Eduard Bernstein

 

Naturwissenschaftliche Nationalökonomie

(1895)


Ursprünglich: Neue Zeit, XIII. Jg. 1. Bd., 1894-95, Nr.25, S.772-780.
Diese Version: Eduard Bernstein: Zur Theorie und Geschichte des Socialismus: Gesammelte Abhandlungen, Bd.1, Berlin 1904, S.110-122.
Transkription/HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Kleider machen Leute. Der langweiligste Alltagsmensch lenkt mindestens für einen Augenblick die Aufmerksamkeit auf sich, wenn er plötzlich in einem aussergewöhnlichen Costüm erscheint. Ähnlich auf dem Gebiete der Theorieen. Wie oft konmit es nicht vor, dass neue Formeln, neue Bezeichnungen, neue Einkleidungen für den ersten Augenblick glauben machen, es stecke in der That hinter ihnen ein neuer Gedanke, ein neues Forschungsergebnis, eine neue Wahrheit. Aber nur zu oft sind sie in Wirklichkeit nur der Federmantel, in die sich eine hausbackene Gemeinplätzlichkeit drapiert, um einen ihr sonst versagten Effect zu erzielen.

Mit dieser Empfindung legen wir ein Buch aus der Hand, an dessen Leetüre wir, wie wir offen gestehen, mit einem gewissen Interesse gegangen waren. Es behandelt oder verspricht zu behandeln das allerdings nicht gerade neue Thema der Verschwendungen in der modernen Gesellschaft [1], aber dies nach einer neuen Methode. Und diese neue Methode ist oder präsentiert sich als die „naturwissenschaftliche“.

Herr Nowikow, der Verfasser des Buches, ist nicht der erste, der ökonomische Phänomene naturwissenschaftlich zu erklären, ökonomische Probleme naturwissenschaftlich zu lösen sucht. Es sind ihm andere darin vorausgegangen, und sie sind bei ihren Versuchen – „naturgemäss“ gescheitert. Wir haben hier nicht die classische Ökonomie im Auge. Denn was diese sich geleistet oder nicht geleistet hat, Naturgesetze der Ökonomie, wie sie zum Beispiel ein Ricardo aufgestellt hat, sind immer noch etwas sehr Verschiedenes von einer naturwissenschaftlichen Behandlung der Ökonomie. Bei der ersteren wurden in der Regel historische Unterschiede, die Folgen anders gearteter Productionsweisen, sei es nicht genügend, sei es überhaupt nicht berücksichtigt; die naturwissenschaftliche Behandlung der Ökonomie aber geht noch darüber hinaus: sie verwischt oder ignoriert sogar die Unterschiede zwischen der Natur und der Menschenwelt. Indem wir dies schreiben, sind wir uns natürlich dessen bewusst, dass der Mensch selbst zur Natur gehört. Aber der Mensch ist zugleich das einzige Naturgeschöpf, das bewusst und planmässig auf die Natur einwirkt, sie seinen Bedürfnissen unterwirft und diese seine Bedürfnisse selbst höher oder weiter entwickelt. Wenn er also bei alledem Naturgesetzen unterworfen ist, so bilden diese wohl die Voraussetzungen seiner Ökonomie und werden als solche von allen Ökonomen anerkannt, wenn auch nicht von allen gleichmässig berücksichtigt, aber zugleich stehen sie in gewissem Gegensatz zu ihr, eben weil, wo die Ökonomie des Menschen anfängt, das freie Walten der Natur aufhört. Die Natur produciert von selbst keine einzige ökonomische Kategorie, weder den Lohnarbeiter, noch den Capitalisten, weder den Lohn, noch den Profit, weder den Grundbesitzer, noch die Grundrente, weder das Angebot, noch die Nachfrage, weder den Bedarf, noch den Vorrat. Ja nicht einmal den Vorrat. Der Urwald mag noch so reich an Früchten, die Prairie noch so reich an Wild sein, dieser natürliche Reichtum ist kein „Vorrat“, er liefert nur die Materialien der Vorratbildung. Ebenso wenig fällt das Nahrungsbedürfnis zusammen mit der ökonomischen Kategorie des Bedarfs, so oft es auch dem Bedarf zu Grunde liegen mag. Nahrungsbedürfnis hat auch das Tier, aber der „Bedarf“ schliesst Kauf oder Tausch ein, d.h. Individuen oder Gesellschaften, die mit einander tauschen. Kurz, eine naturwissenschaftliche Nationalökonomie ist ein Widerspruch in sich, wo ein Glied das andere aufhebt oder fälscht.

Das sind nun eigentlich sehr abgedroschene Wahrheiten – so abgedroschen, dass eine Schrift, die trotzdem eine naturwissenschaftliche Nationalökonomie zu liefern verspräche oder von einer solchen auszugehen erklärte, sich damit von vornherein des Anspruches begäbe, anders denn als Spielerei genommen zu werden. So gerade heraus wird das denn wohl auch heute niemand mehr thun. Aber ist es etwas anderes, wenn man, wie der Verfasser der vorliegenden Schrift, die politische Ökonomie auf Grundlage von Beispielen und Erfahrungssätzen aus der Biologie be- und abhandelt? Die Biologie handelt vom Menschen als Lebewesen, eventuell auch noch von ihm als in Gesellschaften lebendem Lebewesen, aber von diesen Gesellschaften selbst weiss sie nicht mehr, als ihr deren primitivste Typen zeigen. Je mehr die menschlichen Gesellschaften sich vom primitiven Typus entfernen, um so weniger passen die aus der Biologie abgeleiteten Begriffe auf sie, und ganz und gar ungereimt ist der Versuch der Übertragung derselben auf die gesellschaftlichen Beziehungen der Culturmenschheit. Das beste, was dabei herausschaut, sind mehr oder minder geistreiche Analogien, wie man sie seit Comte und Spencer massenhaft in der sociologischen Litteratur findet. Wir erinnern nur, um auch einen Deutschen zu nennen, an Schäffles Bau und Leben des socialen Körpers, vielleicht die methodischste Übertragung biologischer Vorstellungen auf die Sociologie. Aber sobald oder soweit diese herübergenonmienen Begriffe mehr sein sollen, als blosse Analogien, werden sie regelmässig zur Quelle bewusster oder unbewusster Fälschung der gesellschaftlichen Erscheinungen: hier zur Construierung nicht vorhandener, dort zur Verwischung bestehender Unterschiede oder Gegensätze.

Die Schrift des Herrn Nowikow macht davon keine Ausnahme. Sie weist im Gegenteil die Fehler dieser Methode in potenzierter Gestalt auf.

Wir sagen das nicht, weil sie ein orthodoxes Manchestertum predigt. Wir halten dies vielmehr für das notwendige Ergebnis einer „naturwissenschaftlichen“ Behandlung der Ökonomie und sind daher weit entfernt, daran Anstoss zu nehmen, dass ein Vertreter derselben zu ihm gelangt. Unser gegnerischer Standpunct verhindert uns nicht, das Verdienst folgerichtiger Durchführung eines Gedankens anzuerkennen, auch wenn wir diesen Gedanken selbst für falsch erkannt haben. Und folgerichtig ist es jedenfalls, aus der Naturwissenschaft die Nützlichkeit und Zweckmässigkeit des „natürlichen“ Spiels der wirtschaftlichen Kräfte abzuleiten. Welchen Sinn hätte sonst die naturwissenschaftliche Methode, wenn sie nicht zu diesem Resultat führte? Indes auf dem Wege zu diesem Resultat ist Herr Nowikow alles mögliche, nur nicht consequent, und ebenso wenig ist er es in seinen Nutzanwendungen. Mit der Wissenschaftlichkeit seiner Naturwissenschaftlichkeit ist es oft sehr bedenklich bestellt.

Schon das Vorwort liefert uns davon eine Perle. Durchaus im Sinne der Manchesterschule wird dort entwickelt, dass wir – die Menschheit – arm sind, „nicht nur weil unsere Vermögen ungleich sind, sondern vor allem, weil der Gesamtbetrag des Reichtums auf unserem Globus noch zu gering ist“. Wir wollen uns nicht daran halten, dass mit diesem so formulierten Satz und dem ihm folgenden Beispiel von zwei verschiedenen, zur eventuellen Verteilung disponiblen Geldsummen Herr Nowikow sich in Widerspruch mit seinen späteren Ausführungen über die Natur und den Begriff des Reichtums setzt [2], sondern ihn in dem Sinne nehmen, wie er gemeint ist und hinterher erklärt wird – nämlich, dass die Menschheit über zu wenig Nahrungs- und Genussmittel verfügt. Aber wie beweist Herr Nowikow das?

„Jeder Mensch“, schreibt er, „braucht wenigstens 50 Kilogramm Zucker im Jahr. Für 1.300 Millionen Individuen über fünf Jahren, die unseren Planeten bevölkern, machte das 65 Milliarden Kilogramm. Nun produciert die ganze Welt nur 6 Milliarden, d.h. 4,6 Kilogramm pro Kopf, d.h. zehnmal weniger, als erforderlich wäre“.

Folglich müsse erst zehnmal mehr Zucker hergestellt werden als heute, ehe an gleiche Verteilung gedacht werden könne. Und so oder noch schlimmer stehe es mit anderen Dingen. Dieses Beipiel ist das Gegenteil von naturwissenschaftlich. Bedarf der Mensch in allen Klimaten gleich viel Zucker im Jahre? Und angenommen, diese Unterschiede glichen sich im Durchschnitt aus, bedarf er unbedingt fabricierten Zuckers ? Oder hängt das erforderliche Quantum von solchem nicht vielmehr von der Kost ab, die der Mensch sonst geniesst, von seiner Beschäftigungsweise etc. Es fällt uns nicht ein, zu bestreiten, dass die Nahrungsmittelproduction heute im ganzen sehr hinter dem Bedarf der Menschheit zurückbleibt, aber gerade das Beispiel des Zuckers ist hiefür am wenigsten brauchbar.

„Man kann leider“, sagt Herr Nowikow, „kühn behaupten, dass von zehn Bewohnern unseres Planeten neun nicht genug haben, die Bedürfnisse ihres Magens zu befriedigen ... Vielleicht nicht ein Mensch unter dreihundert liegt in einem guten Bett und hat eine bequeme Wohnung“. [3]

Zugegeben, und gar nicht erst gefragt, wie viele von diesen 299 diesen Mangel als Mangel empfinden; wir wollen uns in diesem Puncte durchaus nicht lumpen lassen, obwohl wir zum Beispiel dem Africaneger mit Seelenruhe noch einige hundert Jahre den Segen dessen, was der Europäer unter einer bequemen Wohnung versteht, vorenthalten könnten. Wir sind also „arm“, und warum sind wir arm? Weil wir, erklärt Herr Nowikow weiter, „wenig producieren und zu viel verschwenden.“ Das erstere mag zunächst dahingestellt bleiben, das letztere aber geben wir tausendmal zu. Gerade der Socialismus behauptet es, und gerade um dieser Verschwendung vorzubeugen oder ihr entgegenzuwirken, fordert er bekanntlich die planmässige Regelung der Production unter der Controle der Gesamtheit. Dass dies keine sehr leichte Sache sein wird, wollen wir nicht leugnen, aber sie ist eine sich immer stärker geltend machende Notwendigkeit, und darum wird sie sein. Wenn sie aber notwendig ist, wird sie darum „natürlich“ sein? Das kommt sehr darauf an, was man unter natürlich versteht.

Die Natur ist, wie männiglich bekannt, keine Verehrerin der Ökonomie. Sie ist im Gegenteil die denkbar grösste Verschwenderin. Die bürgerliche Gesellschaft mit ihren masslosen Vergeudungen ist nur eine armselige Stümperin im Vergleich mit der Natur. Von den Wärmestrahlen, die die Sonne aussendet, gelangt nicht der millionste Teil auf die Planeten, alle übrigen verflüchten sich ins Unendliche. Milliarden Keime von Lebewesen werden in jedem Augenblick auf der Erde erzeugt, die verkommen müssen, weil die Existenzbedingungen für sie nicht vorhanden sind, bezw. von anderen Wesen in Anspruch genommen werden. Leiten wir den Begriff natürlich von der Naturwelt ab, so ist die Verschwendung das Natürliche, die Ökonomie das „Unnatürliche“. Die primitivste ökonomische Thätigkeit, die Vorratbildung, die wir schon bei einzelnen Tierarten finden, ist ein Stück Emancipation von der Natur; der Viehzüchter aber, und noch mehr der Ackerbauer stellen bereits die Verschwenderin Natur unter Curatel. Sie sehen es ihr ab, wie sie schafft, aber sie hüten sich, es ihr nachzumachen, wie sie wirtschaftet.

Insofern ist es also, wie gesagt, widersinnig, von einer der Natur entsprechenden Ökonomie zu sprechen. Ganz so hat es denn auch Herr Nowikow nicht gemeint, obwohl seine Ausdrucksweise und seine Beispiele oft genug zu dieser Folgerung zwingen. So sagt er einmal:

„Der endgiltige Triumph der Symbiose (des auf Zusammenwirken und Gegenseitigkeit der Organe gegründeten Daseins) ist vollendete Thatsache in jener grossen Zellenassociation: dem menschlichen Körper. Wäre es nicht seltsam, sagen zu wollen, das Herz gehöre der Leber, dem Magen oder der Lunge, oder etwa, dass alle diese Organe dem Gehirn gehören? Ebenso kann man von keiner Zelle unseres Körpers sagen, dass sie die Sache ihrer Nachbarin sei. Trotzdem ist die hierarchische Unterordnung in unserem Körper sehr stark. Der biologische Organismus ist sehr viel vollkommener, als der sociale Organismus. Dies ist Folge der Concurrenz. Millionen vorweltlicher Formen, aus denen wir hervorgegangen, sind in einem erbarmungslosen Kanpf umgekommen, und nur die vollkommenste, die am wenigsten parasitäre hat sie überlebt. Dieselbe Entwicklung wird sich mit Bezug auf die Gesellschaft vollziehen. Diejenigen, an denen der Parasitismus zu sehr nagt, werden zuerst untergehen, diejenigen, wo die Symbiose den Sieg davonträgt, werden die anderen überleben.“ [4]

Dies ist die Folge der Concurrenz.“ Der sociale Organismus hat demnach nicht zu viel, sondern zu wenig Concurrenz. Je mehr Concurrenz, um so mehr „Symbiose“. Soweit unterstellen wir Herrn Nowikow nichts, wir fassen nur seinen Gedankengang zusammen. Alles, was die Concurrenz beschränkt, ist ihm Verschwendung oder Quelle von Verschwendung. Aber er bleibt hier auf halbem Wege stehen. Er lässt nur die wirtschaftliche und die geistige Concurrenz gelten. Die kriegerische dagegen, die ja doch in der Geschichte und dem Daseinskampf der Gesellschaften eine so grosse Rolle gespielt hat, verwirft er. Wir haben gegen letzteres sicherlich nichts einzuwenden, nur können wir nicht recht einsehen, warum hier das Beispiel der Natur, wo der „unbarmherzige“ Kampf herrscht, mit einem Mal nicht massgebend, warum die militärische Überlegenheit nicht auch ein Zeichen grösserer Vollkommenheit, entwickelterer „Symbiose“ sein soll. Herr Nowikow ist zwar um ein Bild aus der Biologie, das für seine These sprechen soll, nicht verlegen. Er vergleicht die modernen Grossstaaten und ihren militairischen Apparat mit den Ungeheuern der prähistorischen Tierwelt, deren Riesenschalen nach ihm an die Panzer unserer Kriegsschiffe und die gigantischen hundertpfündigen Kanonen erinnern.

„Wohlan, alle diese so bewaffneten Tiere sind den Schlägen relativ schwächerer, aber in Gesellschaften lebender Arten erlegen. Die Sicherheit (und demgemäss das Überleben) wurde nicht durch die individuelle biologische Ausrüstung, sondern durch Association erzielt.“ [5]

Wir sind nicht genug in der Paläontologie zu Hause, imi genau sagen zu können, ob die Megatherien und Megalosaurier ta Kampfe mit anderen Tierarten oder infolge von klimatischen oder geologischen Veränderungen untergegangen sind; die Thatsache aber, dass unsociale Tiere bis heute sich haben behaupten können, lässt die Annahme des ersteren nicht als unbedingt notwendig erscheinen. Und selbst, wenn dies der Fall würde das Beispiel hinken, da die modernen Grossstaaten organisierte Gesellschaften darstellen, denen vorläufig keiine besser organisierten Gesellschaften gegenüberstehen.

Aber wie dem sei, der Militarismus ist die Ursache ungeheurer Verschwendung und muss ausgerottet werden. Gut. Abr er ist nur in seiner gegenwärtigen Form für die moderne Gesellschaft bezeichnend. Den Krieg hat es dagegen immer gegeben, eine Kriegercaste, die auf Kosten des übrigen Volkes lebe, hat in den verschiedensten Zeiten existiert. Ebenso der Beamtenparasitismus. Aber nicht hat existiert der Capitalismus und die fessellose Concurrenz innerhalb der Gesellschaft. Von der masslosen Verschwendung, dem ungeheuren Parasitismus, die diese, gerade die moderne Gesellschaft charakterisierenden Erscheinungen zur Folge haben, spricht Herr Nowikow kein Sterbenswort. Sie zu sehen, verhindert ihn seine – naturwissenschaftliche Nationalökonomie. Nicht nur Concurrenz, auch das Capital ist ihm eine biologische Categorie.

„Die Socialisten scheinen zu übersehen, dass die Capitalisation nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine biologische Thatsache ist. Das Fett, das sich im Körper des Menschen bildet, entspricht dem Capital. Es ist eine Reserve, die dazu dient, im Fall der Not die Gewebe zu ernähren.“ [6]

Herr Nowikow „scheint zu übersehen“, dass erstens Capital und Vorrat zweierlei sind, und zweitens, dass es eine Krankheit giebt, die Fettsucht heisst, wo die Fettbildung sich auf Kosten der gehörigen Function der notwendigsten Organe des Körpers vollzieht. Doch hören wir ihn weiter.

„Die Concurrenz ist übrigens, wie die Capitalisation, ein natürliches Phänomen. Sie vollzieht sich zwischen den Atomen eines und desselben Körpers, zwischen den Zellen des Organismus, zwischen den Ideen und den Willensäusserungen des Geistes, zwischen den Arten der Pflanzen und Tiere, endlich zwischen den Individuen im Schoss der Nationen und den Nationen im Schoss der Menschheit. Die Concurrenz ist eine besondere Seite des Kampfs ums Dasein, das, wodurch sich uns die Energie der Materie kundgiebt. Sie aufheben wollen heisst nichts weniger wollen, als die Bewegung im Weltall aufheben!“ [7]

Nun, das letztere wird ja wohl niemand wollen, und so wäre der Socialismus in alle Ewigkeit widerlegt. Schade nur, dass bei dieser vortrefflichen Deduction alle Formbestimmtheit, alle charakteristischen Merkmale der Concurrenz in der capitalistischen Gesellschaft verloren gegangen sind. Warum nicht lieber sagen, die Krisen, die Stockungen, einen Zustand aufheben wollen, wo ein immer steigender Procentsatz von Arbeit verwendet wird, nicht zur Herstellung von Mitteln der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse, sondern für Mittel der Reclame, für das, wofür die Franzosen den schönen Ausdruck faux frais (die falschen Kosten) haben, deutsch die Unkosten, – kurz, die Productionsanarchie aufheben wollen, heisst die Bewegung im Weltall aufheben wollen? Da wüsste doch jeder gleich, worauf es hinausläuft.

Um die alte Freihandelskost schmackhafter zu machen, hat Herr Nowikow sie nach heute sehr beliebter Art mit neugebildeten Gräcismen ausgestattet. Wir haben gewiss nichts dagegen, dass man für neue Begriffe neue Worte bildet, und wenn die eigene Sprache aus dem einen oder anderen Grunde dies nicht erlaubt, so ist der Gebrauch des Griechischen zweifelsohne berechtigt. Aber es muss eine wirkliche Notwendigkeit für das neue Wort vorhanden, und dieses muss klar und fest definiert sein. Wir wollen nicht untersuchen, wie weit dies von den Neubildungen zutrifft, mit denen Herr Nowikow die Litteratur beschenkt, sondern nur die Verwertung beleuchten, die sie bei ihm erfahren. Zwei solche, von ihm gebildete Worte sind: Chrvsohedonismus und Ktesohedonismus. Um es vorwegzunehmen, so bedeutet das letztere Wort bei imserm Autor die von ihm für falsch erklärte Vorstellung, dass Reichtum an Genüssen zusammenfalle mit Eigentum. Der Chrysohedonismus aber bezeichne den Irrtum, dass der Reichtum in Gold bestehe, dieses die Quelle der Genüsse sei. An diesem Irrtum kranken nicht nur eine gewisse Kategorie Verrückter, sondern, nach Herrn Nowikow, leider auch die grosse Masse der Arbeiter. Diese Verblendeten bilden sich ein, dass, je höher ihre Geldlöhne, um so grösser die Summe ihrer Genussmittel. Herr Nowkow weiss das sehr viel besser. Er weiss nicht nur, dass ein höherer Geldlohn noch keine Vermehrung der Genussmittel darstellt, sobald die Preise dieser entsprechend gestiegen sind, er weiss auch, dass, „jedesmal, wo ein Arbeiter eine Bezahlung über dem Durchschnitt des Marktpreises seiner Arbeit durchsetzt, er sich selbst bestiehlt, weil er den Preis der Gegenstände erhöht, deren er als Consument bedarf“. [8] Das kommt davon, wenn man nicht Griechisch gelernt hat.

Indes, wir wollen nicht zu früh spotten. Für seine wunderolle Entdeckung, nach welcher die Arbeiter sich beschenken der von den Unternehmern beschenkt werden, sobald sie Lohnerabsetzungen erfahren, hat Herr Nowikow seine Beweise. Gleich hinterher giebt er uns folgendes „eine Beispiel aus tausend“:

„In Califomien begnügen sich die Chinesen mit sechs Dollar die Woche, während die Europäer elf verlangen, seitdem die Himmlischen sich der Schuhfabrikation zugewendet, ist der Kostenpreis für Damenschuhe von zwölf auf neun Dollars das Dutzend gefallen.“ [9]

Wir sind verblüfft. Damit soll der Chrysohedonismus der europäischen Arbeiter widerlegt sein? Aber wenn die Zahlen richtig sind, so bedeuten sie ja gerade, dass die himmlische Weisheit, die die Chinesen repräsentieren, falsch gerechnet hat. Lassen wir den Mammon beiseite und nehmen wir den Schuhwert als Gradmesser des Lohnes, so kann der Chinese nur zwei Drittel Dutzend Schuhe kaufen, wo der Europäer elf Zwölftel kaufen konnte. Im eigenen Product des Arbeiters ausgedrückt, ist der Lohn von elf auf acht gefallen. Wenn irgendwo, wäre der Chrysohedonismus der Arbeiter gerade hier am Platze gewesen.

Das wird er aber fast überall in der modernen Gesellschaft sein, auch da, wo die zugemutete Lohnverringerung von einem proportionellen Fall im Kostenpreis des Products des Arbeiters begleitet ist. Zum Leben gehört mehr, wie dieses eine Product. Wie viel der Arbeiter von der Gesamtheit der Producte haben kann, die zu seinem Lebensgenuss – seiner ἡδοτή – erforderlich sind, hängt in einem Gesellschaftszustand wo das χρυσόζ – Gold – die allgemeine, die allein jederzeit tauschbare Ware bildet, von der Menge Goldes bezw. Geldes ab, über die er verfügt. Das Bestreben, für seine Ar)eit einen möglichst hohen Geldbetrag zu erlangen, hat mit 1er Ignorierung der Thatsache, dass Geld noch nicht an sich 3rot, Kleidung, Obdach, Bücher, Bilder etc. ist, gar nichts zu hun. Warum rügt Herr Nowikow das Bestreben, für ihre Ware den höchstmöglichen Preis – also Geld – zu erlangen, nicht bei seinen geliebten Fettbildnern, den Capitalisten, diesen „Wohlthätern der Menschheit“? [10]

Indes, er kann sich zur Not darauf berufen, dass, was er gegen die Schutzzölle schreibt – genau dieselbe Chinesenweisheit ist, die die beste Sache compromittieren könnte, und darum wollen wir diesen Gegenstand hier fallen lassen. Die Schutzzöllnerei kann auf Überschätzung der Bedeutung des Geldes beruhen, braucht es aber nicht und thut es heute in den wenigsten Fällen. Andererseits lehrt jede Krisis dem verbohrtesten Freihändler, dass die „Chrysohedone“ kein leerer Wahn ist.

Besser, wie seine Argumente gegen die Schutzzölle, sind Herrn Nowikows Philippiken gegen Bureaukratie, Fiscalismus und dergl. Dem Russen kann man seinen Hass gegen alle diese Dinge zu sehr nachfühlen, um es nicht begreiflich zu finden, wenn er auch hier über die Schnur haut. Dass in einem bureaukratisch-despotischen Lande wie Russland das Beamtentum direct und indirect eine enorme Verschwendung von Kräften darstellt, einen Krebs, der am Lande saugt und in vielen Fällen die Entwicklung seiner Kräfte hemmt und aufhält, wird niemand bestreiten, noch, dass auch in freieren Ländern der grüne Tisch sehr viel sündigt. Aber trotzdem ist die an sich ganz interessante Rechnung, die Herr Nowikow darüber anstellt, falsch. Das Bild hat auch eine andere Seite. Und mit all seinen Zahlen ist es Herrn Nowikow nicht gelungen, den Beweis zu liefern, dass die einzige Alternative der von ihm vorgeführten Beispiele von Beamtenunfug in Russland und – Frankreich das „natürliche Spiel der wirtschaftlichen Kräfte“ ist.

Was ist Natur und natürlich? Wir brauchen das erstere Wort für die Gesamtheit der uns umgebenden Erscheinungen, die nicht Menschenwerk, nicht von Menschen hergestellt oder modificiert sind, und leiten davon das Beiwort ab. Aber wir sprechen auch von natürlich und naturgemäss, wo wir menschliche Schöpfungen und Einrichtungen im Auge haben, in dem Sinne, dass wir das dem Wesen dieser Einrichtungen durchaus Entsprechende, sich mit Notwendigkeit aus ihnen Ergebende natürlich, naturgemäss nennen. Die Natur schafft z.B. keine Be 

amten, aber in jeder Gesellschaft ist die Existenz von Beamten eine natürliche Erscheinung. Die Zwecke, zu denen Gesellschaften gebildet werden, bringen die Übertragung von gesellschaftlichen Aufgaben an bestimmte Mitglieder der Gesellschaft mit sich und damit ein Beamtentum. Wie dieses Beamtentum beschaffen, das hängt von der Beschaffenheit der jeweiligen Gesellschaft und ihrer Zwecke ab, es kann zu ihnen im Missverhältnis stehen, zu zahlreich oder zu spärlich, zu einflussreich oder zu abhängig sein. Entspricht es ihnen aber, so ist seine Stellung und Function eine „naturgemässe“.

Nur wer jede umfassende Gesellschaftsorganisation leugnet, kann das Beamtentum schlechtweg verwerfen. Wer sie aber anerkennt – und dies thut Herr Nowikow, der sich zwar als Föderalist bekennt, aber den Anarchismus verwirft – der wird sich auch mit der Existenz von Beamten abfinden müssen. Es handelt sich dann nur um das Problem, den Umfang, die Stellung und die Functionen des Beamtentums dem jeweiligen Bedürfnis der Gesellschaft anzupassen, es ihrer „Natur“ gemäss zu constituieren und zu organisieren, bezw. zu untersuchen, wie es sich in Aufbau, Zahl etc. zu dieser verhält. Dazu ist erforderlich die Analyse dieser Gesellschaft, ihrer Verfassung, ihrer Zusammensetzung, ihres Culturstandes und in lezter Instanz ihrer Productionsverhältnisse. Russlands Beamtentum ist, das glauben wir Herrn Nowikow, selbst für dieses Land mit seiner überwiegend analphabetischen Bauernbevölkerung, übermächtig und überzählig. Aber es könnte dem wirklichen Bedürfnis jenes Landes durchaus entsprechen, und würde darum doch, in gleicher Proportion etwa nach Deutschland oder Frankreich übertragen, in diesen Ländern ganz und gar von Übel sein. Es giebt keinen ausserhalb der betreffenden Staaten oder Gesellschaften bestehenden Massstab dafür, welches etwa der „natürliche“ Procentsatz von Beamten zur Gesamtbevölkerung ist. Die ausser uns wirkende „Natur“ lässt uns da durchaus im Stich.

Genug. Es liegt uns durchaus fern, eine Apologie des Beamtentums zu schreiben, noch wollen wir mit dem vorher Entwickelten sagen, dass etwa eine höhere Intelligenz in jedem Lande festsetzen soll, mit welchem Beamtentum es begnadet werden muss. Nichts weniger als das. Diese Frage wird je nach dem Stande der Gesellschaft von anderen Factoren entschieden werden, von anderen Classen und in anderer Weise. Auch das ist, wenn man will, eine Übertragung der Lösung auf das Walten von Naturgesetzen, aber gesellschaftlichen, aus der Natur der Gesellschaften sich ergebenden, nicht aus der Natur auf die Gesellschaft übertragenen Gesetzen.

Herr Nowikow schlägt in seinem Buch verschiedene Saiten an, die uns sympathischer sind, als seine naturwissenschaftliche Manchesterökonomie. Wir können indes auf diese Puncte hier nicht eingehen. Als consequenter Freihändler ist er Gegner des Nationalitätenhasses, des sogenannten Nativismus und Exclusixismus und sagt darüber manches Gute und sehr Treffende. Sehr gut bekämpft er z.B. die Ansichten von der angeblichen Entwicklungsunfähigkeit gewisser Völkerschaften. Und gelegentlich sagt er auch viel Richtiges über die Entwicklung und die Entwicklungsfactoren der Gesellschaften, um dann jedoch schon auf der nächsten Seite mit der harmlosesten Miene von der Welt die unglaublichste Freihandelsnaivetät zum besten zu geben. Eines Eugen Richters Kritik der ökonomischen Theorieen des Socialismus ist ihm Evangelium, dagegen ist er vom politischen Programm der deutschen Socialdemokratie entzückt, und wenn er es dem Führer des deutschen Freisinns nachspricht, dass die deutschen Socialisten ihr ökonomisches Programm nur als Schaustück für die Massen mit sich führen und nicht daran denken, es zu verwirklichen, so sagt er das, um die Socialisten dafür zu loben. Sie thaten damit, meint er, im Grunde nichts anderes, wie seiner Zeit das Christentum und der Muhammedanismus. Sie zeigten den schwer beweglichen Massen ein verführerisches Zukunftsbild und brächten sie damit zur Action für ein allerdings bescheideneres, aber realisierbares Ziel. Und das sei doch sehr verdienstlich.

Wir danken für das Lob, aber werden bemüht bleiben, es nicht zu verdienen.


Fussnoten

1. J. Novicow: Les gaspillages des sociétés modernes. Contribution à la question sociale. Bibliothéque de Philosophie Contemporaine, Paris 1894, Felix Alcan. X und 344, Seitengr. 8°, 5 Frcs.

2. Dass nämlich der Reichtum nicht mit dem Geld zu verwechseln sei, noch bloss in Producten menschlicher Arbeit bestehe.

3. a.a.O., pag.VIII.

4. a.a.O., pag.127.

5. a.a.O., pag.240

6. a.a.O., pag.271.

7. a.a.O., pag.273.

8. a.a.O., pag. 66–67.

9. a.a.O., pag.67.

10. a.a.O., pag.68.


Zuletzt aktualisiert am 17.1.2009