Zar. Er hat nominell noch größeres Herrschaftsrecht als dieser, tatsächlich aber viel geringeres. Er herrscht durch Vasallen, die in ihrer Art wieder kleine Selbstherrscher sind und ihre Untervasallen haben, nicht durch eine zentralisierte, nach einheitlichen Bestimmungen aufgebaute Bürokratie. Korrupt, zu Übergriffen geneigt, wie die russische Bürokratie ist, ist sie doch kein Hemmnis der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes, denn sie gewährt eine immer größere Sicherheit des Erwerbs. Die Paschawirtschaft in der Türkei dagegen ist direkt und ihrer ganzen Natur nach entwicklungsfeindlich. [2]
So erklärt sich der sonst unbegreifliche Widerspruch, dass alle unterworfenen zivilisationsfähigen Völkerschaften der Türkei den russischen Absolutismus der türkischen „Freiheit“ vorziehen. Diese Freiheit entspricht der Freiheit des mittelalterlichen Feudalismus, die auch in vieler Beziehung größer war, als die des fürstlichen Absolutismus. Aber so wenig diese Erkenntnisse uns veranlassen kann, uns nach der Rückkehr zum Feudalismus zu sehnen, so wenig können wir in der türkischen Freiheit einen Grund der Erhaltung der Armenier unter türkischer Herrschaft erblicken. An dieser Freiheit gehen sie zu Grunde, denn es ist die Freiheit einer Heerde von Blutigeln, sie auszusaugen, die Freiheit des Kurden und Tscherkessen, sie auszurauben und totzuschlagen. Konsulatsberichte von Vertretern aller Nationen haben die Gräuel bestätigt, die diese Barbaren an wehrlosen Armeniern verübt haben, und die Sozialdemokratie sollte für den Notschrei eines so entsetzlich bedrückten Volkes kein Ohr haben?
Was „La Barbe“ in Heft 2 der Neuen Zeit über die Zustände in Türkisch-Armenien schreibt, mag im Einzelnen etwas übertrieben sein, im Großen und Ganzen stimmt es mit den Konsulatsberichten und tragt es den Stempel der inneren Wahrscheinlichkeit an sich. [3] Und trefflich hebt er die Grundursache hervor, die heute die Armenier zum Verzweiflungskampf treibt: das Aufhören der von Marx als „eines der Selbsterhaltungsgeheimnisse des türkischen Reiches“ bezeichneten Naturalsteuer. Wenn Barbaren roh, aber menschlich sind, so lange naturwirtschaftliche Verkehrsverhältnisse um sie herum bestehen, so werden sie zu Teufeln, wenn sie in die Geldwirtschaft hineingerissen, vom Geldtrieb miterfasst werden. Das hat sich überall in der Geschichte gezeigt, es wäre ein Wunder, wenn gerade in der Türkei diese Erfahrung nicht gemacht werden sollte. Aber die Tatsachen erzählen nur zu deutlich, dass es keine Wunder gibt.
Der riesig gesteigerte moderne Verkehr zieht die Türkei bis in ihre entferntesten Theile in den Bannkreis der kapitalistischen Zivilisation. Zu Urquharts, des berühmten Türkenfreundes Zeiten, gab es noch keine Orientbahnen, die Überlandroute nach Kleinasien war unendlich umständlich, zeitraubend und sogar gefährlich, die Seereise ebenfalls schwerfällig und zeitraubend. Heute ist die Reise so oder so eine von Tausenden jährlich gemachte Vergnügungsfahrt, und entsprechende Umwälzungen haben sich in den Marktverhältnissen der Produkte des Orients vollzogen. Die Europäisierung der Türkei ist zwingender, das Missverhältnis zwischen asiatischer Regierungsweise und europäischen Bedürfnissen schreiender denn je. Wie dies Missverhältnis beseitigen? Das Rad der Geschichte lässt sich nicht zurückdrehen, vorwärts ist die Losung. Aber ein großes Hindernis steht dem im Wege. Nicht die Bosheit des Sultans, seine Unfähigkeit macht die Durchführung der unzähligen Mal versprochenen Reformen unmöglich. Zur gründlichen Reformierung der Türkei gehört eine starke Staatsgewalt, die deshalb noch nicht autokratisch zu sein braucht. Die bisherigen Reformen sind aber immer nur soweit durchgeführt worden, als sie dazu beigetragen haben, die Staatsgewalt zu schwächen. Wenn die Türkei zu Grunde geht, so geht sie an der Flickarbeit zu Grunde, die an ihr verübt worden, nicht an den Amputationen, denen sie unterzogen wurde. Die Amputationen haben der Anomalie der Beherrschung kulturfähiger Völker durch ein weniger kulturelles Schritt für Schritt abgeholfen, die Flickarbeit hat teils kulturfähige Völker unter türkischer Herrschaft gehalten, und ihnen nur den Widerspruch zwischen dieser und moderner Entwicklung deutlicher empfindlich gemacht, und andererseits tiefen stehenden Völkern oder Stämmen die Widersetzlichkeit gegen die Zentralgewalt erleichtert. Sie hat die Türkei in eine Art Österreich in verschlechterter Ausgabe ausgestaltet, das sich im Innern nur dadurch erhält, dass immer ein Volksstamm gegen den anderen ausgespielt wird, wobei es, entsprechend der Landessitte, nie ohne Blutvergießen abgeht.
Kein Staat der Welt hat an der Fortdauer dieses Zustandes ein Interesse, außer – Russland. Je schwächer, je mehr innerlich zerrissen die Türkei, ein umso willfährigeres Werkzeug in den Händen Russlands ist sie. Russland weiß, dass eine Okkupation des Bosporus ihm einen Weltkrieg auf den Hals laden würde, den es Grund hat, nicht zu riskieren, oder: den es keinen Grund hat, zu riskieren. Viel bequemer ist es ihm, den Schutzherrn und guten Freund des Sultans zu spielen. Da hat es in Fakto, was es braucht und mehr. Die Freigabe der Dardanellen für Kriegsschiffe ist ein zweischneidiges Schwert, denn sie würde eventuell zu einer Beschießung der russischen Häfen im Schwarzen Meer durch englische etc. Kriegsschiffe einladen. Viel besser ist’s, der Sultan bewacht die Dardanellen weiter für seinen guten Freund, den Zaren.
England kann sich mit dem Sultan nicht versöhnen, so lange dessen christliche Untertanen unterdrückt sind. Das erlaubt das „nonkonformistische Gewissen“ nicht. Daher die Weigerung Russlands, England bei seinen Bemühungen für die Armenier zu unterstützen. Es hat nicht nur keine Lust, ein „armenisches Bulgarien“ zu schaffen, es hat nicht einmal Eile, die türkischen Armenier in seine eigene Schutzherrschaft zu nehmen. Es weiß, dass diese Frucht ihm eines Tages doch in den Schoß fallen wird. Wenn inzwischen noch Tausende und Abertausende von Armeniern niedergemetzelt, armenische Frauen, Mädchen und Kinder brutal geschändet werden, was verschlägts? Umso kostbarer die Situation für Russland. Jedes Gemetzel verschärft den Gegensatz zwischen England und der Türkei und kittet das Band zwischen Zar und Sultan fester. Vom Mischen Standpunkt ist diese wirklich unaussprechliche Politik begreiflich, ist sie es vom deutschen?
Dass Deutschland, auch das offizielle, an der Stärkung Russlands im Orient kein Interesse hat, dass vielmehr alle seine Interessen dagegen sprechen, Russland dort zum Herrn zu machen, wurde schon ausgeführt. Wenn trotzdem die deutsche Diplomatie Russlands Orientpolitik unterstützt, so tut sie es, wie mir zu ihrer Ehre annehmen wollen, der Noth gehorchend, nicht dem eigenen Trieb. Wir können nicht glauben, dass deutsche Staatsmänner heute noch sich freiwillig dazu hergeben können, eine so selbstmörderische Politik zu treiben. Aber die deutsche Politik hat sich in eine solche Sackgasse hineingelaufen, dass man bei ihr auf das Schlimmste und Widersinnigste gefasst sein muss. Gibt es etwas, was einem patriotisch gesinnten Deutschen die Schamröte ins Gesicht treiben muss, so ist es die Rolle, die Deutschland in der kretensischen Frage gespielt hat. Man betont sein Christentum, baut eine christliche Kirche über die andere, spricht von christlicher Kultur, die erhalten werden müsse, und wie sich ein christliches Volk im Orient erhebt, um von einem halbbarbarischen Despoten die endliche Durchführung unzähligemale versprochener Reformen zu verlangen, da weiß man nichts Besseres als im Verein mit Russland und unter zynischem Beifall des Sachsenwäldlers gegen die „Rebellen“ eine Blockade ins Werk zu setzen. Zum Glück war der Erz Tory Salisbury so liberal, auf dieses Spiel nicht einzugehen, und die Ausführung der Blockade fiel zu Boden. Aber wie sehr dieser Streich die Popularität Deutschlands in der zivilisierten Welt erhöht hat, kann sich jeder an den Fingern abzählen.
Wie gesagt, wir nehmen an, das offizielle Deutschland handle Kreta und Armenien gegenüber so, weil es muss, um größere Übel von sich selbst abzuwehren. Aber das schließt nicht ein, dass die Sozialdemokratie diesen Dingen gegenüber stillschweigend zu verharren habe. Im Gegenteil. Weder mit den intimeren Gründen bekannt, welche die deutsche Diplomatie zu einer so unwürdigen Politik veranlassen, noch durch die Rücksichten gebunden, welche dieser obliegen, hat sie ihre Stimme zum Protest zu erheben, hat sie die Bewegung im Lande zu unterstützen, die von Deutschland energische Unterstützung der Armenier verlangt, hat sie eine Orientpolitik zu fordern, die bewusst und entschlossen darauf hinarbeitet, die Türkei durch Amputation des Restes der zentrifugalen Teile und eine Verwaltung europäischen Stils in ein einheitliches, lebensfähiges Staatswesen zu verwandeln, das im Stand ist, auf eigenen Füßen zu stehen – heute die einzige Möglichkeit, die Türkei von Russland zu emanzipieren.
Ob dieses Ziel unter den gegebenen Verhältnissen erreichbar ist, mag zweifelhaft sein; es wäre das aber kein Grund für die Sozialdemokratie, nicht darauf hinzuwirken. Als Oppositionspartei hat sie die Pflicht, für diejenige Politik einzutreten, die sie für die Beste hält. Sie kann damit wenig verderben, aber unendlich viel nützen. Einer tiefgehenden Bewegung im Lande gegenüber kann sich keine Regierung absolut taub verhalten, sie muss ihr in irgendeiner Weise Rechnung tragen. Wir können also immerhin dazu beitragen, dass den Armeniern in irgendeiner Weise Hilfe wird.
Vergessen wir Eines nicht. Es gibt nicht einen modernen Großstaat, der so wenig getan, die Liebe der Völker zu gewinnen, wie Deutschland. Man sehe sich die Karte durch und lege sich die Frage vor: welchem Volk hat Deutschland zu seiner Freiheit verholfen? Fast überall wird man Deutschland auf der Seite der Unterdrücker, im Widerstand gegen die nationalen Freiheitskämpfe finden. Selbst wenn es einmal half, wie 1866 Ungarn und Italien gegenüber, half es unter Umständen, die nicht gerade sehr rühmenswert sind. Und das sind noch Lichtpunkte, sonst finden wir überall schwarz, schwarz, schwarz. Selbst die demokratischen Parteien Deutschlands sind oft genug genötigt gewesen, sich Freiheitsbewegungen gegenüber ablehnend zu verhalten, dank der unglücklichen Lage Deutschlands und seiner unglücklichen Geschichte. Speziell im Orient ist das Blatt Deutschlands schwarz – von Anfang bis zu Ende. Ward je einmal ein Anlauf zum Besseren genommen, wie seinerzeit Bulgarien gegenüber, dann endete er mit umso schimpflicherer Preisgabe.
In der armenischen Frage haben wir endlich Gelegenheit, unsere Stimme für die Sache der Freiheit und Menschlichkeit im Orient zu erheben, ohne Furcht, dadurch dem Zarismus in die Hände zu arbeiten. Unser natürliches Mitgefühl für alle Unterdrückten, die gegen ihre Bedränger sich erheben, unser allgemeines Interesse am Fortschritt auch in jenen zurückgebliebenen Ländern und unser spezielles Interesse als Deutsche an der Schaffung geordneter Zustände und der Beendigung des nichtswürdigen Intrigenspiels im Orient gebieten es in gleicher Weise, diese Gelegenheit nicht unbenutzt vorübergehen zu lassen. Die englischen Sozialisten und Arbeiter haben unter verschiedenen Formen, aber in der Sache einstimmig sich für dies schmählich vergewaltigte Volk und die Beendigung der Paschawirtschaft in der Türkei erhoben, mögen die Deutschen nicht hinter ihnen Zurückbleiben.
1. Der vorstehende Aufsatz war nahezu vollendet, als mir die Nummern der Sächsischen Arbeiterzeitung mit den Artikeln des Fräulein Rosa Luxemburg über die nationalen Kämpfe in der Türkei und die Sozialdemokratie zugingen. Es wird aus dem Nachfolgenden zu ersehen sein, wie sehr ich mit dem Grundgedanken und den Schlussfolgerungen dieser vortrefflichen Arbeit einverstanden bin. [Rosa Luxemburg, Die nationalen Kämpfe in der Türkei und die Sozialdemokratie, Sächsische Arbeiter-Zeitung (Dresden), I: Nr. 234 vom B. Oktober 1896, II: Nr. 235 vom 9. Oktober 1896, III: Nr. 236 vom 10. Oktober 1896. Rosa Luxemburg. Gesammelte Werke, Band 1.1]
2. „In der Tat ist die türkische wie olle orientalische Herrschaft unverträglich mit kapitalistischer Gesellschaft; der ergatterte Mehrwert ist nicht sicher in den Händen raubgieriger Satrapen und Paschas; es fehlt die erste Grundbedingung bürgerlichen Erwerbssicherheit der kaufmännischen Person und ihres Eigentums“. Friedrich Engels, Die auswärtige Politik des russischen Zarentums, Neue Zeit, 8. Jahrgang, S. 193. Wie richtig dies ist, zeigt der wirtschaftliche Aufschwung in allen, der türkischen Herrschaft entzogenen Ländern.
3. La Barbe, Die Steuern im türkischen Armenien und die Ursachen der armenischen Bewegung, Die neue Zeit, 15. Jg., 1. Bd. (1897), H. 2, S. 37–46.
Zuletzt aktualisiert am 30. Mai 2025