Bruno Bauer


Hinrichs politische Vorlesungen, 2. Bd

(April 1844)



Hinrichs politische Vorlesungen. 2. Bd. Halle 1843, 489 S.: Allgemeine Literaturzeitung, Monatsschrift, hg. v. Bruno Bauer, Charlottenburg (Verlag v. Eckbert Bauer) April 1844 (Nr. 5), S. 23-25
Abgedruckt in Bruno Bauer, Feldzüge der reinen Kritik, Nachwort von Hans-Martin Sass, Frankfurt/M, Suhrkamp Verlag, 1968, S. 196-99.
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Die Zeiten haben sich sehr schnell geändert. Den Schaden tragen diejenigen, die keine Entwicklung durchgemacht haben, also auch selbst, wenn sie wollten, sich nicht ändern können und, wenn es hoch kommt, das neue Prinzip – doch nein! das Neue kann nicht einmal zur Redensart gemacht, es können ihm nicht einzelne Wendungen entlehnt werden – die großen Revolutionsmänner, die in den letztverflossenen Tagen aufgestanden und wieder gefallen sind, haben mit dem Neuen nichts gemein, wollen mit ihm nichts gemein haben; sie sind Verbündete und die Wortführer der Masse, die den wahren Fortschritt damit aufzuhalten sucht, daß sie die Begriffe und Redensarten, die zu ihrer Zeit als bedeutsame Hieroglyphen galten, nur wenigen und diesen nur mit Mühe zugänglich und geläufig waren, wirklich zu Redensarten und die Leichtigkeit, mit welcher sie dieselben behandelt, als den Beweis, daß sie die Wahrheit in der Tasche trägt, geltend macht.

Noch vor wenig Jahren waren die Männer, welche die Formeln des Hegelschen – des letzten dogmatischen Systems einigermaßen zu behandeln verstanden und die Schwierigkeiten der Terminologie zu besiegen wußten, wirklich die Männer des Fortschritts. Warum? Weil sie dazu beitrugen, daß das Geheimnis des Systems aufgedeckt wurde, in welchem die Begriffe, deren Entwicklung das Ziel der bisherigen Weltbildung war, ihre höchste Vereinfachung erreicht hatten. Noch nie war der Wert der Begriffe so hoch gestiegen, als in den Debatten der Hegelschen Schule – wer ein paar Begriffe aneinanderzureihen wußte, betrachtete sich als den Baumeister einer Welt und wurde als solcher von den andern angestaunt – noch nie war aber auch die Beschäftigung mit den Begriffsformeln zu einem unsicherem Spiel geworden. Nicht nur der vollständige Bankrott, der bald erfolgte, bewies die Unsicherheit des Spiels: die Spieler hatten selbst damals schon, als sie sich und ihre Gegner zu überbieten suchten, das tödliche Bewußtsein, daß der Preis, den sie ihren Formeln beilegten, ein nur imaginärer, daß das Spiel eben nur ein Spiel sei.

Man hatte wie früher einmal in Holland Tausende auf eine Zwiebel gesetzt. Als der Zahlungstag kam, konnte niemand zahlen. Als „Wahrheit, Freiheit, Wirklichkeit“ usw. ernstgenommen wurden und die bloße Formel nicht mehr respektiert wurde, hatten die Marken, die bisher aus einer Hand in die andere kursierten, ihren Wert verloren.

Die dogmatischen Begriffe wurden als göttliche Mächte verehrt, weil das Auge für die wirkliche Welt, deren höchster Ausdruck sie sein sollten, noch verschlossen war, weil man den wirklichen Reichtum der menschlichen Verhältnisse, den ungeheuren Inhalt der Geschichte, die Bedeutung des Menschen noch nicht kannte. Der einfache Begriff vertrat die Stelle des Menschen, der erst geschaffen werden sollte: die Dialektik der Begriffe war der Götterkrieg, den die Philosophen allein kannten, weil sie den Kampf der Geschichte noch nicht sahen und von dem Kampf der Masse mit dem Geist, von diesem Kampfe, der das Ziel der ganzen bisherigen Geschichte war, nicht einmal eine Ahnung hatten.

Einfache Begriffe sind die letzte Zuflucht derjenigen, die nichts mehr als die Mühe der Forschung scheuen: Herr Hinrichs hat uns in dem ersten Bande seiner Vorlesungen den Beweis geliefert, zu welchen Plattheiten – „Unrichtigkeiten“ wäre ein Ausdruck, der gar nicht mehr am Platze ist, da es sich unter diesen Umständen gar nicht mehr um eine Auffassung der Sache handelt –, zu welcher Radotage man kommen muß, wenn man z. B. die Revolution auf einen „einfachen Begriff“ reduzieren will. Der Philosoph würde den Beweis vollenden, wenn er seine letzte Schuldigkeit tun und den Versuch machen wollte, die Poren des philosophischen Systems aufzuzeigen, durch welche eine wirkliche Darstellung und Würdigung der Revolution passieren und in die „Dialektik der Begriffe“ einrangiert werden könnte.

Die Masse will einfache Begriffe, um mit der Sache nichts zu tun zu haben, Schibboleths, um mit allem von vornherein fertig zu sein, Redensarten, um mit ihnen die Kritik zu vernichten. Die Philosophen waren dazu prädestiniert, den Herzenswunsch der Masse zu erfüllen. Sie geben ihr einfache Begriffe und Redensarten, bis es der Masse auch vor diesen ekelt und das reine Nichts ihrer Erbärmlichkeit einen andern Ausdruck erhält. Der Triumph ihrer Wortführer ist immer nur ein augenblicklicher – er ist jetzt schon zuende; die Auflösung dieser Materie, in welche die ganze bisherige Geschichte zusammengefallen ist, geht reißend schnell vor sich.

Was diesen zweiten Band der politischen Vorlesungen betrifft, so haben wir nur die hauptsächlichsten Redensarten desselben zum Gebrauch für den künftigen Geschichtsschreiber der jetzigen Zeit einfach einzuregistrieren.

„Was für eine armselige Tätigkeit“, sagt Herr Hinrichs gegen das, was er unter der neueren Kritik versteht, „ist doch diese neue, reine Tätigkeit, die allen substantiellen Gehaltes bar und bloß, ohne Entäußerung und Erhebung formell ist und bleiben muß. Solche Tätigkeit kann zwar alles negieren und aufheben wollen, aber kann unmöglich etwas setzen und schaffen; denn sie ist von nichts erfüllt und hat nichts, womit sie sich vermitteln könnte, weil sie nicht von sich selbst läßt.“ (p. 380) „Was nach dem Glauben der Kirche durch die Religion geoffenbaret worden, ist die Wahrheit und Freiheit des Geistes selbst.“ (p. 290)

„Dahin kann man freilich kommen“ (heißt es p. 291 gegen die Erklärung der Religion, wie sie in der „guten Sache der Freiheit“ gegeben ist), „wenn man Religion und Kirche nicht selbst als ein Reich der freien Gemeinschaft faßt, sondern in der Erkenntnis nicht zum Geiste fortgehend an der bloßen Form desselben, am Selbstbewußtsein festhält.“ „Die wahre Lehrfreiheit“ besteht nach dem politischen Redner darin, daß die „Glaubenssätze in flüssigen Zusammenhang mit der weiteren wissenschaftlichen Entwicklung und Erkenntnis gesetzt würden“, (p. 293)

„Überall ist jetzt das Pathos die Einheit Deutschlands, und die Seele dieser Gesinnung ist der Volksgeist.“ (p. 169) Dies Pathos bewies sich z. B. „bei Kölns Dombau“, (ebend.) Dieser „Geist der Einheit“ stammt (p. 250) aus dem „Befreiungskriege“ .

Überhaupt ist „unsere jüngste Erinnerung die des Freiheitskrieges“ (p. 489). Herr Hinrichs hat nämlich mit seinen Glaubensgenossen einen ganz andern Krieg verschlafen. „Einheit des deutschen Vaterlandes“ – ruft er daher, indem er sich die Augen reibt –, „Aufopferung für das Ganze, freie Selbstbestimmung in den öffentlichen Angelegenheiten mögen unsere Losung sein und bleiben.“ (ebend.) – In der „guten Sache der Freiheit“ ist auseinandergesetzt worden, daß die Kritik die Lösung der Aufgaben ist, mit denen sich die Fakultäten bis jetzt erfolglos beschäftigt haben, daß sie das Geheimnis der Fakultätswissenschaften löst und im Laufe der Kollision, die sie herbeigeführt hat, von den Fakultäten ausgeschieden werden mußte.

Die Ergänzung zu diesem Ereignis ist als ein platter Fastnachtsspaß bald nachgefolgt. Es war etwas zu bekannt geworden – Herr Hinrichs hatte sogar seine Reden drucken lassen —, wie man sich innerhalb der Fakultäten über die Interessen der neueren Zeit ausspricht und wie weit man dieselben zu würdigen versteht: man bekommt die Weisung, sich nicht zu sehr bloßzustellen: was tun darauf die Fakultäten? Sie machen die bedrohte Schwäche und Unfähigkeit zu ihrer eigenen Sache. Daß sie es so machen müssen, hat ihnen die Kritik vorher gesagt.



Zuletzt aktualisiert am 20.5.2009