Bruno Bauer


Leiden und Freuden des theologischen Bewußtseins

(1843)



Leiden und Freuden des theologischen Bewußtseins: Anekdota zur neuesten deutschen Philosophie und Publizistik, hg. v. Arnold Ruge, Zürich und Winterthur 1843, Bd. II, S. 89-112.
Abgedruckt in Bruno Bauer, Feldzüge der reinen Kritik, Nachwort von Hans-Martin Sass, Frankfurt/M, Suhrkamp Verlag, 1968, S. 153-174.
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Wir haben auch unsere Propheten. Es sind jene Männer, die mitten unter dem Druck der absoluten Monarchie und der Priesterschaft von einer würdigeren Zukunft der Menschheit sprachen, in welcher es nicht mehr unser höchstes Ziel sein würde, zu Kindlein, sondern endlich einmal auch Männer zu werden.

Wir haben auch einen Patriarchen, den Patriarchen von Ferney. Wir haben viele Heilige, sie sprachen französisch; es sind also wunderliche Heilige, und dennoch wird es die ewige Ehre des achtzehnten Jahrhunderts sein, nach ihnen genannt zu werden.

Als die Zeit gekommen war, von der sie nicht nur geweissagt, sondern sie auch geschaffen hatten, und als die Welt nach den Geburtswehen dieser Zeit der ungewohnten Anstrengung für einen Augenblick – oder hat dieser Augenblick schon etwas zu lange gedauert? – unterlag, fielen die Propheten einer schmählichen Vergessenheit anheim, vergaß Europa seine Heiligen, bekannte sie Frankreich nur noch im Geheimen und brachten wir Deutsche uns in dem Brodem eines kindischen Mystizismus um den Verstand. Wie diese Umkehrung möglich war, ist ein Problem, das erst noch zu lösen ist und dessen vollständige Lösung notwendig ist, wenn wir vor allen Gefahren eines solchen Rückfalls sicher sein wollen. Genug – hier geht uns nur das Faktum an – wir wurden wieder Kindlein, und zwar, wie es bei solcher Unnatur nicht anders möglich war, recht altkluge, süffisante Kindlein, die ihre Wohlerzogenheit erst dann gehörig zu beweisen und das Lob ihrer Informatoren zu gewinnen glauben, wenn sie den Knecht Ruprecht, den man ihnen als das Fürchterlichste von der Welt abgemalt hat, recht tapfer verhöhnen und verspotten. Wir wurden Kindlein und, wenn es hoch kam, Theologen. Man lehrte uns den Patriarchen des achtzehnten Jahrhunderts verachten; aber man hütete sich auch wohl, uns dem Blick seines Adlerauges auszusetzen – denn wir wären vergangen oder elektrisiert – und seine heiligen Bücher gab man uns nicht in die Hand.

Unsre Augen wurden stumpf gemacht, damit wir das System der Natur „nicht schauen“ möchten, und auf ein Ding, das wir nicht kannten, lernten wir vornehm herabsehen. Wir mußten über die Frivolität und Unsittlichkeit der französischen Herren deklamieren lernen, damit das Gewebe der Lüge und Heuchelei um so sicherer uns umstricken konnte. Die Selbstverleugnung, sittliche Energie und Begeisterung, mit welcher jene Männer zeitlebens für die Wahrheit gedacht, gearbeitet und studiert hatten, durften wir nicht kennen, nicht ahnen, weil wir überhaupt den männlichen und sittlichen Ernst der Freiheit und das Gefühl der Empörung gegen die Unwahrheit und Lüge nicht kennen lernen sollten. Jedes Kindlein, jeder Theologe – und Alles, Alles war Theologe, wie in jener glückseligen Zeit von Byzanz – glaubte sich dadurch bewähren zu müssen, daß er über Männer schimpfte, die er nicht kannte und nicht kennen durfte, wenn er bleiben wollte, was er war – beamteter oder nicht-beamteter, offizieller oder nicht-offizieller Theologe. Wie weit die Täuschung ging, wie allgemein sie war, können selbst manche der philosophisch Gebildeten sehr leicht erfahren, wenn sie sich fragen, ob sie nicht – vielleicht jetzt noch – von der Unsittlichkeit jener Männer überzeugt sind, ob sie nicht – auch jetzt noch – das System der Natur längst unter sich zu haben glauben oder – sogar unbesehen – als ein plattes Ding behandeln.

Am deutlichsten aber zeigen sich die Nachwirkungen dieser Täuschung, wenn man auf den Kampf eines Voltaire gegen die „prêtres“ und „théologiens“ mit einem vornehmen Lächeln herabsieht, wenn man mit jener widerlichen Lauheit der moralischen Indifferenz fragt, wozu überhaupt dieser Kampf gegen das theologische Bewußtsein dienen solle, oder wenn man erschrickt und über die Rücksichtslosigkeit, welche die Dinge bei ihrem wahren Namen nennt, außer sich kommt. Die Sache liegt so, daß wir nicht einmal sagen können, die Franzosen hätten nur gegen die persönliche Repräsentation des theologischen Bewußtseins gekämpft, gegen welches wir uns in seiner Allgemeinheit, wie es eine Kategorie des Bewußtseins ist, zu wehren haben. Sie kannten vielmehr diese allgemeine Form auch recht wohl und haben es als diese Kategorie bekämpft, welche sich und nur sich allein die Oberhoheit zuschreibt, das Selbstbewußtsein in allen seinen Schöpfungen in Staat, Kunst und Wissenschaft ausrotten will und ihren heiligen Bekennern im Kreuzzuge gegen die Freiheit des Selbstbewußtseins die Parole gibt: écrasez l'infâme!

Der einzige Unterschied zwischen ihnen und den Deutschen reduziert sich am Ende darauf, daß diese von ihnen zu lernen haben und, wenn sie gelernt haben, die umfassenden Anschauungen ihrer Lehrmeister wahrscheinlich in eine verständigere Ordnung bringen und in der allgemeinen Erscheinungswelt des Selbstbewußtseins ihnen einen festern Halt und Zusammenhang geben werden.

Hegel war der einzige deutsche Mann der neuern Zeit, der da wußte, wo man Männer findet und von Männern etwas lernen kann.

Das Leben, welches das theologische Bewußtsein führt, hat nach ihm, nach unsern Propheten und an ihm selbst folgende Gestalt.

I. Die Angst

Das theologische Bewußtsein ist zunächst oder an sich religiös; es ist sogar die erste Forderung, die an dasselbe gestellt wird, daß es in dem Zustande des religiösen Bewußtseins sich nicht nur überhaupt einmal befunden habe, sondern in demselben eingewurzelt sei und beständig die nötige Lebenskraft aus ihm ziehe. D.h. das theologische Bewußtsein kann nicht ohne den Bruch und die Zerrissenheit des Selbstbewußtseins bestehen. Wenn nämlich das freie, menschliche Selbstbewußtsein alle die allgemeinen Bestimmungen, die für den Menschen gelten und die Menschen untereinander verbinden, als Erzeugnis seiner eignen Entwicklung und als das einzig würdige Erzeugnis seines Lebens betrachtet, erkennt und immer in seiner innern allgemeinen und idealen Welt zusammenhält, hat das religiöse Bewußtsein dieselben von dem Selbst des Menschen losgerissen, in eine himmlische Welt versetzt und so das unstete, schwankend und elend gewordene individuelle Ich mit dem allgemeinen, wahrhaften Ich, mit dem einzigen Ich, welches den Namen des Menschen verdient, in Zwiespalt gesetzt.

Diese Zerrissenheit des Innern und Entfremdung gegen sich selbst ist aber nur das erste, subjektive Erfordernis des theologischen Bewußtseins. Wirklich theologisch wird es nur durch die Reflexion, und was kann der einzige Gegenstand dieser Reflexion sein? Jene allgemeinen Bestimmungen des religiösen Bewußtseins! Auf diese reflektiert es, es sucht sie näher zu bestimmen, zu gestalten; es entsteht aus dieser reflektierenden und gestaltenden Tätigkeit wiederum eine Welt von allgemeinen Bestimmungen, Dogmen, eine heilige Geschichte der göttlichen Welt, eine Geschichte des Reiches Gottes, also eine sehr große und weitschichtige Welt von göttlichen Gestalten, Geschichten, Kämpfen, Sätzen, Dogmen und Statuten. Da nun aber das theologische Bewußtsein durchaus religiös sein muß, so muß es auch in dieser Schöpfung einer positiven, gestalteten Welt zerrissen, zwiespältig und elend sich verhalten. Es weiß nicht und darf nicht wissen, daß diese positive Welt sein Erzeugnis ist und daß sie ihm nur deshalb als eine fremde und jenseitige göttliche Welt erscheint, weil es im Grunde religiös ist und zwar dieser bestimmten Religion angehört. Denn andere, frühere, untergegangene Religionen, wie [es] z.B. die griechische oder römische für das christliche Bewußtsein sind, betrachtet es menschlich, d.h. nicht mehr religiös, d.h. nicht mehr vom Standpunkte dieser Zerrissenheit und Entfremdung aus.

Ferner: da jene himmlische, allgemeine oder überhaupt jenseitige Welt – der heiligen Geschichte, der heiligen Schrift, der Dogmen, der Geschichte des Reiches Gottes – vom religiösen Bewußtsein im Grunde herrührt, so ist sie in sich selbst verkehrt, zerrissen, so ist sie nicht das plastische, menschliche Kunstwerk oder Gesetz, in welchem das Allgemeine und Einzelne, die Idee und das Bestimmte oder der Umriß in Harmonie stehen, sondern beides, weil es eben das Werk einer zerrissenen Anschauung und nur die objektive Darstellung dieser Zerrissenheit ist, steht es mit sich im Widerspruch. Die heilige Geschichte, wenn man ihre Darstellungen in der heiligen Schrift miteinander zusammenbringt, steht in Widerspruch mit den Gesetzen dieser Welt und in Widerspruch mit ihren eigenen Daten. In den Dogmen und Glaubensstatuten läßt sich der allgemeine Sinn, der Zweck, die Idee mit den einzelnen statutarischen Sätzen nicht in vollkommenen Einklang setzen, und die Geschichte des Reiches Gottes überhaupt enthält Anstöße und Rätsel, die nur unter der Kategorie der Mysterien unterzubringen sind. Der Widerspruch, die Zerrissenheit und die Entfremdung wiederholt sich also wiederum in dieser objektiven Welt, zu welcher sich das unbestimmte religiöse Bewußtsein gestaltet hat. Diese Welt ist entstanden durch die erste, ursprüngliche Tätigkeit der Reflexion, d. h. des theologischen Bewußtseins. Dieses weiß aber und kennt nicht seine eigene Schöpferkraft; es betrachtet sich dem Göttlichen gegenüber nur als empfangend, d. h. nur als religiös. Wie verhält es sich also zu dieser heiligen Welt? Religiös, d. h. wieder im Zustande der Entfremdung. Jene Welt als solche betrachtet es nicht nur als eine positiv gegebene, sondern ausdrücklich stellt es sich auch so zu derselben, daß es ihre Harmonie, ihren allgemeinen Gehalt und die Widersprüche für positiv gegebene erklärt. Die Harmonie der göttlichen Welt und die Widersprüche, welche ihr gegenüberstehen, sind ihm fremde Sachen. Es ist das geplagte Bewußtsein des Widerspruchs. Als solches muß es nun, wenn es sich einen festen Standpunkt geben und in nähere Beziehung zu jener Welt setzen will – es ist aber dazu gezwungen, da es sich in diese Welt überhaupt erheben soll –, auf die Seite der Widersprüche, der Dissonanz, der Endlichkeit stellen. Hier ist sein wahrer Ort, hier ist es als Bewußtsein des Widerspruchs zu Hause. Seine Plage geht nun weiter, oder fängt erst recht an. Vom Widerspruch gefangengenommen und ihm in die Gewalt gegeben, muß es sich nun mit ihm, mit diesen fremden, ihm wenigstens entfremdeten Sachen herumschlagen, ohne Hoffnung, mit ihnen fertig zu werden.

Vom Widerspruch kann es aber nur wissen, indem es zugleich Bewußtsein der Harmonie ist – das ist klar, und wir brauchen nicht einmal daran zu erinnern, daß es selbst aus seiner religiösen Tiefe diese Welt geschaffen, ausgebildet und näher gestaltet hat. Da es also an sich selbst diese Harmonie, da es Bewußtsein der Harmonie ist, so muß es sich von den Widersprüchen befreien. Es muß die Harmonie auch als wirkliches Bewußtsein derselben erzeugen.

Wie aber wäre ihm dieser Beweis, daß es selbst die Harmonie, daß es die wahre Energie der Harmonistik sei, auch nur erträglich, – wir wollen nicht sagen möglich, da für es, als theologisches Bewußtsein, eben diese Harmonie etwas Jenseitiges, dem göttlichen Bewußtsein Zukommendes ist? Allerdings, weil es an sich, als menschlich, das Bewußtsein und die Kraft der Harmonie ist, sucht es die Einheit jener jämmerlich zerrissenen Welt herzustellen, die Harmonie hervorzubringen und in dieser die Widersprüche aufzulösen. Aber ihm als theologischen und an sich religiösen Bewußtsein sind beide Seiten gleich notwendig, beide in gleicher Weise von Gott allein gesetzt, beide also gleich widersprechend. Die Harmonie und Einheit ist nur göttlich, wenn sie widersprechend ist, d. h. wenn der Mensch sie nicht anders als mit einem unauflöslichen Widerspruch behaftet denken kann. Andererseits die Widersprüche sind auch göttlich gesetzt, gehören zur Harmonie des göttlichen Ratschlusses, da sie dazu bestimmt sind, unserer fleischlichen Sicherheit zum Anstoß zu dienen, uns zu stacheln, wenn wir oben hinaus wollen, und uns an unsere Schwäche und Ohnmacht zu erinnern. Der Widerspruch ist somit nicht nur durch den heiligen Buchstaben und durch die statuarischen Glaubenssätze geheiligt, er ist schlechthin zu unserem Seelenheile notwendig, er ist an sich selbst unendlich wertvoll, und wenn der Theologe ja einmal das Unglück haben sollte, einen Widerspruch zu lösen, so muß sich aus der Lösung sogleich ein neuer und hoffentlich ein größerer ergeben.

Als solcher kann aber der Theologe keinen Widerspruch lösen. Etwas so Merkwürdiges und Atheistisches gelingt oder vielmehr widerfährt ihm nur, wenn er aus der Philosophie und weltlichen Wissenschaft einzelne Bestimmungen sich aneignet und, was damit notwendig verbunden ist, sie für seine himmlische Welt verrückt macht, um sie hier als Bindemittel anzubringen. Da die himmlische Welt bei diesem Geschäft im Grunde dieselbe bleibt und die „Lehrsätze“ aus den weltlichen Wissenschaften auf den Kopf gestellt werden, so ist dafür allerdings gesorgt, daß die Quelle der Widersprüche nicht versiegt. Der Theologe wäre nämlich unglücklich, wenn sie versiegte, da gerade aus ihr sein Leben, sein Ganzes, sein Selbst hervorquillt. Ohne diese gleich positive Geltung der Widersprüche und der jenseitigen Harmonie würde sein theologisches Bewußtsein als solches gar nicht mehr existieren; wäre der Widerspruch beider Seiten aufgehoben, so wäre die Theologie getötet, und wollte etwa die Theologie selbst die Vermessenheit begehen und das Rätsel lösen, so wäre es ebenso, als wollte jene Sphinx des ödipus, statt die Menschen zu quälen, freiwillig das Wort des Rätsels verraten, sich also freiwillig vom Felsen herabstürzen und im Abgrund zerschellen. Jeder Sieg, zu dem das theologische Bewußtsein – dies geschieht aber nur, wenn es dem bösen Drange der Welt nachgibt – getrieben wird, muß in einer freiwilligen Niederlage und Flucht enden, jede Lösung muß neue Schwierigkeiten und Widersprüche erzeugen, und wenn das theologische Bewußtsein sich einmal zur Harmonie erhoben hat, muß es sich in neue Qualen, neue Schmerzen, in einen verdoppelten Jammer stürzen.

Schon aus diesen ersten, noch undeutlichen oder konvulsivischen Bewegungen und Verrenkungen des theologischen Bewußtseins ist es klar, daß die Harmonie und die Widersprüche an sich nicht schlechthin und absolut getrennt sind, da jede Seite nur durch die andere ist, jede die andere an ihr enthält und das Bewußtsein der einen nur durch die andere sich bewußt wird. Indem jede Seite an der andern widerscheint, jede die andere an ihr hat, darin wäre also die Einheit von beiden gesetzt; das theologische Bewußtsein erfährt auch in der Tat diese Einheit; aber weil es eben theologisch und damit religiös bleibt, erfährt es die Einheit als eine ihm jenseitige, fremde und ohne seinen Willen gesetzte. Die Einheit der heiligen Welt stellt es sich nur vor, somit als eine solche vor, die zu ihm noch in Gegensatz steht, wenigstens von ihm noch verschieden ist – kurz als eine solche, die nur im göttlichen Bewußtsein lebt und höchstens erst dann, wenn alles offenbar wird und alle Dinge wiedergebracht werden, also erst in der abstrakten oder vielmehr absolutistischen Zukunft ihm, sofern es christlich und gläubig geblieben ist, offenbaret wird.

Die Einheit, in welcher die allgemeine Regel der Harmonie und die hartnäckige Einzelnheit der Widersprüche wirklich in Übereinstimmung gesetzt ist, ist demnach als diese bloß vorgestellte, im göttlichen Bewußtsein enthaltene. Gott hat die Regel, das Gesetz der Harmonie in seinem Besitz, er hat die Widersprüche mit Willen gesetzt, um das Fleisch des Menschen immer zu stacheln und vor der Fäulnis oder vor der Üppigkeit und Lüsternheit zu bewahren, Gott hat also den Schlüssel zu den Widersprüchen, mit denen sich der Theologe herumplagt. Gott weiß, wie man die Widersprüche in jene Harmonie hineinschieben müsse, um ihr widerhaariges Wesen zu bändigen, um ihre Wildheit zu zähmen, um ihr Geschrei zu besänftigen. Für die Vorstellung und das theologische Bewußtsein hat also der Widerspruch noch eine sehr bedeutende Macht, noch Gültigkeit. Das theologische Bewußtsein ist nicht nur an sich – d. h. insofern es nur nicht weiß, daß es selbst diese ganze herrliche Welt geschaffen und aus seinen Mitteln zugestutzt hat – die Macht der Einheit und Harmonie, sondern es weiß auch diese Harmonie, aber als eine jenseitige. Die Harmonie ist also schlechthin entzweit, in Disharmonie aufgelöst, mit dem Kampf und Widerspruch behaftet, und es ist nun zu sehen, wie sich das Bewußtsein in dieser Welt des Zwiespalts bewegt.

2. Der Selbstbetrug

Durch die vollständige theologische Anerkennung, daß die Einheit der beiden widersprechenden Seiten eine jenseitige, eine nur göttliche sei, ist auch der Widerspruch vollständig und seine Härte fast unüberwindlich geworden. Nur jenseits, in Gott ist diese Einheit, und Gott hat die geistige Welt geschaffen, in der die Harmonie und der Widerspruch sich bekämpfen. Gott hat die Bibel geschrieben, die Gemeinde, seine Herde, geleitet, er hat die Glaubensbestimmungen in der Schrift geoffenbaret und denen, die seinen Geist darin angerufen haben, die näheren Definitionen der dogmatischen Sätze mitgeteilt. Alles also, was der Theologe unter seine Hände bekommt, ist ihm von einem fremden Willen gegeben, und daß es ihm gegeben ist, ist ein Faktum, an dem er nicht schuld ist, ein Faktum, das nun einmal und das überhaupt so und nicht anders geschehen ist. Die Bibel ist ihm in die Hand gegeben, die Glaubensbestimmungen sind ihm durch die Tradition zugekommen oder, wenn er es lieber hören will, aus der Schrift zugeflossen oder zugeflogen oder ausgeschwitzt.

Durch diese äußerliche, positive Form, in welcher dem theologischen Bewußtsein seine Welt offenbar wird, durch diese geschriebene Bibel, durch diese Verstandessätze der Glaubensbestimmungen ist ihm seine göttliche Welt vollends eine verwunderliche und wundersame Weisheit, vollends etwas unbegreiflich Festes und Positives geworden, die Widersprüche der zahllosen Einzelnheiten, die alle gleiche Bedeutung haben wollen, sind fürchterlich, und die Harmonie derselben ist ein unbarmherziges Mysterium.

Das theologische Bewußtsein kann die Einsicht in die Harmonie und Einheit nur hoffen und nur als eine jenseitige hoffen. Es weiß nicht, daß es als Selbstbewußtsein alle diese Dinge selbst ist, daß es als Bewußtsein alle diese Dinge selbst gemacht, geschrieben, gebildet und ausgearbeitet hat, daß es selbst die Einheit der Harmonie und des Widerspruchs, d. h. die existierende Einheit ist, die nur in sich zu gehen braucht, um sich zur selbstbewußten Einheit zu machen.

Es hofft nur auf die Einheit, es glaubt im Jenseits in die mysteriöse Tiefe derselben zu schauen, aber darf nicht ganz darauf Verzicht leisten, die Einheit auch jetzt, wenn auch nur wie in einem Spiegel, zu schauen. Jenes Jenseits ist an sich nur das selbstgemachte Jenseits der Vorstellung und muß als solches, da es nur eine subjektive Bestimmtheit und Form des theologischen Bewußtseins ist, auch jetzt schon auf dieser Erde und in diesem Jammertal den Theologen trösten, erquicken und in seinen Ängsten stärken. Diese Herzensstärkung genießt der Theologe in der Sehnsucht, im Gefühl und in der Ahndung der Einheit der ärgerlichen Widersprüche. Er hat in dieser Ahndung, in diesem Gefühl also auch notwendig ein Gefühl davon, daß sein Bewußtsein selbst die Einheit sei, denn es ist ja an sich diese Einheit in der Tat. Da ihn aber sein theologisches Bewußtsein immer, auch in dieser Erhebung und Vertiefung zur Einsicht, beherrscht, so fühlt er dieselbe immer nur als eine jenseitige, und zwar zunächst, da er sich für jetzt als Gefühlsmensch verhält, nur als eine höchst unbestimmte.

a. Das Gefühl der Harmonie

Seine Erhebung zur Harmonie der Widersprüche ist daher am Ende nur ein Dusel, in welchem ihn der Gedanke des Einzelnen und jede bestimmte wirkliche Reflexion verläßt. Seine Schwelgerei in der Harmonie besteht in nichts anderem als darin, daß er alle bestimmten Töne in ein Chaos zusammenfließen läßt, in dem sie ihre Bestimmtheit verlieren, oder er dreht sich im Kreise, und die einzelnen Farben verschwimmen ihm zur Farblosigkeit. Er verhält sich nicht als Geist und zwar als selbstbewußter Geist zu seinem Gegenstande, sondern den Spiritus und Branntwein seines Innern zündet er an und entzückt sich an der matten Flamme desselben, welche alle Gegenstände zu Gespenstern und Schemen macht und ihnen die lebendige Farbe nimmt.

In diesem Dusel spricht der Theologe von der Freiheit des Geistes, der sich in mannigfachen individuellen Gestalten ausprägt, von der Harmonie der Heiligen Schrift, die von den Widersprüchen unverletzt bleibe, von dem Einen Geiste, der die Formen wechsle, aber in diesem Wechsel sich immer als derselbe erhalte.

In diesem Rausche ist es in der Tat, daß sich das theologische Bewußtsein als die Einheit der Widersprüche empfindet und fühlt, aber in seinem nüchternen Zustande weiß es von dieser Erfahrung nichts mehr, die Einheit entzieht sich ihm, sobald es die Sache mit nüchternem Ernste betrachtet, und nach dieser unbestimmten Erhebung fällt es um so tiefer und elender in seine Jämmerlichkeit zurück. Statt die Einheit zu ergreifen und in sich herabzuziehen, ist es nur des Widerspruchs habhaft geworden, statt die Freuden der himmlischen Harmonie zu genießen, ist es nur noch sicherer eine Beute der Qual geworden. Eines aber ist nach diesem forcierten Spiritusrausch geblieben oder vielmehr gewonnen. Die Einheit, nämlich diese trunkene Vision der Einheit, ist entflohen, aber das Vergebliche der Anstrengung hat doch seine wohltätigen Folgen gehabt; das elende Selbstgefühl ist gesteigert, ist gerade durch die erhöhte Qual gesteigert, und wenn das theologische Bewußtsein erst betete, träumte und schwelgte, so muß es jetzt, da der Ernst fürchterlich geworden ist, arbeiten.

b. Die Arbeit

Das theologische Bewußtsein arbeitet! Und was für eine Arbeit! Die Hunderttausende von Büchern, die das Resultat dieser Arbeit sind, zeugen nur schwach von der Qual und von dem jämmerlichen Elend, welches sie hervorgebracht hat. Das Elend jenes gequälten und zerknickten Selbstgefühls ist unendlich, und gerade von denen wird es am meisten anerkannt, am richtigsten gewürdigt werden, die am meisten von den Menschen, die es empfinden, gelitten haben und noch jetzt leiden, von den Bekennern der Freiheit und der Wissenschaft. Die Scheiterhaufen, blutigen Schwerter, die Kerker, die glühenden Eisen, die Zangen und Beile, welche den Bekennern der Menschlichkeit bestimmt waren und in modernisierter Form noch bestimmt sind, zeugen von dem Ernst und der blutigen und feurigen Anstrengung, mit welcher das theologische Bewußtsein gearbeitet hat und noch arbeitet.

Wehe dem, der sich nicht dazu gestimmt fühlt, diese theologische Arbeit unbedingt anzuerkennen. Das Bewußtsein der Harmonie wird dem Theologen erst durch das Gefühl der äußersten Qual zur Energie, zu eigner Arbeit seiner Kraft. Es ist also ein gewaltsames Bewußtsein, welches hier arbeitet und seine innere Gewaltsamkeit und Forciertheit auch diejenigen fühlen lassen muß, die ihm zwischen die Hände fahren wollen. Das theologische Bewußtsein ist, indem es wirkliche Energie geworden ist, Begierde, wildes Verlangen, Gewaltsamkeit geworden und äußert sich als dieselbe unmittelbare Begierde gegen seine Widersacher. Es arbeitet also! Aber wie ist es so zu dieser Arbeit getrieben worden? Durch die Qual, durch die Begierde, es fühlt sich heißhungrig, also zugleich durch die Stärke, welche in sich selbst Erschlaffung und Schwäche ist, zu seiner Arbeit gestachelt; es hat einen äußeren, steinharten Gegenstand vor sich, den es zermalmen möchte, es hat die Spannung der blinden Begierde auf diesen Gegenstand, d. h. es weiß nicht, daß es in ihm mit sich selbst und mit menschlichem Wesen zu tun hat. Der Bruch und das mitleiderregende Elend, welches dadurch in seine Arbeit kommt, hat folgende Gestalt. Die Widersprüche als Gegenstand der wilden Begierde, welche sie mit Haut und Haaren verzehren möchte, bleiben eben deshalb unüberwindlich, sie bleiben objektiv bestehen, und nur die subjektive Gewalt kann sie scheinbar für das theologische Bewußtsein vernichten; der Gewalt aber, die sie immer noch als positive Bestimmungen, Sätze und Statute betrachtet, können sie nicht unterliegen. Das theologische Bewußtsein kann sie nicht wirklich besiegen und in Harmonie bringen, weil es sie nur als gegebene Gegenstände – wenn auch Skandale – betrachtet, als feste, fremde Größen zu betrachten fortfährt und sie nicht dahin zurückführt, wo sie zu Hause sind, ins Selbstbewußtsein. Es macht nicht ernst damit, daß es die Harmonie der Widersprüche ist, kann also nur eine gebrochene Beruhigung oder eine gewaltsame oder erheuchelte Harmonie zustande bringen. Handelte es anders und arbeitete es menschlich, führte es die Gegensätze des Dogma in das Selbstbewußtsein zurück und die Widersprüche der Schrift in das Selbstbewußtsein der heiligen Schriftsteller, die sie gesetzt haben, so wäre die Sache abgemacht; aber dann würde es seine eigene Sache verloren haben, es würde aufhören, das gebrochene Selbstbewußtsein zu sein, und es wäre dann nicht mehr das theologische Bewußtsein. Als solches weiß es nicht, daß es in seiner Arbeit seine eigenen Produktionen bearbeitet, dieselben sich aneignet und dahin zurückführt, wo sie entstanden sind. Sondern nein! es behandelt die Widersprüche wie hölzerne Klötze, wie Kieselsteine oder wie Meteore, die man weder kauen noch verdauen kann und deren Entstehung, wenn sie wie die Meteorsteine vom Himmel fallen, kein Mensch schuld ist. Die Auflösung der Widersprüche, weil sie nicht ernstlich in den Geist zurückgenommen werden, bleibt daher eine gebrochene, unglückselige Arbeit, und dieser Bruch wird auch sogleich in der Selbstempfindung des theologischen Arbeiters hervortreten. Wenn es mit der Auflösung der Widerstände so steht, daß die Harmonie doch noch nicht wirklich über sie Gewalt bekommen hat, so ist die Befriedigung des theologischen Bewußtseins, die es aus seiner Arbeit zieht, selbst gebrochen, geteilt und zerknickt. Seine Arbeit muß es für sich selbst verleugnen, vernichten, desavouieren und den Bruch damit nur noch erweitern.

Der Gegenstand, mit dem es sich beschäftigte, die Bibel und das Dogma, beide mit ihren Widersprüchen, ist nicht sein Eigentum, ist nichts, was es mit Fug und Recht beherrscht; – aber es bearbeitet doch diesen Gegenstand? Es greift doch ganz tüchtig in die biblischen Berichte ein und bringt Tausende von Büchern hervor, in denen es die Harmonie jener Berichte den Ungläubigen beweist? Allerdings arbeitet es; aber seine Arbeit ist in ihr selbst gebrochen, da es den Gegenstand als gegeben und als seiner Macht entzogen voraussetzt. Es kann nur die Oberfläche jener Kiesel- oder Meteorsteine oder jener hölzernen Blöcke berühren und unterscheidet diese Oberfläche, welche den Einflüssen der zufälligen Temperatur, des Naturwechsels, der individuellen Lage ausgesetzt und dadurch bedingt ist, von dem Kern, der hinter ihr verborgen ist.

Wie nach dem beliebten und so geistreichen Ausspruch unserer heutigen Gottesgelehrten, wenn Gott in der Entwicklung der dogmatischen Welt sich eine Kirche erbaut hat, der Teufel sogleich eine Kapelle daneben errichtet, oder wie der böse Feind in den Weizen Gottes sein Unkraut sät, so ist auch an der Bibel, wie dieselben teueren Gottesgelehrten versichern, das Menschenwerk von Gotteswerk zu unterscheiden. Der Kanon ist göttlich, aber dieser Kanon ist zu unterscheiden von dem menschlichen Kanon, in dem er enthalten und verborgen ist. Die Schrift enthält Gottes Wort, aber sie ist nicht selbst, ist nicht in ihrem ganzen Umfange Gottes Wort. Das Göttliche ist also von der Schale, von dem Menschlichen, Individuellen etc., zu unterscheiden und womöglich abzulösen.

Etwas Ganzes kennt das theologische Bewußtsein nicht und kann es selbst nimmermehr werden. Es ist der Bruch des Geistes an ihm selber, und wo es nur hinkommt, was es nur berühren mag – in alles bringt es denselben Bruch, der es selbst in seinem eigenen Innern ist. Wie jenem alles, was er berührte, unter der Hand zu Gold wurde, so dem theologischen Bewußtsein alles zu einem gebrochenen Wesen.

Als dieser Bruch kann es demnach auch nicht über seinen Gegenstand Herr werden; ja es darf nicht einmal, weil es als trübselige Zerrissenheit die Schwäche selbst ist, mit dem Unterschiede, den es z. B. in der Schrift annimmt, Ernst machen. Es greift nicht ernstlich zu, wagt den Gegenstand nicht rücksichtslos anzugreifen, kann also durch seine harmonistische Arbeit nicht zum Selbstbewußtsein seiner Freiheit und Selbständigkeit kommen. Es ist elend, gefangen, gebunden. Nie wagt es ernstlich, den Kanon im biblischen Kanon zu unterscheiden, nie das göttliche Wort von der Schale abzulösen; jedesmal, wenn es auch nur die kleinste Partie von dem wirklichen göttlichen Wort unterscheiden soll, fällt es in Angst, zittert es und nimmt es sein früheres, an sich selbst schon unbestimmtes Gerede von jenem Unterschiede in ein noch unbestimmteres Gerede, in eine sinnlose Faselei über die höhere Einheit und Harmonie zurück. Der Gegenstand bleibt im Dunst der Heiligkeit stehen. Das gemarterte Bewußtsein kann daher durch seine Arbeit, da sie nur das oberflächliche Sichselbstpreisgeben des Heiligen ist, nicht zur menschlichen Befriedigung kommen; es kann nicht das Bewußtsein der menschlichen Freiheit gewinnen oder sich selbst bewähren – natürlich, da es den Gegenstand nicht in das Selbstbewußtsein zurückführt, also selbst auch nicht im Resultat der Arbeit in sein Inneres zurückkehrt. Noch im Resultat ist es sich selbst entfremdet; daß es also zu einem Resultat, zu dieser oder jener Lösung eines Widerspruches etc. gekommen ist, ist ihm ein fremdes Geschehen, ein von seinem Willen, seinem Entschluß fremdes Tun – kurz, ein Geschenk; auch die Möglichkeit, daß es für dies Geschenk empfänglich war, seine Geistesgaben sind ein Geschenk, eine Gabe Gottes, und indem es dies Geschenk als solches anerkennt und die Entsagung auf alle innere Befriedigung vollendet, muß es danken. Es dankt.

c. Der Dank

„So schließe ich denn (Neander, Leben J. Ch., S. XIII) mit dem Danke gegen Gott, daß er mir die Kraft zu dieser Arbeit verlieh, für alles Wahre, was in derselben von ihm herrührt, und mit dem herzlichen Wunsche zu ihm, daß er sie mit seinem Segen zu Beförderung seines Reiches begleiten möge.“

So schließen die meisten Vorreden zu theologischen Büchern, und so müssen alle schließen.

In diesem Danke vollendet sich aber der Selbstbetrug des theologischen Bewußtseins. Zunächst brauchten wir es nur auf den Versuch ankommen lassen und zu sehen, was der Theologe für ein Gesicht machen würde, wenn wir seinen Dank vollkommen ernstlich nehmen und seine Entdeckungen mit der Formel zitieren wollten: „Es hat dem Herrn aller Herren gefallen, dem Herrn N. N. folgende Lösung des berühmten Widerspruchs zu offenbaren oder ihm die Kraft dazu zu geben, daß er diese oder jene Schwierigkeit endlich aus dem Wege schaffen konnte.“ Oder was würden diese Herren wohl sagen, wenn wir, was doch notwendige Folge des Ernstes wäre, ihre Namen gar nicht erwähnen und bloß sagen wollten: „Gott hat es in der letzten Ostermesse möglich gemacht, daß wir uns endlich der Qual wegen jenes schrecklichen Widerspruchs in jenem evangelischen Bericht überheben können?“

Diese Herren würden es uns entweder sehr übel nehmen, wenn wir ihre Namen gar nicht erwähnen wollten – sie halten also doch noch etwas auf ihre Person –, oder sie würden uns auslachen, daß wir die Sache so ernst nehmen, oder – in der Tat aber würden alle diese Erscheinungen eintreten – sie würden uns als frivole Spötter denunzieren – als ob es etwas Frivoleres geben könnte als jenen Dank, mit dem es so wenig ernst gemeint ist und welchen das theologische Bewußtsein selbst vollständig auflöst.

In der Tat hat das theologische Bewußtsein in diesem Danke sich nicht aufgegeben, nicht aufgeopfert, nicht weggeworfen. Es hat selbst gearbeitet, sich selbst abgequält, und gerade in dieser Qual hat es sich selbst empfunden und genossen, und in den Schwingungen seines Innern, welche diese Qual zurückgelassen hat und in denen sie noch nachvibriert, genießt es sich auch jetzt noch im Ergebnis seiner Arbeit. Dies Ergebnis ist an ihm selbst das Zeugnis seiner Anstrengung und der Herold seines unsterblichen Verdienstes.

Wehe dem, der sich nicht dazu verstehen wollte, dies Verdienst anzuerkennen, zu proklamieren, oder sich etwa gar unterstünde, diese oder jene Lösung dieses oder jenes biblischen oder dogmatischen Widerspruchs elend und pitoyable zu finden. Der Theologe hält auf seine Person große Stücke und hält sie für notwendig. „Die Zeichen der Zeit und die Ungewißheit menschlicher Dinge fordern ihn auf (Neander, ebend. S. VIII), mit der Abfassung eines Lebens Jesu Christi nicht mehr länger zu zögern. Er wendet das sehr weltliche Mittel eines geschichtlichen Zusammenschauens’ an, um die Bruchstücke des Lebens Jesu (die in den Evangelien zerstreut durcheinander liegen) zur Einheit des Gesamtbildes zu verbinden“: und diese Arbeit führt er noch dazu aus „von dem Standpunkte der Entwicklungsstufe des Lebens und der Wissenschaft, der wir angehören“ (ebend. S. XI).

Hier, hier auf dieser Erde findet er schon „Vorarbeiten für die Zeit einer neuen Schöpfung“ (S. X). Er hat „Schwierigkeiten insbesondere in Hinsicht der chronologischen Anordnung“ zu überwinden. Aber er spricht sich selber Mut zu: „Dies soll uns nicht abschrecken von der Arbeit, sondern zu einem neuen Anlaufe ermuntern“ (S. XI).

Er wendet selbst „Forschung“ an, ja er entzieht sich nicht „den kritischen Elementen der menschlichen Natur und der Zeit“ (S. XIII), und statt die Sorge dafür Gott zu überlassen, wie er tun müßte, wenn es ihm mit seinem Dank ernst wäre, versichert er endlich (Kirchengesch. V, I, Vorwort S. X), daß „er seinen theologischen Standpunkt mit Gründen der Wissenschaft wohl zu vertreten wissen werde“.

Die Umkehrung ist vollendet! Das theologische Bewußtsein hat sich als selbständig erfaßt; es hat die jenseitige Macht, der es erst Dank abstattete, zu einer Illusion gemacht, und in sich selbst ist es eingekehrt, um sich in seinem Innern als die Auflösung der Widersprüche und als die Vermittlung der allgemeinen Harmonie und der widerspenstigen Masse der Einzelheiten zu genießen.

Da aber diese Vermittelung noch theologisch ist, d. h. den Bruch des theologischen Bewußtseins durch die zu Grunde liegende religiöse Voraussetzung beständig wieder erneuern, aufdecken und womöglich noch erweitern muß, so kann sie in ihrer wirklichen Erscheinung und Durchführung sich nur als die Beziehung der beiden Seiten darstellen, mit welchen das theologische Bewußtsein als solches sich herumschlagen muß. Das realisierte theologische Bewußtsein ist der Mittler, welcher die Harmonie und den Widerspruch der Einzelheiten in Beziehung setzt.

3. Der Mittler

Er darf sie aber als dieser Mittler nur in Beziehung setzen; denn wäre die Entfremdung beider Seiten wirklich aufgehoben, so wäre es auch um das theologische Bewußtsein selbst geschehen. Er kann daher die Einheit der Harmonie und der widersprechenden einzelnen Bestimmungen nur vorstellen; ja es ist genug, wenn er über diese Einheit nur „Winke“ gibt, oder „Andeutungen“, oder „Aphorismen“. Diese Vorstellung gibt er den andern, die noch auf der Seite des Widerspruchs, in der Endlichkeit gefangen sind und die, da sie die Lösung sich nur vorstellen dürfen und können, sie nur durch den Mittler erhalten können, sich nicht selbst vermitteln dürfen und sie mechanisch als etwas rein Gegebenes annehmen müssen. Sie vertrauen dem Mittler unbedingt, folgen ihm, verehren ihn und flehen ihn um seinen Rat an, den er ihnen voll von Erbarmen und herzlicher Teilnahme auch nicht versagt. „Er weiß mit Liebe und Weisheit die freien(?) Geister zu leiten“ (Neander, a. a. O.). Die andern dürfen sich nicht einbilden, daß sie durch eigene Selbsttätigkeit hinter die Sache kommen können, oder sie dürfen nicht ernstlich meinen, daß wir alle den Geist haben, denn (Sack, die Göttlichkeit der Bibel, S. 45):

„Nicht fest gebannt an eines Standes Weihe, Doch wohnend gern in würd'ger Lehrer Sinn, So wirkt der Geist durch aller Glieder Reihn.“

Der Rat des Mittlers erstreckt sich auf alle Unternehmungen derjenigen, denen er die Vorstellung der Harmonie gibt; er weist sie auf ihre Arbeiten an und „ermuntert“ sie dazu – lateinisch sagt er, wenn das Werk vollendet ist: opus me incitante susceptum. (Unter den zahllosen Vorreden, die Neander zu den Arbeiten anderer geschrieben hat, siehe die soviel wir wissen neuesten zu den Vitae quatuor Reformatorum und zu dem Heptaplom des J. Bodin von Gusrauer.) Sein Rat und Dienst ist noch umfassender und ersprießlicher; er bringt es dazu, daß den Seinigen „von allen Seiten die öffentliche Anerkennung und Aufmunterung zuteil wird, die sie durch ihre Gesinnungen, Kenntnisse, Arbeiten und Leistungen verdienen“ (Vorrede zur ersten Auflage der Geschichte der Pflanzung und Leitung etc. I, S. XI); er veschmäht es nicht, um die „sorgenfreie Lage“ der Seinigen bekümmert zu sein (Vorrede zu Heptapl); er wünscht ihnen die Beweise der „großsinnigen Liberalität der teuern Stadt Hamburg“ (Geschichte der Pflanz. II, S. III), ja er wünscht ihnen auch treffliche „Verleger“ für ihre Schriften. Der Arme, der aus diesem Kultus einmal herauszutreten und an der Mittlerschaft des Mittlers auch nur im leisesten zu zweifeln wagt! Sogleich wird ihm zugedonnert, daß es ihm an „Wahrheitssinn“ fehle, und er wird hinweggetrieben aus der Kirche und hinausgestoßen zu denen, die von vornherein ratlos und unmittelbar in der Welt umherlaufen! Der Mittler als dieser bestimmte ist aber nicht allmächtig, nicht allwissend, nicht allumfassend, nicht die absolute Vermittelung, da er selbst nur in seinem Bewußtsein die Beziehung der Harmonie und der Widersprüche auf die Einheit ist. Die Einheit ist ihm selbst nur eine Vorstellung; die Mittlerschaft ist daher ein Prozeß ins Unendliche, und dieser bestimmte Mittler, der einmal als Gegenstand der Verehrung ausgestellt war, nur eine vorübergehende, also wechselnde Vorstellung der Kategorie der Mittlerschaft. Er muß daher auch zuweilen aufhören, Mittler zu sein, muß durch die Tat beweisen, daß die Einheit und Lösung ihm nur eine vorgestellte ist, d. h. er muß sich auf die Seite derjenigen stellen, welche im Mittler ihre Vorstellung haben, er muß mit ihnen auch seinen Mittler, also einen andern außer ihm verehren. Die Personen wechseln, es sind viele Rater, Helfer – die Dedikationen der theologischen Bücher sind der index sanctorum, der Himmel der Heiligen – jeder muß Gegenstand der Verehrung werden, so wie er dem andern wieder den Gegendienst leistet, ihn im Chor der andern zu verehren. Mit einem Wort, wir sehen „den theologischen Kultus des Genius“ vor uns, den wir in einem früheren Aufsatze in diesen Jahrbüchern geschildert haben.

Schluß

Nach so vielen und jammervollen Leiden ist die Freude des theologischen Bewußtseins vollendet.

Aber dieser Gipfel der Freude ist an sich selbst wieder der Punkt, wo der Quell jener Leiden entspringt. Kaum hat das theologische Bewußtsein aus dem Jammertal dieser Welt am Bach seiner Leiden entlang sich auf diese Höhe heraufgefunden, so muß es sich mit seinen Leiden wieder herunterstürzen, um immer von neuem, also mit der Qual und Angst des Sisyphus, sich wieder hinaufzuarbeiten und dann zu sehen, daß es zu ewiger Unseligkeit verdammt ist.

Solange es wenigstens theologisch bleibt und die notwendige Entwicklung seiner selbst nicht einsieht, nicht anerkennt und nicht zulassen will, ist es die ewige Verdammnis des Geistes. Im Hintergrunde des Schauspiels, welches vom theologischen Bewußtsein aufgeführt wird, steht die Wahrheit, aber der Theologe als solcher erkennt sie nicht und darf sie nicht erkennen, weil er sonst sein Bewußtsein aufgeben muß. Dafür tritt die Wahrheit wider seinen Willen hervor, und „Baradautz! der Götze liegt am Boden“.

Wenn die Mittlerschaft wechselt und ein Mittler dem andern folgt, um die Ehre zu genießen, die er dem andern erwiesen hat: was folgt daraus oder was ist das im Grunde? Gewiß nicht, was der Theologe in seinem starren, hölzernen Bewußtsein fixiert, immer nur ein und dasselbe, daß dieser Mittler eifrig seine Ehre verlangt und von den Knechten zugewiesen bekommt; sondern dies ist nur die rohe oder marionettenartige Darstellung dessen, was in der Welt in seiner wahren, würdigen und großartigen Gestalt sich ausführt – das zum Puppenspiel herabgewürdigte Schauspiel, daß das Reich des Geistes ein allgemeines ist, daß die Grenzen der einzelnen Territorien sich berühren, die Genien sich ergänzen, die Entwicklung fortschreitet und eben deshalb, weil sie dem allgemeinen Interesse dient, die früheren schöpferischen Geister nicht als tote Götzen für die Vorstellung stehen, sondern immerfort, auch nach dem Augenblick ihrer Herrschaft noch, eine Geschichte erleben läßt, welche das Urteil über sie ratifiziert und sie selbst endlich, wenn sie vollständig erkannt sind, als Bürger in der Republik des Selbstbewußtseins verewigt.

Ebenso, wenn die Schar der theologischen Anbeter vor dem Genius und Mittler kniet, ihrer eigenen Gedanken – soweit sie noch welche hat – sich entschlägt und selbst gedankenlos die Orakel des Mittlers nachbetet, seine Auflösung der Widersprüche bewundert und auswendig lernt: so ist das allerdings auf diesem theologischen Gebiete ein Anblick, der zum Erbarmen ist. Im Grunde aber ist diese Verzichtleistung auf den eigenen Willen, Rat und Gedanken die Anerkennung, daß der Geist nicht die subjektive Willkür, nicht der bloße, eigne Einfall, sondern wesentlich allgemein ist. Ich resigniere auf meine Einzelheit, um mich als allgemein, aber damit auch die Genien und ihre Produktionen als Bestimmtheit meines, nämlich meines allgemeinen Selbstbewußtseins zu wissen. Erhebe ich mich aber zu dieser Form des Selbstbewußtseins, d. h. bleibe ich nicht auf dem Standpunkt des brutalen Bewußtseins stehen, so sage ich nicht mehr nur, wie das theologische Bewußtsein, daß Ich die Harmonie der Widersprüche und die Einheit der Harmonie und der Widersprüche bin, sondern das allgemein gewordene Ich ist es wirklich und beweist in der Tat, daß es diese Einheit ist; denn es ist und beweist sich als die Macht, in welcher diese Harmonie und diese Widersprüche entstanden sind. Auch die Mittler helfen dem theologischen Bewußtsein nichts; denn jeder, wenn er wirklicher Theologe – theologus absolutus – werden will, muß auch Mittler werden, und jeder Mittler muß den Prozeß des Bewußtseins durchmachen, den wir beschrieben haben. Da nun ein Mittler – ins Unendliche – dem andern Platz macht, so muß in jedem die beschriebene Qual von vorn anfangen, und jeder muß somit diese Qual in ihrer persönlichen Darstellung und Vollendung anbeten und ihr als dem Höchsten huldigen.

Das Selbstbewußtsein ist selig, auch in seinen Arbeiten selig. Das theologische Bewußtsein ist die ewige Qual, und selbst seine Freuden sind durch diese Qual vergiftet.



Zuletzt aktualisiert am 20.5.2009