Bruno Bauer


Auszüge aus:

Die gute Sache der Freiheit und meine eigene Angelegenheit

(1842)



Bruno Bauer: Die gute Sache der Freiheit und meine eigene Angelegenheit: Zürich und Winterthur (Verlag des literarischen Comptoirs) 1842, 235 S. [S. 1-25; 196-235]
Abgedruckt in Bruno Bauer, Feldzüge der reinen Kritik, Nachwort von Hans-Martin Sass, Frankfurt/M, Suhrkamp Verlag, 1968, S. 91-152.
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Eingang

Der Verurteilte, der während des Prozesses nicht gehört ist, wird von seiner Verteidigung nicht erwarten, daß sie bei denen, die ihn verurteilt haben, eine günstige Aufnahme finden werde, wenn sie ihn in ihrem eigenen Interesse verurteilt haben und verurteilen mußten, sobald sie ihr Interesse als das einzige höchste Recht gegen ihn geltend machten. Seine Richter sind zugleich seine Gegner: wo ihr Interesse anfängt, hört sein Recht auf. Er kann sich verteidigen, d. h. beweisen, daß das Interesse, welches seine Gegner beherrscht, Unrecht ist, wenn es das Recht, für welches er aufgestanden und um dessentwillen er verdammt ist, beschränken will, aber er wird nicht auf eine Rechtfertigung hoffen, die nur darin bestehen könnte, daß seine Gegner ihr Privat-Interesse wenn nicht verleugnen, so doch wenigstens auf das Maß zurückführen, welches ihm im Vergleich mit einem höhern Rechte zukommt.

Seine Stellung wäre immer noch mit weniger Schwierigkeiten verknüpft, wenn er nur auf die Einsicht seiner Gegner zu wirken brauchte oder von vornherein darauf redinen könnte, daß sie ihm willig entgegenkomme. Seine Richter kämpfen aber vielmehr für ihr Interesse, sie wollen durchaus recht haben, sie wollen, daß er Unrecht habe, er hat es daher mit einem entschiedenen, interessierten Willen zu tun, und dieser Wille ist sogar das einzig Entschiedene, was ihm von seinen Gegnern entgegengesetzt ist.

In jenen Epochen, wo die Zeiten voneinander scheiden, die Interessen miteinander brechen, die Vergangenheit die Zukunft verdammt, ist dieser Bruch, diese Lösung der Lebensfrage nur dadurch möglich, daß das Alte fühlt, es sei mit dem Neuen unverträglich, aber nur das unklare, wenn auch untrügliche Gefühl von dieser Unverträglichkeit hat. Es wagt nicht einmal, das Neue unbefangen zu prüfen und zu verstehen, da es in dem Verständnis seinen Verlust fürchtet und allerdings sich schon verleugnen müßte, wenn es das Neue auch nur unbefangen prüfen sollte. Es will nur das Neue nicht und wendet die ganze Kraft seines Willens dazu an, die Zukunft und das neue Prinzip von sich abzustoßen.

Im ersten Augenblicke des Kampfes kann es aber nicht einmal das Neue verstehen. Vor dem Bruche, als das neue Prinzip noch im Schoß der Vergangenheit lag, hatten sich die beiden Prinzipien, welche die Krisis auseinanderreißt, noch in einer unklaren Weise gegenseitig durchdrungen, beschränkt, aber auch gestützt und getragen.

Das Alte, welches mit dem Neuen bricht, täuscht sich daher über sich selbst, wenn es sich für das Alte hält und sich auf seine überlieferten Rechte beruft. Es kennt sich selber nicht. Die katholische Kirche, die sich der Reformation gegenüber bildete, war nicht mehr die Kirche, wie sie vor dem Bruche mit dem Prinzip, das sie in ihrem Schoße getragen hatte, beschaffen war. Es war eine Selbsttäuschung, wenn der katholische Gegensatz der Reformation nur das Alte zu behaupten meinte oder wenn die Stuarts die alte hergebrachte monarchische Gewalt gegen die Gemeinden, die ihre Rechte in Anspruch nahmen, zu verteidigen glaubten. Das Alte, welches dem Neuen sich widersetzt, ist nicht mehr wirklich das Alte, durch den Gegensatz ist es vielmehr selber zu einer neuen Gestalt des Geistes geworden: seine Rechte liegen nicht in der Vergangenheit, sondern sind erst zu beweisen.

Wenn diejenige Macht, die den Fortschritt widerrufen, verbieten oder unmöglich machen will, nicht mehr das Alte selber ist, so ist sie doch die Konsequenz des Alten, der richtige Sinn, die richtige Durchführung desselben, das aufgedeckte Geheimnis des Alten, das Geständnis, welches der Gegensatz des Neuen ihm abgedrungen hat. Die katholische Kirche, die sich im Kampfe mit dem Protestantismus bewährt, verrät den wahren Sinn der Kirche des Mittelalters; der Kampf der Stuarts gegen die Freiheiten der Gemeinden erhebt die Willkür der Tudors zum Prinzip; die theologischen Fakultäten, wenn sie die freie Forschung von sich ausstoßen, beweisen damit, daß ihre bisherige Existenz im Grunde auf der Beschränkung des Denkens beruht; die Regierung, die sich zum Urteil der Fakultäten bestimmen läßt, spricht damit aus, daß ihre Existenz mit der Freiheit des Gedankens unverträglich ist; das Publikum endlich, welches gegen die Kritik Partei nimmt, scheut sich nicht zu gestehen, daß seine Indolenz von der freien Forschung nicht gestört sein will und daß ihm der Mut fehlt, der nicht fehlen darf, wenn alte, eingewurzelte Vorurteile abgelegt werden sollen. Vor dem Bruche hegten die theologischen Fakultäten freie Tendenzen, erklärten die Regierungen, daß Religion und Philosophie Gefährten sein müssen, und konnte sich das Publikum, wenn es dem Kampfe gegen sogenannte Finsterlinge galt, für Freiheit des Gedankens und der Forschung enthusiasmieren. Der Bruch beweist, daß dies Benehmen, diese Erklärungen, dieser Enthusiasmus inkonsequent und beschränkt waren. Der Bruch ist die wirkliche Befreiung der Freiheit und die Umwandlung der Beschränktheit zum Wesen der Gegner der Freiheit.

Nach dem Bruche, wenn dieses Wesen der Korporation, der Regierung und des Vorurteils der Masse sich offenbart hat, berufen sich die Gegner und Richter der Kritik auf ihre früheren liberalen Tendenzen und Erklärungen. Sie verfallen also in den Widerspruch, daß sie dasjenige, was von ihrem wirklichen Wesen widerrufen wird, zu ihrem Wesen rechnen, in einen Widerspruch, der ihren Untergang herbeiführt.

Ich bin verurteilt, ehe ich gehört bin und ohne daß mir Gelegenheit gegeben war, den Gegenstand der Klage, das corpus delicti zu erklären und die Erklärungen, die meine Richter darüber abgegeben haben, zu berichtigen oder zu bestreiten. Erst jetzt, da der Prozeß zuende ist, erfahre ich, daß er überhaupt geführt ist; der Nachteil aber, in den ich dadurch gesetzt bin, gewährt mir den Vorteil, daß die Widersprüche, in welche die Gegenpartei fallen muß, entwickelt sind, daß ich sie also bei ihrem wahren Wesen ergreifen kann.

Vor welchem Tribunal führe ich nun aber meine Sache? Sind die Fakultäten, die christliche Regierung, das öffentliche Vorurteil meine natürlichen Richter?

Nein! Der natürliche Richter, dessen Urteilsspruche meine Sache zugleich mit derjenigen der Fakultäten und der Regierung unterliegt, ist die Wissenschaft und ihre Geschichte. Die Fakultäten haben nicht recht gehandelt, wenn sie als Partei über die Kritik und gegen sie ihr Urteil abgaben. Die Regierung hat sich ihre Würde als Staatsregierung vergeben, wenn sie die Entscheidung allein von dem Gesichtspunkte beschränkter Korporationen abhängig und sich dadurch selbst zur Partei gegen die Kritik machte. Wenn endlich ein Teil des Publikums sich gegen die Kritik entschied und nicht bedachte, daß die Freiheit überhaupt in Lebensgefahr steht, wenn die Freiheit der Forschung bedroht wird, so hat es für seine Gemütsruhe gegen die Kritik Partei genommen und eine Untersuchung aus dem Grunde abgewiesen, weil sie ihm endlich Entschlüsse zur Pflicht machen könnte, die seinem Phlegma zu schwer fallen würden. Soll ich nun, wenn ich nicht meinem natürlichen Richter überlassen bin, meine Sache vor Richtern führen, denen es keineswegs zur Ehre gereicht, daß sie als Partei gegen sie entschieden haben?

Ich muß es tun: denn ihren wahren Richter, die Geschichte, muß die Kritik erst selbst schaffen. Die Geschichte kommt nicht zu uns, sondern unsere Tat muß uns zu ihr führen. Es gereicht mir nicht zur Unehre, wenn ich die Sache noch einmal den Parteien vorlege, die sich zu ihren Richtern aufgeworfen haben, da diese Parteien ihr wahres Wesen entwickelt haben und der Kritik nur Nutzen daraus erwachsen kann, wenn sie sich mit ihrem wesentlichen Gegensatz auseinandersetzt. Es ist auch nur für einen Augenblick, daß die Kritik ihre Gegenpartei als Richter anerkennt, da sie nur das Wesen derselben zu beleuchten braucht, um im Hintergrunde denjenigen Richter kenntlich zu machen, dessen Aussprüche unwiderruflich sind. Wir werden also dem Prozeß erst seine wahre, natürliche Richtung geben. Der Prozeß fängt nun erst an!

1. Die theologische Freiheit

Alle Gegner der Kritik versichern, daß die Freiheit der Forschung innerhalb der theologischen Fakultät nicht beschränkt werden solle; wenn aber der Kritiker sich dieser Freiheit bedient, so muß er dafür büßen und aus der Fakultät treten: was ist das also für eine Freiheit, die dem Worte nach ein Recht, in der Tat aber ein Unrecht ist?

Wenn im Namen der Regierung erklärt wird, daß es bei der „Entscheidung“ der mich betreffenden Frage „hauptsächlich darauf ankam, die Freiheit der Lehre und Forschung nicht weiter zu beschränken, als es zur Erhaltung der Prinzipien der evangelischen Kirche und Theologie durchaus notwendig sei und die Bestimmung der theologischen Fakultäten in ihrem Verhältnisse zur Kirche unerläßlich mache“, so wird die Freiheit zugegeben, soweit sie von den Prinzipien der evangelischen Kirche gestattet wird: eines dieser Prinzipien gestattet sie aber nicht nur, sondern verlangt sie.

In ihrem Gutachten hat die theologische Fakultät zu Bonn „die seit länger als einem halben Jahrhundert in dem protestantischen Deutschland herrschende Freiheit der philologischen, kritischen und historischen Forschungen in der Theologie so wenig aus den Augen gesetzt, daß sie vielmehr diese Freiheit im Gegensatze gegen einen starren Dogmatismus und Buchstabenglauben als eine notwendige Bedingung für eine lebendige Gestaltung der Theologie bezeichnet und gewahrt wissen will“. Noch weiter geht Herr Gruppe, wenn er diese Erklärung der Bonner Fakultät kommentiert: nach ihm herrscht die Freiheit der Forschungen nicht erst seit einem halben Jahrhundert – es hat schon manches fünfzig Jahre geherrscht und mußte doch, weil seine Herrschaft nicht legitim war, fallen – sondern (p. 32): „von seinem Ursprung her ist die genaue Exegese des Bibeltextes dem evangelischen Bekenntnis immer wesentlich gewesen, und alle Mittel der Wissenschaft sind dazu benutzt worden, zunächst die diplomatische Kritik für die Konstituierung des Textes, dann die philologische Forschung für den Sprachgebrauch, ferner die archäologische Kunde für das Verständnis der vorkommenden Altertümer, ebenso Geographie und Geschichte zur umfassenden Erläuterung aller Beziehungen. Durch keine äußern Schranken ist hier (!) die Theologie von der übrigen Wissenschaft getrennt worden, sie hat immer gleichen Schritt mit dieser gehalten, und in der Tat liegt es im Sinn und Wesen des evangelischen Bekenntnisses, welches den ganzen geistigen Menschen erfassen will, daß es zu diesem Behuf jeder Art von Überzeugung Raum gibt und also jede Forschung gestattet.“ Am weitesten endlich geht Marheineke, wenn er die Freiheit im Wesen der Theologie selbst begründet. Die Theologie ist nach seiner Ansicht (p. 38) „die Philosophie, sofern sie die Religion zu ihrem Gegenstande hat“. „Es ist die christliche Kirche selbst,“ welche die Liberalität gehabt hat, „die Wissenschaft frei aus sich zu entlassen und für mündig zu erklären“ (p. 65, 66). „Auf den Standpunkt des in sich freien Geistes stellt und bewegt sich die Kritik, ohne welche die protestantische Theologie nicht sein kann, und sie wäre nicht mehr die freie geistige Bewegung, wenn sie nur von Voraussetzungen ausgehen sollte, welche von der Seite des Buchstabens an sie kämen“ (p. 68). Selbst nach den Statuten der theologischen Fakultät ist das „Theoretische“, „die Beschäftigung mit der Wissenschaft“ das Erste, die Hauptsache, es ist zuerst genannt, und das „Praktische, das Nützliche“, die Bestimmung der Studierenden zum Kirchendienst keineswegs zum „Maßstab“ gemacht, „wonach das Theoretische und dessen Wert zu bestimmen sei“ (p. 81,82).

Ich sehe daher nicht ein, weshalb ich verdammt und der Freiheit, an der theologischen Fakultät zu lehren, beraubt bin. Freiheit, soweit es die Prinzipien der evangelischen Kirche gestatten, ist die Freiheit, unabhängig von jeder äußeren Autorität in der Schrift zu forschen und ihren wahren Sinn aufzusuchen, und dieser Freiheit habe ich mich bedient. Die Schrift – so lautet der Grundsatz, der zu den ersten Prinzipien gehört, auf welche die protestantische Kirche gegründet ist – die Schrift ist die einzige Quelle, aus welcher dasjenige, was als christlich gelten soll, zu schöpfen, die Norm, an welcher alles, was als christlich gelten will, zu messen ist. Wohlan! als Kritiker habe ich mich nur dieser Freiheit bedient und aus der richtigen Erklärung der Evangelien das Wesen der heiligen Geschichte und damit den Ursprung des Christentums aufzuhellen gesucht. Warum aber soll mir diese Freiheit nicht erlaubt sein? Ist sie etwa, wie ich sie anwende – aber im Sinne des protestantischen Grundprinzips anwende – ein Vergehen? Soll sie allen andern Theologen gestattet sein? Nur mir nicht? Nur dem Kritiker nicht? Ich habe mich der „seit länger als einem halben Jahrhundert in dem protestantischen Deutschland herrschenden Freiheit der philologischen, kritischen und historischen Forschungen“ bedient, ich habe den reinen Text der Evangelien herzustellen gesucht, ich habe den Sprachgebrauch der Evangelien genau beachtet und ihn beständig gegen die Mißbräuche früherer Exegeten in seiner Reinheit zur Anerkennung gebracht, ich habe nicht wenig neue archäologische Studien mitgeteilt, welche auf die geographischen und historischen Voraussetzungen der Evangelien erst ihr wahres Licht werfen – ja noch mehr, die Kunst meiner Arbeit besteht gerade darin, daß ich nur mittelst der „philologischen, kritischen und historischen Forschung“ das Verständnis der heiligen Geschichte gewinne und mich jeder Operation vermittelst dogmatischer Sätze oder philosophischer Voraussetzungen enthalte: warum ist nun die „philologische, kritische und historische Forschung“, wenn ich sie ausübe und anwende, ein Unrecht? Warum muß ich um dessentwillen leiden, was sonst die protestantischen Theologen als eine der größten Wohltaten rühmen, die man in ihrer Kirche genieße? Ist die philologische, kritische und historische Forschung, wenn ich sie übe, nicht mehr „eine notwendige Bedingung für eine lebendige Gestaltung der Theologie“? Wollen die Theologen sie nur für sich gewährt wissen? Nicht für mich? Nicht für den, der sie gewissenhaft ausübt und eben in diese gewissenhafte Ausübung seinen Ruhm und seine Ehre setzt? Ist diese Freiheit ein Privilegium für den Theologen und demjenigen versagt, der dadurch gerade, daß er sie richtig und rein ausübt, den Namen und die Rechte eines Theologen verdienen will? Wenn endlich Marheineke das Fakultäts-Statut dahin erklärt, daß „die Fortpflanzung des theologischen Wissens“ das Erste, die Hauptsache sei und das Zweite, die „Tüchtigmachung der Jünglinge für den Kirchendienst nur durch das Erstere geschehen soll“, so bin ich diesem Statut wie nur irgendeiner nachgekommen. Die Theorie habe ich wirklich als das Erste geübt, um ihrer selbst willen geübt, um die Wahrheit und Richtigkeit der Theorie habe ich mich vor allem bemüht, und die „Tüchtigmachung zum Kirchendienst“ habe ich wirklich und in allem Ernste von der Theorie und ihren Ergebnissen abhängig gemacht. Ich sehe also, wenn es auf die Befolgung jenes Statuts ankommt, durchaus nicht ein, weshalb ich von einer Fakultät verstoßen werde, deren Statute ich pünktlich und sogar rigoristisch befolge, ich sehe auch nicht ein, wie Marheineke unter diesen Umständen behaupten kann, ich hätte „freiwillig meinem theologischen Charakter entsagt“, wie er zu dem Schlüsse kommen kann, in der theologischen Fakultät könne meines Bleibens nicht mehr sein. Ich soll aus einer Fakultät verstoßen werden, deren Gesetze ich treu befolgt, vielleicht zum ersten Male, seitdem sie gegeben sind, gewissenhaft und streng befolgt habe? Vielleicht hat aber Marheineke das Fakultäts-Statut nicht richtig erklärt? Nein! Er hat seinen Sinn richtig gefaßt. Wenn „die theologische Fakultät die Bestimmung hat, nach der Lehre der evangelischen Kirche die theologischen Wissenschaften fortzupflanzen“, und wenn es Lehre der evangelischen Kirche ist, daß die heilige Schrift allein als Quelle, Norm und Kanon dessen, was als Wahrheit gelten solle, zu betrachten sei, so ist es gewiß, daß die Theorie, die Forschung, die Wissenschaft das Erste ist – denn die Schrift muß erst untersucht werden, ehe bestimmt werden kann, was als Wahrheit gelten solle –, und so folgt es notwendig, daß die Vorbereitung der Jünglinge zum Kirchendienste – nur danach und in dem Maße geschehen kann, wie sich das Ergebnis der freien Erforschung der Schrift gestaltet. Diesem Statut bin ich so weit nachgekommen, so gewissenhaft nachgekommen, daß ich es bei der Schriftforschung sogar darauf ankommen ließ, ob überhaupt noch „Jünglinge“ zum Kirchendienste vorbereitet werden können, wenn sie zur richtigen Erklärung der Schrift angeleitet werden.

Bin ich also schuldig, weil ich das Fakultäts-Statut so streng befolgt habe, daß ich es sogar auf die Gefahr ankommen ließ, daß die Fakultät kraft ihres eignen Gesetzes sich auflösen müsse, wenn die Schrift richtig erklärt wird, und niemand mehr, der den Schlüssel zur Schrift besitzt, sich zum Kirchendienste entschließen könne? Bin ich schuldig, wenn ich die Freiheit der Forschung gewissenhaft nach dem Prinzip der evangelischen Kirche ausgeübt habe und zu dem Resultat gekommen bin, daß die Kirche durch ihr eigenes Prinzip dazu gezwungen ist, sich aufzugeben? Ist es meine Schuld, wenn die „philologischen, kritischen und historischen Forschungen“ mich zu dem gewissen Resultat geführt haben, daß die heilige Geschichte aller wirklichen Geschichte widerspricht, daß sie nicht wirklich Geschichte, daß sie nur ein Produkt der religiösen Vorstellung ist, daß die heiligen Geschichtsbücher nicht wirkliche Geschichtsbücher sind und sich von allen andern Büchern, die jemals geschrieben sind, nur durch Mangel an allem Zusammenhang und durch die Menge und Größe ihrer Widersprüche unterscheiden? Ist es meine Schuld, wenn die richtige Fortbildung der Theologie die Auflösung der Theologie herbeiführt?

Allerdings ist es meine Schuld. Ich habe gefehlt, als ich das Prinzip der evangelischen Kirche ernsthaft nahm, als ich der Versicherung, daß die Freiheit der philologischen, kritischen und historischen Forschung in der Theologie gewährt werden müsse, guten Glauben schenkte und die wissenschaftliche Schriftforschung wirklich für die erste Aufgabe und Bestimmung der theologischen Fakultät hielt.

Meine Schuld ist um so größer, da ich vorsätzlich gefehlt, mit Fleiß geirrt habe. Mit freiem Vorbedacht und nach reiflicher Überlegung habe ich den Irrtum begangen, alle jene kirchlichen und theologischen Versicherungen von der Bedeutung und Freiheit der Schriftforschung ernstlich zu nehmen, sie wirklich mir zugute kommen zu lassen und gewissenhaft zu benutzen. Das Maß der kritischen Vergehen wird aber endlich voll, wenn ich – dies Bekenntnis kann ich nicht umgehen – die von der Kirche und von der Theologie dargebotene Freiheit mit dem Bewußtsein annahm, daß, wenn mit ihr Ernst gemacht wird, alle anderen Voraussetzungen der Kirche und Theologie zugleich zusammenfallen und in ihren Sturz das ganze kirchliche Gebäude mit hineinziehen.

Die protestantische Kirche gibt nicht zu, daß die Schrift Quelle, Norm und Kanon alles dessen, was als christlich zu gelten hat, sein solle, sie will nicht, daß aus der freien Schriftforschung der Inhalt und das Schicksal der sogenannten christlichen Wahrheit hervorgehen solle, sie duldet nicht die freie Schriftforschung, denn alles dasjenige, was in der Schrift gefunden werden, was als Sinn und Inhalt der Schrift gewonnen werden soll, hat sie im voraus in ihren Symbolen vorgeschrieben. Die Freiheit, die sie ihren Anhängern schenkt, ist keine Freiheit, die Schriftforschung, die sie verlangt, ist keine Forschung. Selbst in dem Falle, wenn die Symbole ihre wirkliche Geltung verloren haben – für die Theologen, die sich gegen die neuere Kritik erheben, gelten sie aber in der Tat nicht mehr –, wenn also nur ein unbestimmter Überrest des früheren Glaubenssystems geblieben ist oder die Unbestimmtheit des Abhängigkeitsgefühls die ganze Religion und den ganzen Inhalt der Theologie ausmacht, selbst dann ist die Forschung noch beschränkt, oder vielmehr sie ist fürchterlicher als jemals vorher beschränkt, da der Theologe fürchten muß, daß jede bestimmte Erkenntnis seinem Prinzip, der Unbestimmtheit, ein Ende macht. Jetzt zittert der Theologe für seine Voraussetzung, und um sie ja nicht zu verletzen, wird er in der Schriftforschung um so befangener, um so verwirrter, während der frühere Theologe, von einer tüchtigen, kompakten Voraussetzung befangen, keine Gefahr für dieselbe fürchtete, sich geduldig von ihr leiten ließ und in der Schriftforschung mit sich selbst, d. h. mit der Voraussetzung, der er sich unbedingt unterworfen hatte, einig blieb. „Freiheit der Lehre und Forschung, soweit als es zur Erhaltung der Prinzipien der evangelischen Kirche und Theologie möglich ist,“ ist keine Freiheit mehr, sie ist Knechtschaft, denn die Freiheit der Forschung ist augenblicklich entzogen, sobald man es wagen wollte, diese Prinzipien der Kirche und Theologie selbst zu untersuchen. An die Voraussetzungen der Kirche darf sich die Freiheit der Forschung nicht wagen, es darf nicht einmal gefragt werden, ob diese Prinzipien und Voraussetzungen der Kirche in der Schrift begründet seien. Da, wo es allein der Mühe zu forschen wert wäre, ist die Forschung verboten. Nur in den Nebensachen, im Unwesentlichen ist sie erlaubt. Der Gefangene darf im Gefängnis umherspazieren, aber er darf es nicht verlassen; selbst die Vorstellung, er befinde sich in einem Gefängnis, ist ihm untersagt.

Freiheit in Nebendingen, im Unwesentlichen ist keine Freiheit. Der Spaziergang im Gefängnishofe ist kein Spaziergang mehr. Wer kann das Unwesentliche wirklich erforschen, wenn die Untersuchung des Wesens ihm verboten ist? Wer kann überhaupt bestimmen, was wesentlich und unwesentlich ist, wenn die freie Kritik des Wesens ein Verbrechen ist? Vielmehr ist auch in der Behandlung der Nebendinge zu fürchten, daß man es mit etwas Wesentlichem zu tun habe; diese Furcht ist natürlich und in der Sache selbst begründet, da allerdings das Unwesentliche in geistigen Dingen nicht durch einen Strich vom Wesen getrennt werden kann; die Freiheit ist also selbst in den Nebendingen nur eine Illusion. Das Wesen beobachtet den Armen, der sich in den Nebendingen frei zu ergehen meint, es läßt ihn durch seine Spione beobachten, es stellt ihm Fußangeln – die Freiheit ist dahin, so wie der Gefangene unmöglich sich frei bewegen kann, wenn in jedem Fenster des Gefängnisses die Wächter auf der Lauer liegen und die Gefängniswache ihm sogar auf dem Fuße folgt. Selbst die freieste Bewegung im Gefängnis ist ein Unding – sie ist alles andere, nur nicht freie Bewegung.

Mit der „Freiheit der philologischen, kritischen und historischen Forschungen“, welche die theologische Fakultät „gewahrt wissen will“, ist es daher nichts. Wer will dafür bürgen, daß nicht das gesamte Evangelium fällt, wenn auch nur in einer evangelischen Erzählung die Zusammenhanglosigkeit der einzelnen Glieder so groß ist, wie sie sonst nie, in keiner Literatur, in keiner Art von Schrift angetroffen wird? Wer bürgt dafür, ob die Kritik nicht zu dem Resultate kommt, daß eine Menge von Widersprüchen der evangelischen Geschichte rein und allein in der Flüchtigkeit und Gedankenlosigkeit der heiligen Schriftsteller ihren Grund habe? Und wer kann wohl dafür einstehen, daß die geschichtlichen und geographischen Verhältnisse, wie sie in den Evangelien vorausgesetzt werden, den wirklichen Verhältnissen entsprechen? Kein Verständiger wird dafür einstehen – aber der Theologe kann es, wird es – der Theologe steht wirklich dafür ein.

Seine philologischen Forschungen – in meiner Schrift habe ich den Beweis geführt – sind nun nicht mehr philologisch, seine kritischen nicht mehr kritisch und seine archäologischen alles andere, nur nicht archäologisch. Er untersucht nicht die innere Struktur der evangelischen Berichte, sondern er geht von vornherein darauf aus, ihren Zusammenhang nachzuweisen: er setzt voraus, daß alles in diesen Berichten in Ordnung und Richtigkeit ist. Er erklärt nicht die Widersprüche zwischen den Berichten; als seine erste Aufgabe gegen die Ungläubigen betrachtet er vielmehr die Nachweisung, daß überall Harmonie vorhanden ist. Er erforscht nicht die geschichtlichen Verhältnisse, wie sie wirklich zu jener Zeit waren, in welche uns die Evangelien versetzen wollen, sondern die Richtigkeit der evangelischen Angaben voraussetzend, ist er nicht mehr imstande, die deutlichsten Angaben in den Profan-Schriftstellern jener Zeit – ich will nicht sagen, richtig aufzufassen, sondern — auch nur zu suchen. Seine Archäologie ist wie seine Philologie und Kritik eine Chimäre.

Demnach hat auch Marheineke das Fakultäts-Statut nicht richtig erklärt, seinen geheimen Sinn nicht aufgefunden. Wenn es die Bestimmung der Fakultät ist, „nach der Lehre der evangelischen Kirche die theologischen Wissenschaften fortzupflanzen“, so hat sie eben nur fortzupflanzen, d. h. das, was schon da ist und durchaus nicht seine bestimmte und spezifische Gestalt verändern darf, so, wie es da ist und gegeben war, den Studierenden zu überliefern: wesentliche Veränderungen an dem fortzupflanzenden Stoffe sind nicht erlaubt, und Kompendien werden es sein, wenn die theologische Fakultät ihre Bestimmung richtig erfüllen will, woran sich der Lehrer zu halten hat. Der Lehrer, welcher Wissenschaften nur fortpflanzt, muß sich aller Selbsttätigkeit, alles freien Denkens enthalten. Für seine Beschränkung ist aber auch ausdrücklich gesorgt, wenn er nach der Lehre der evangelischen Kirche die theologischen Wissenschaften fortzupflanzen hat: – „nach der Lehre der evangelischen Kirche“, diese Bestimmung hat nämlich den geheimen Sinn, den wir soeben angegeben haben, daß die kirchlichen Voraussetzungen das Gefängnis sind, in welchem sich der theologische Lehrer als Gefangener zu stellen habe. Es ist sehr leicht zu erklären, wie es kommt, daß Marheineke den geheimen Sinn dieses theologischen Artikels nicht merkte oder wenigstens nicht mit klarem Bewußtsein entwickeln konnte; er lebt im Gefängnis und weiß nicht, daß er Gefangener ist, selbst dann Gefangener ist, wenn er sich den Schein vormacht, als habe er alle freie Bewegung, die der Mensch für die Pflege seiner Gesundheit nur fordern oder sich machen kann. Er will nicht nur nicht, daß „die Theologie von der Religion, vom Glauben das Wissen konvulsivisch umschlossen werde“, er verlangt nicht nur für die Religion „alle Freiheit der inneren Bewegung, alle Selbständigkeit auf ihrem eigenen Gebiete“, sondern er ist auch, wie wir bereits bemerkten, der Überzeugung, daß die Wissenschaft von der Großmut und der Gnade der Kirche „freigelassen“ ist. Die Wissenschaft ist nach ihm nicht die Sklavin, sondern die Freigelassene der Kirche, sie ist nicht mehr dem car tel est notre hon plaisir der Kirche unterworfen, sondern die Obrigkeit, die ihr von Gottes Gnaden gesetzt ist, hat ihr aus eigenem Entschluß, um den modernen Vorstellungen doch in etwas nachzukommen, allergnädigst Freiheit, Stimmrecht und sogar das Recht der Steuerverwilligung, das Recht, das himmlische Budget zu bestimmen, oktroyiert. Indem Marheineke auf diese oktroyierte Charte hinweist, sagt er (p. 65): „Wenn die Frömmigkeit vom Glauben allein aus theologisch zu urteilen anfängt, so verwandelt das Urteilen sich eben damit in ein Vorurteilen.“ Allein die Freiheit, die nur ein Gnadengeschenk des absoluten Herrn ist, ist keine wirkliche Freiheit, jeden Augenblick vielmehr, wenn sie sich wirklich als Freiheit beweisen will, d. h. wenn sie ihren Ursprung aus der Gnade vergißt, ihren Ursprung desavouieren will, hat der Herr ein Recht dazwischenzufahren und die übermütige Freigelassene sein Übergewicht fühlen zu lassen. Diese Freiheit erinnert sich aber in der Tat immer zur rechten Zeit ihres Ursprungs aus der Gnade, sie bekennt ihre Abhängigkeit von oben und sagt dann: „die Lehren und Wahrheiten der Religion wollen erkannt, bewiesen, d. h. begriffen sein“, d. h. der Wille der Religion ist das Entscheidende, die Philosophie muß gehorchen, die Religion will ihre Wahrheiten bewiesen haben, und die Philosophie setzt gehorsamst voraus, daß die Erkenntnis der Religion ihr Beweis, der Beweis ihrer Richtigkeit, der Beweis von der Richtigkeit der religiösen Voraussetzungen ist. Die Religion will es so haben, und die Philosophie stürzt sich in die Arme, die sie konvulsivisch umschließen. Die Philosophie hat nicht mehr das Recht, sich die Bestimmung zu geben, die in ihrem Wesen liegt, zu erkennen und es darauf allein ankommen zu lassen, was das Ergebnis ihrer Forschung ist, sondern die Religion schreibt ihr vor, was sie zu tun hat, und „ihre Bestimmung“ ist es nun (p. 38), „die christlichen Lehren vor der Vernunft zu rechtfertigen“, als ob es feststände, daß die Erkenntnis der Religion die Voraussetzungen derselben als richtig beweisen würde. Freilich steht es fest; aber nur weil es die Religion so haben will, weil die Religion es so vorschreibt und die Philosophie „konvulsivisch in ihre Arme schließt“. Hier, auf diesem Standpunkte der gehorsamen Philosophie, übt die Religion gerade die härteste Tyrannei aus und ist ihre Kraftäußerung die größte, da sie eine Freigelassene, die sich schon völlig von ihr losgesagt hatte, wieder zur Raison oder vielmehr zur Unvernunft zu bringen hat. Doch es ist nicht einmal an dem, daß der spekulative Theologe auch nur für einen Augenblick von den religiösen Voraussetzungen sich losgesagt habe. Seine ganze Freiheit ist nur eine Komödie, ja noch weniger als eine Komödie. Wer behauptet, von der Religion könne die Form der Vorstellung abgetrennt werden (p. 37), ohne daß „ihr wesentlicher Inhalt dadurch verändert werde“, liegt noch in den Armen der Religion, ist von ihren Voraussetzungen gefangen und bringt es nur zum Schein der Freiheit – ja nicht einmal das, – er weiß nicht mehr, was Freiheit und Knechtschaft ist: indem er von Freiheit spricht und sich der vollsten Freiheit rühmt, ist er der unseligste Knecht. „Die Form der Vorstellung an dem Religionsinhalte“ kann doch nur – wenn man von Worten zur Sache kommen will – darin bestehen, daß der Inhalt an zwei Welten, an die göttliche, erlösende und an die menschliche, nur durch die göttliche Kraft und Tat bestehende, an eine wesentliche und eine unwesentliche Welt verteilt ist. Man nehme nun dem Inhalt diese Form, man erkenne, daß die religiöse Vorstellung der jenseitigen wesentlichen Welt nur eine Täuschung ist und der Mensch sein eigenes Wesen in jene Welt versetzt habe – und die Religion ist in ihrer Erkenntnis untergegangen, •weil sie nur in jener Trennung, nur in jener Vorstellung besteht. Die Form der Vorstellung ist ihr Inhalt selbst, wie auch der spekulative Theologe beweist, wenn er die Religion nur so rechtfertigen kann, daß er auch in ihrem „Begriff“ jene religiöse Unterscheidung der wesentlichen und unwesentlichen Welt beibehält. Allerdings wird er niemals, wenn er „die Vorstellung zum Begriff erhebt, den wesentlichen Inhalt verändern“, aber nur deshalb nicht, weil er in der Tat die Form nicht verändert und das Reich der Vorstellung nicht verläßt. Seine Voraussetzung, daß der wesentliche Inhalt nicht verändert werden könne, ist das religiöse Element, welches alle seine Reden von Freiheit, von Denken, von Aufhebung der Vorstellung zur Selbsttäuschung macht.

Wenn das am grünen Holz geschieht, was soll am dürren Holze geschehen? Wenn die gerühmte Freiheit des spekulativen Theologen Illusion ist, was kann die Freiheit der Theologen sein, die nicht einmal den Schein haben wollen, als gingen sie vom Denken aus, die sich vielmehr des Evangeliums nicht schämen? Sie sind allzumal Sünder und ermangeln des Ruhms vor der Gottheit, der sie mit den Lippen dienen. Wenn der spekulative Theologe die Gottheit, der er sich gelobt hat, die Freiheit der Religion preisgibt, so ist es das Vergehen des kirchlichen oder biblischen Theologen, daß er einen ganzen Kreis von Halbgöttern proklamiert, von einer freien kritischen Forschung, einer freien historischen Forschung usw. spricht und nie daran denkt, diesen Halbgöttern den schuldigen Respekt zu schenken.

Die theologische Freiheit ist die Unfreiheit, die Freiheit als Illusion und Heuchelei – Heuchelei nicht in jenem Sinne, daß die Theologen eine vollkommene Einsicht in das Spiel hätten und mit verständiger Absicht das Wort Freiheit gebrauchten, um die Knechtschaft einzuführen und allgemein zu machen, sondern die Heuchelei eines objektiven Verhältnisses und eines Weltzustandes, den die Einzelnen nicht aus reiner Berechnung geschaffen haben. Die Heuchelei ist zunächst nur die allgemeine tragische Kollision, die zur Auflösung der Religion führt, daß der Mensch den Menschen, das Menschliche, sein Fleisch und Blut nicht verleugnen, d. h. der Mensch sich nicht verbergen kann, daß er es in der Religion und in den kirchlichen Glaubenssätzen mit seinem eigenen Werk zu tun hat – er verlangt deshalb das Recht der freien Forschung – und daß er in demselben Augenblicke, wo er sein Werk mit menschlichem Auge betrachten will, sein Auge verschließt und sich blind vor seinem Werke niederwirft. Die Furcht, der Mensch müsse sich verlieren, wenn er sich erst wahrhaft wiedergewinnt, sein Wesen entschwinde ihm, wenn er in dem fremden göttlichen Wesen der Religion sich selbst erkennt, die elende Furcht, der Mensch werde zum Vieh, wenn er der Religion sein wahres, ihm bis jetzt vorenthaltenes Wesen wieder abgewinnt, dieses Majestätsverbrechen gegen das Wesen der Menschheit ist in unsern Tagen das letzte Mittel, durch welches sich jene Illusion noch aufrecht erhält.

Wenn die Illusion dem Bewußtsein derjenigen, die in ihr leben, nicht als solche aufgegangen ist, so ist sie doch vollkommen in ihrer Sprache, wie wir nachgewiesen haben, ausgedrückt, und um der Bewußtlosigkeit ein Ende zu machen, war es zunächst hinreichend, die verschiedenen theologischen Aussagen zusammenzubringen. Immer und von jeher und ihrer Natur nach war die Sprache der Theologie illusorisch, weil in ihr die unabweislichen Ansprüche der Sprache, der Vernunft, der Schlußfolgerung mit den religiösen Voraussetzungen, mit der Unmenschlichkeit und mit dem absoluten Widerspruch in Kampf lagen; noch nie aber ist sie in dem Grade illusorisch gewesen wie in unsern Tagen, seitdem der Gedanke der Menschheit und Freiheit so mächtig und allgemein geworden ist, daß er selbst den Theologen beunruhigt und ihn zwingt, ihn wenn auch nur mit den Lippen anzuerkennen. Man lese z. B. nur noch einmal den oben angeführten Satz, in welchem Herr Gruppe die Freiheit der Theologie preist und alle jene Mittel aufzählt, die jetzt „der genauen Exegese des Bibeltextes“ dienen, „die diplomatische Kritik, die philologische Forschung, die archäologische Kunde“ usw., man höre seinen Trumpf: „und in der Tat liegt es in dem Sinn und Wesen des evangelischen Bekenntnisses, welches den ganzen geistigen Menschen erfassen will, daß es zu diesem Behuf jeder Art der Überzeugung Raum gibt und also jede Forschung gestattet“ – um über das Enorme dieser Illusion zu erstaunen. Die nun schon so oft gehörte Tirade, „das evangelische Bekenntnis wolle den ganzen geistigen Menschen erfassen“ – wenn sie einmal wirklich ernstlich genommen wird, was ist mit ihr gesagt? Daß es im Wesen des evangelischen Bekenntnisses liegt, den ganzen geistigen Menschen anzugreifen und zu erdrücken, während ihn allerdings der Katholizismus zum Teil freigibt? Oder daß das evangelische Bekenntnis sich nicht davor scheue, mit dem „ganzen geistigen Menschen“ in Parallele oder zusammengebracht zu werden, und daß es in diesem Kontakt nichts für sich fürchte? Aber ist denn „der ganze geistige Mensch“ nichts als eine kombinierte Maschine für die diplomatische Kritik, für „die philologische Forschung, für archäologische Kunde“ usw.? Hat der Mensch nicht auch ein allgemeines Wesen, und wenn das evangelische Bekenntnis „die diplomatische Kritik, die philologische Forschung“ usw. nicht zu fürchten hat, läßt es sich auch ohne Furcht mit dem allgemeinen Selbstbewußtsein und mit dem Wesen des Menschen zusammenbringen? d. h. gestattet es, daß der Mensch seinen Inhalt kritisch prüfe und untersuche, ob es wirklich der Ausdruck seines wahren Wesens, ob es mit der konsequenten Entwicklung seines Selbstbewußtseins verträglich sei? Übernehmet euch doch nicht in Worten! Übertreibt nicht in der Angst! Sagt doch nicht, daß das evangelische Bekenntnis „jeder Art der Überzeugung Raum gebe“, zumal ihr, die ihr doch nicht wißt und bedenkt, was ihr sagt, zumal jetzt, wo es an den Tag gekommen ist, daß dies Bekenntnis nicht nur mit mancher Art der Überzeugung, sondern auch mit festgegründeten Beweisen nicht mehr vereinbar ist! Sprecht überhaupt nicht von Freiheit, denn die wahre Freiheit ist mit der Theologie und Kirche und Religion nicht zu verbinden! Sprecht auch nicht von Forschung, denn die Theologie hat bis jetzt selbst vermittelst der „diplomatischen Kritik, der philologischen Forschung, der archäologischen Kunde usw.“ auch noch nicht einen Punkt wirklich aufgehellt, noch nichts Richtiges über den Ursprung und das Verhältnis der Evangelien untereinander vorgebracht, und jetzt, wo die Sache entschieden ist, muß die Kritik, die alle bisherigen theologischen Fragen löst, aus der theologischen Fakultät verstoßen werden. Gebt euch also kein allzugroßes Dementi! Sagt es einfach heraus: wir sind Knechte, wir wollen Sklaven sein und müssen Sklaven sein, wenn unsere Voraussetzungen bestehen sollen.

Doch ihr müßt euch das vollständigste Dementi geben, damit ihr durch eure eigenen Aussagen und Voraussetzungen geschlagen und endlich vor aller Welt Augen und nach eurem eigenen Recht zu dem Bekenntnis, daß ihr Sklaven seid, gezwungen werdet. Mir ist die Erlaubnis, als Privatdozent der Theologie Vorlesungen zu halten, genommen worden, weil ich die illusorische Freiheit zur wirklichen gemacht habe, weil ich es gewagt habe, wirklich philologische, kritische und historische Forschungen anzustellen, weil ich das illusorische Prinzip des Protestantismus, daß die heilige Schrift die Quelle und Norm alles dessen sei, was als christlich gelten wolle, ernstlich genommen und aus der Urkunde des Christentums zu bestimmen gewagt habe, wie das Christentum, zunächst die Anschauung von der heiligen Geschichte, entstanden sei.

Mir ist vollkommen recht geschehen, daß mich die theologische Fakultät, von sich stieß: die Heuchelei kann sich mit der Wahrheit nicht vertragen und muß sie von sich stoßen, die vorgeheuchelte Freiheit muß sich vor der wirklichen fürchten, die illusorische Forschung, die seit achtzehn Jahrhunderten vergeblich hinter die Sache zu kommen suchte, fürchtet mit Recht, daß es mit ihr ein Ende hat, wenn die wirkliche Forschung das Rätsel gelöst hat, und wenn sie, wie es in der Tat der Fall ist, als illusorische Forschung immer und ewig bestehen will, bis es der Gnade von oben gefällt, die Rätsel zu lösen, muß sie die wirkliche Forschung, die die Sache ein für allemal entscheidet und sowohl alle weitern Grübeleien wie das zukünftige Einschreiten der Gnade und der göttlichen Erleuchtung überflüssig macht, von sich aussondern; die Sophistik und Rhetorik muß die Aufrichtigkeit und das gerade, männliche Wort verdammen. Ich bin mit Recht verurteilt: warum habe ich aber auch an die Stelle der Sophistik die Aufrichtigkeit gesetzt!

Die Theologie kennt nur Freiheiten, nur Forschungen, nur Wahrheiten der Religion und besteht nur aus theologischen Wissenschaften. Die Freiheiten sind Feind der Freiheit, die Forschungen der Forschung, die Wahrheiten der Wahrheit, die Wissenschaften der Wissenschaft. Die Freiheiten sind privilegierte Freiheiten, die Forschungen privilegierte Forschungen, d. h. das Gegenteil der wirklichen Freiheit und Forschung. Sie sind die feudalistischen und barbarischen Freiheiten, Forschungen und Wahrheiten; sie sind ein Monopol desjenigen, der sie nur bis zu einem gewissen Punkte ausübt, der nur bis hierher und nicht weiter freisein, forschen und die Wahrheit suchen will. Sie sind nicht allgemeine Menschenrechte und – güter, und derjenige, der sie aus ihrer theologischen Schranke herausführen will, so daß sie wirkliche Freiheit, Forschung, Wahrheit und Wissenschaft werden, muß für seine Tat büßen, denn er hat das theologische Privilegium aufgehoben.

Warum sage ich nun aber dennoch, ich sei nicht nur ungehört, sondern auch mit Unrecht verurteilt worden? Warum bin ich nicht freiwillig aus einer Fakultät getreten, mit deren illusorischem und sophistischem Benehmen ich gebrochen habe? In dem Schreiben, in welchem mir die theologische Fakultät zu Bonn die Verfügung des Ministeriums meldete, bemerkt sie zugleich, daß mir „diese Verfügung nicht unerwartet kommen konnte“. Marheineke meint – weshalb, werden wir später sehen –, ich hätte „freiwillig meinem theologischen Charakter entsagt“ (p. 86). Herr Gruppe endlich ist der Ansicht, „als ehrenhafter Mann hätte ich mich längst zurückziehen müssen“ (p. 22).

Was die Bemerkung der Fakultät zu Bonn betrifft, so habe ich allerdings bei der Ausarbeitung meiner Schriften Zeit genug gehabt, darüber nachzudenken, was ich zu erwarten habe, da ich bei dem Prinzip meiner Arbeit und bei der Konsequenz, mit der sich dasselbe entwickelte, wissen mußte, in welches Verhältnis ich zu dem Bestehenden trete. Ich konnte und mußte erwarten, daß die Fakultät und die Regierung von ihrer Seite Maßregeln ergreifen würden, es war gewiß, daß sie gegen mich um ihres Interesses willen ein Verfahren einleiten mußten, aber ich sah ihren Maßregeln ruhig entgegen und fand keinen Grund, der mich hätte bewegen können, freiwillig aus dem Verbände mit der Fakultät herauszutreten.

Ob ich meinem theologischen Charakter freiwillig entsagt habe, sofern das Theologische in dem Illusorischen und Sophistischen der Freiheit und Forschung besteht, hat mit der Sache, um die es sich handelt, nichts, gar nichts zu tun; es fragt sich bloß, ob ich die heilige Geschichte von der Stiftung des Christentums richtig erklärt, ob ich den Ursprung der Evangelien aufgehellt, das theologische Bewußtsein richtig gedeutet habe. Deshalb, weil ich meine Aufgabe gelöst habe, durfte ich noch nicht resignieren; ja, es war mir nicht einmal erlaubt, mich zurückzuziehen, wenn ich nicht in den Irrtum fallen wollte, den die Regierung mit den Fakultäten geteilt hat. Diese haben die Sache so angesehen, daß sie meinten, alles sei abgetan, wenn sie mich aus dem Verhältnis zur theologischen Fakultät herausrissen. Um meine Person aber handelt es sich mir nicht und handelt es sich überhaupt nicht. Es fragt sich auch gar nicht, ob ich, ich persönlich „meinen theologischen Charakter“ aufgegeben habe oder ihm entsagen muß. Wäre das die einzige Frage, handelte es sich um meine Person und wäre es gewiß, daß die theologischen Fakultäten sich ein ewiges Bestehen zu versprechen hätten, dann würde ich freilich mein Diplom zurückgeschickt haben, um mit dieser Ewigkeit nichts zu tun zu haben, und aus meinen Schriften wird man wissen, mit welcher Gesinnung und Motivierung ich es zurückgeschickt haben würde. Es handelt sich aber vielmehr um die Theologie und die theologische Fakultät. Nur dann trete ich freiwillig aus dem Verbände und der Fakultät, wenn sie sich freiwillig aufgibt; nur wenn sie sich auflöst, gehe ich nach Hause, für jetzt bin ich nur beiseitegegangen, um nicht die Gewalt gegen mich aufgeboten zu sehen, und meine Gegner vielmehr hätten diesen Ausgang voraussehen und wissen müssen, was sie zu erwarten haben, wenn sie meine Schriften gründlicher studiert hätten. Noch in einem andern Punkte glaubt die Fakultät zu Bonn die Sache ins Persönliche herüberziehen zu können. In ihrem Schreiben vom 29. März spricht sie ihr Bedauern darüber aus, daß meine „Wirksamkeit als theologischer Dozent und als Schriftsteller so bald, nachdem ich zu ihr in Verhältnis getreten war, einen so entgegengesetzten Charakter angenommen hat, als welchen zu erwarten sie sich durch den Inhalt meiner Eingaben an die Fakultät, worin ich um die Verleihung der Licentia docendi bei derselben anhielt, berechtigt achten mußte“. Erstlich hätte die Fakultät das Maß ihrer Erwartungen sehr genau selbst bestimmen können, wenn sie aus meinen Schriften, welche damals längst erschienen waren, hätte ersehen wollen, wie ich zur Theologie stand, aus meiner Darstellung der Religion des Alten Testamentes, daß ich die Kritik gegen die dogmatischen Vorstellungen bereits in Bewegung gesetzt hatte, wenn ich auch noch zum Teil die Voraussetzungen des religiösen Bewußtseins beibehielt, aus meiner Schrift über Herrn Dr. Hengstenberg, daß ich mit der Sophistik des apologetischen Standpunktes gebrochen hatte. Sodann hatte ich in der Eingabe, in der ich auf Verlangen der Fakultät dem Entwicklungsgang, den meine theologischen Ansichten durchgemacht haben, schilderte, ausdrücklich – im Oktober 1839 – angegeben, daß ich eben nach dem Gang meiner Entwicklung endlich zu der festen Überzeugung und Einsicht gelangt sei, die Auflösung und „Negation“ der gesamten Welt des religiösen Bewußtseins müsse eine durchgreifende und vollständige sein, so daß kein Atom von ihr verschont bliebe. Allerdings fügte ich hinzu, meine feste Überzeugung sei es zugleich, daß diese Auflösung dem Wesen des Christentums keinen Abbruch tue, vielmehr aus der vollständigen Auflösung erst die Wahrheit des Christentums hervorgehe. Allein dasselbe kann und muß ich auch jetzt noch sagen, und wenn ich es damals nicht entschieden in demselben Sinne gesagt habe, in dem ich es jetzt sagen muß, wenn die Aussage damals noch unklar war: bin ich mir untreu geworden, wenn ich mich – und zwar sehr bald, noch durch meine Arbeiten während des nächstfolgenden Winters – zur Klarheit entwickelt und erhoben habe? Habe ich mein Wort gebrochen, wenn ich es nur erfüllte? Habe ich nicht das wahre Christentum gegen die theologische Sophistik verteidigt? Habe ich nicht die Heilige Schrift von der theologischen Tortur befreit? Darf die Fakultät auf mich den Schein einer Inkonsequenz fallen lassen, wenn ich nur mein Wort ausgelöst habe? die Fakultät zumal, die durch ihren „apologetischen“ Charakter vielleicht nicht wenig dazu beigetragen hat, daß ich mein gutes Werk, das ich in den Briefen über Herrn Dr. Hengstenberg ausgeführt habe, wieder aufnahm und in einem größern Gebiete fortführte? die Fakultät etwa, der ich mich von einer mir wohlwollenden aber schwachen Regierung gar nicht hätte preisgeben lassen, wenn ich gemeint hätte und wenn es wirklich an dem wäre, daß man nur dann Lehrer der Theologie sein könne, wenn man der theologischen Sophistik ergeben ist? Wer ist schuldig, ich oder die Fakultät? Ich, weil ich die Oberzeugung, die ich vor ihr ohne Rückhalt ausgesprochen habe (ausgesprochen, wie sie in meinen bis dahin erschienenen Büchern offen dalag), öffentlich vor dem Publikum entwickelt, fortgebildet und befestigt habe, oder die Fakultät, die in der Unbestimmtheit ihrer Apologetik stehengeblieben ist und denjenigen, der auf das wahre und letzte Ziel der theologischen Fakultät losgeht, als einen Verräter bezeichnet?

Ja, ich allein bin in dieser Frage meinem Worte treu geblieben, ich allein habe es nicht bei Worten belassen, ich habe der Bestimmung der Fakultät angemessen gehandelt, wenn ich die Konsequenzen der bisherigen Theologie in dem Gebiete, das ich bisher bearbeitet, gezogen habe.

Die Fakultäten mögen sich drehen und wenden, wie sie wollen: – die Bestimmung, die in ihrem Wesen liegt, ist ihre Auflösung. Wer die Freiheit der philologischen, kritischen und historischen Forschung, die sie als „eine notwendige Bedingung für eine lebendige Gestaltung der Theologie selbst bezeichnen und gewahrt wissen wollen“, wirklich sich zugute macht, führt sie ihrem Untergange entgegen. Wird er von ihnen deshalb verurteilt, so hat er doch in der Sache absolutes Recht, er hat nach ihren eigenen Aussagen von der Notwendigkeit jener Freiheit Recht, und nur relativ hat er Unrecht, nur dann hat er Unrecht, wenn die illusorische Freiheit über ihn Urteil spricht. Die Sophistik aber und die Illusion – wie lange können sie ihr Recht behaupten, wenn die Kritik ihr Geheimnis entdeckt und ihre Widersprüche endlich enthüllt hat?

Die theologische Fakultät ist im Grunde nicht mehr die alte, wie sie bisher bestanden hat, wenn sie die Forschung verdammt, da früher Böses und Gutes, Unkraut und Weizen, Forschung und Glaube in ihr verbunden war. Schneidet sie nun das Böse, die Forschung von sich aus, will sie nichts mehr von der Forschung wissen, so mag sie zusehen und erfahren, bis zu welcher Stufe des Aberglaubens und der Knechtschaft der Mensch sinken kann. Übrigens wäre das schon ihre Auflösung, wenn sie die Forschung von sich ausschlösse und die wirklich durchgeführte Forschung ignorierte, da sie sich eben damit aus dem menschlichen Geschlecht ausschlösse. Oder offenbart die Fakultät jetzt erst ihr wahres Wesen, wenn sie die Freiheit verdammt, die Forschung verbietet und sich dessen, was sie verdammt, zugleich als ihrer Prärogative rühmt, macht sie also die Illusion, die sie bisher mehr oder weniger mit Bewußtsein als das letzte Mittel ihrer Selbsterhaltung benutzte, zur absichtlichen, gewollten, prinzipiell vorgeschriebenen Illusion: gut! so hat sie sich selbst das Gericht gesprochen, und die nächste Geschichte wird sie nach ihrem eigenen Urteilsspruche richten.

Das ist die Frage, um deren Entscheidung es sich gegenwärtig handelt. Nachdem ich ihr im allgemeinen ihre richtige Stellung gegeben habe, werde ich mich mit ihren besondern Seiten beschäftigen und diese in ihr richtiges Verhältnis zum Ganzen setzen. Zuerst fragt es sich, welche Stellung sich die Regierung durch ihre Anfrage bei den Fakultäten gegeben hat.

2. Die Anfrage der Regierung bei den Fakultäten


[...]


3. Die Kollision


[...]


4. Die Auflösung der Kollision


[...]


5. Die Gleichgültigkeit gegen die Kritik


[...]


6. Der christliche Schein der Kritik


[...]


7. Die Unfähigkeit der Gegner der Kritik


[...]


A. Der heilige Schleiermacher

[...]


B. Warnung für das theologische Bewußtsein

[...]


8. Der Hohn und Spott gegen die Theologie und gegen die Religion


[...]


9. Die Anmaßung der Kritik

In der Vorrede zu meiner Schrift über die synoptischen Evangelien bemerke ich, daß mein Beweis von dem späten Ursprung des Reflexionsbegriffs des Messias „die biblische Kritik erst emanzipiert, ihr den letzten Anhalt nimmt, den sie am unerkannten Positiven besaß, und sie in das freie Element des Selbstbewußtseins versetzt“.

Herr Gruppe weiß natürlich nicht, wovon die Rede ist, in seinem Kopfe fährt nur das Wort „unerkanntes Positive“ herum, er merkt ungefähr, daß die Kritik das Positive als solches, als bloße Voraussetzung, als ein Gegebenes nicht anerkennen wolle, – sogleich sagt er .nun, nach der Ansicht der Kritik solle „alles unerkannte Positive verschwinden“ – „verschwinden!“ — und „in diesem Satze“ – der Satz, von dem ich vorher spreche, der Satz, daß der Reflexionsbegriff des Messias der christlichen Gemeinde nicht als ein fertig gegebener zugekommen sei, der Satz, von dem ich sage, daß er der Kritik den letzten Anhalt am unerkannten Positiven nehme, dieser Satz ist also für Herrn Gruppe auf einmal zu dem Satze geworden, daß „alles unerkannte Positive verschwinden solle“, er weiß also nicht einmal, von welchem Satze ich spreche und was ich von diesem Satze sage: kurz, er sagte: – „in diesem Satze liege eigentlich (!) die allgemeine Kriegserklärung“ (p. 50,51).

Gut: wir wollen den Satz allgemein nehmen, wie ihn die Kritik allerdings als ihr erstes Gesetz betrachten muß: warum haben Sie denn nun nicht bewiesen, Herr Gruppe, daß die Aufstellung dieses Satzes eine Untat, die Befolgung dieses Gesetzes ein Unrecht, daß der Krieg, den er ankündigt, ein ungerechter, ein unerlaubter Krieg sei?

Warum Sie es nicht getan haben? Aus dem einfachen Grunde, weil Sie, wie alle Gegner der neueren Kritik, sobald Sie an die Sache selbst gehen und zeigen wollten, daß sie Ihnen wirklich am Herzen liege, merken müßten, daß der Krieg bereits beendigt sei, weil Sie nicht Kräfte genug besitzen, den Krieg von neuem zu beginnen, weil Sie wie alle Gegner der Kritik nur über den bloßen Satz: „es ist doch gar zu schrecklich!“ gebieten können, wenn Sie ihr den Krieg durchaus ankündigen wollen. Ankündigen können Sie den Krieg, aber Sie werden und können ihn nicht führen.

Die Gegner der Kritik fassen es nicht, verstehen es nicht, aber wir wenden uns auch nur an diejenigen, die an der Menschheit und ihren Rechten noch Anteil nehmen, wenn wir die Frage aufstellen: ob das wohl der wahre Friede ist, wenn wir uns von einem „unerkannten Positiven“, von einer ungeprüften Voraussetzung beherrschen lassen. Ist es dann nicht vielmehr diese Voraussetzung, die mit uns im Kriege liegt? Ist sie es nicht, die um ihrer Geltung und Herrschaft willen uns das Denken verbietet, d. h. uns um unsere Humanität bringt? Und dieser Krieg des Positiven gegen uns, gegen das Denken, gegen das Recht der Forschung, kurz gegen die Freiheit und Menschheit ist ein ungerechter Krieg, da das Positive nur für einen Schein kämpft, für den Schein, daß es nicht der Menschheit entsprungen, für den Schein, daß es vom Himmel gefallen sei, während es doch nichts als ein Werk der Menschheit und ihrer Geschichte ist. Die herrschsüchtige und freiheitsmörderische Voraussetzung kämpft für eine Illusion: wir kämpfen für die Freiheit, für unsere Freiheit, aber auch für die Ehre und Freiheit des Positiven, wenn wir erkennen und beweisen, daß es dem Edelsten, was es gibt, dem geschichtlichen Selbstbewußtsein entsprungen ist.

Nur der falsche Schein und die Illusion des Positiven muß verschwinden.

Was? „Dann hört ja alles auf!“ sagen die Tapfern, die am Scheine hängen, die wackern Männer, die in ihrer Indolenz und Gleichgültigkeit das Positive der alten Weltanschauung längst aufgelöst haben, die kernigen, gediegenen und herzlichen Ehrenmänner, die das Gegebene nur scheinbar, nur mit den Lippen anerkennen, wenn es gilt, die Tapferkeit zu schmähen, die Kraftmänner, die sich entsetzen, wenn man der Voraussetzung auf den Leib geht, und die erzittern, wenn sie sich selbst gestehen sollen, daß sie im Grunde, wenn auch nur in ihrer Indolenz, das Positive aufgelöst haben, ja, das sagen die umfassenden Geister, deren Geist und Selbstbewußtsein nur zu eng ist, als daß sie das Positive in seiner wahren, ursprünglichen, d. h. in seiner Geistesgestalt in sich aufnehmen könnten. „Die Philosophie“, sagt Herr Gruppe p. 51, „muß, um die Gegenstände sich anzueignen, sie sich assimilieren, d. h. sie in ihren Schwindel verwickeln, sie in ihr Nichts auflösen.“ Ist also die Vernunft der Schwindel? Ein reines, leeres Nichts? Freilich, wenn die Vernunft überhaupt die Vernunft des Herrn Gruppe wäre, d. h. eine Vernunft, in welcher der Gegenstand keine Wohnstätte, keine Heimat findet, sondern nur einzelne Stichworte, nur mißverstandene Stichworte bunt durcheinanderfahren.

Nichts in der Menschheit kann anders entstehen als aus dem Innern. Ist das nun eine Verwicklung in den Schwindel der Vernunft, wenn die zerstreuten und verwirrten Erzeugnisse der Geschichte in ihre Einheit und wahre Ordnung versammelt werden? Ist es eine Auflösung in das Nichts, wenn das geschichtlich Entstandene in seine Heimat, in das Innere, ins Selbstbewußtsein, in seinen Ursprung zurückgeführt wird? Marheineke nennt diese Zurückkehr in das allgemeine Selbstbewußtsein „süßen Egoismus“ (p. 40): er hat aber nicht bewiesen, daß es außer dem Einen, dem Selbstbewußtsein noch eine andere Realität gibt, er hat übersehen, daß das allgemeine Selbstbewußtsein die Überwindung des Egoismus ist, welcher sich im Gegensatze gegen die Welt, die Geschichte, die Entwicklung der Geschichte und ihre Resultate erhalten will, und die Kritik hat bewiesen, daß gerade dieser Egoismus den Gegenständen nur Unrecht zufügen, sie nur mißhandeln kann. Ja, so ist es wirklich: die Kritik verherrlicht das Christentum und wird es noch immer mehr verherrlichen, aber nur so, wie sie alle andern Religionen verherrlicht, indem sie dieselben dem Selbstbewußtsein zurückgibt. Die Kritik stellt das Christentum wieder her, indem sie es gegen alle bisherigen falschen Erklärungen verteidigt, aber die erste falsche Erklärung ist diejenige, die es selbst aufstellt, wenn es sich als ein himmlisches Geschenk der Menschheit und ihrer Geschichte entfremdet. Wenn das Christentum erkannt und gegen seine eigene falsche Erklärung sichergestellt wird, so fällt es zwar für die Geschichte und für alle, die an dem Fortschritt derselben teilnehmen, als Religion, nämlich als herrschende oder prätentiöse und unterdrückungssüchtige Religion, denn jene falsche Erklärung, jene Voraussetzung und Illusion macht es erst zur Religion. Allein, wer kann gegen den Stachel locken? Wenn die Religion durch ihre falsche Anmaßung selbst die Erkenntnis angespornt hat, wer kann und wird der Erkenntnis und der Wahrheit Grenzen setzen? Wieder die Anmaßung und die Illusion? Unmöglich! Die Wahrheit ist unüberwindlich.

Aber sie ist nicht unterdrückungssüchtig, nicht prätentiös – sie ist tolerant. Wie die Natur ihre verschiedenen Bildungen und Reiche nebeneinander bestehen läßt und gerade dadurch erst jedem Reiche seine wahre Bedeutung und Stellung gibt, so ist auch die Wahrheit tolerant, und die Erkenntnis wird am wenigsten daran denken, irgendein Werk des Geistes so zu stürzen, daß es ein anderes Erzeugnis desselben zur Alleinherrschaft erheben wollte.

Wenn daher das Christentum auch begriffen, d. h. für den Begriff, für die Freiheit, für die wahre, nämlich für die fortschreitende Geschichte als religiöse Macht völlig gestürzt ist, so ist es deshalb noch nicht der „Tyrannei des Begriffs“ preisgegeben oder verfallen.

„Überall“, sagt Herr Gruppe p. 54, „soll der Philosophie Raum gegeben werden.“ Insofern es sich darum handelt, die Schranken, die man bisher der Erkenntnis gesetzt hat, zu prüfen und, wenn sie wissenschaftlich nicht zu halten sind, zu überschreiten: allerdings! Aber damit ist noch nicht gesagt, daß das Christentum auch äußerlich von der Philosophie als Religion schlechtweg, für alle und für jeden ausgerottet werden soll. Eben dieselbe Philosophie, die überall Raum haben will, wird sich z. B. vor dem Individuum Gruppe eine Grenze ziehen und dekretieren, daß er einen Gott haben müsse, und zwar einen recht unbestimmten Gott, der ihm seine innere Unbestimmtheit als sein wahres Wesen darstelle, da er nicht imstande ist, sie zu erkennen und somit aufzuheben.

Auch Marheineke sagt gegen die Kritik: „so soll nur die Philosophie alles in allem sein“ (p. 86). Wir werden dagegen zeigen, was vielmehr von nun an alles in allem sein soll und wie tolerant die Philosophie gegen die Religion ist.

10. Die Liberalität der Philosophie

Herr Gruppe und alle, die ihm gleichen, haben aus der bisherigen Literatur der Kritik noch nicht ersehen können, was denn eigentlich jetzt in der Welt vorgehe: ein paar Worte werden es ihnen vielleicht besser sagen. Hören Sie also! „Es ist eine Torheit“, sagt Herr Gruppe p. 98, „an die Stelle einer Religion eine Philosophie setzen zu wollen; aber es ist auch eine Ohnmacht. Wer eine Religion stürzen will, müßte wieder eine Religion bringen.“ Hören Sie also!

Sie meinen, wer eine Schranke auflöst, muß wieder eine Schranke setzen? Wer ein Verbrechen sühnt, muß sogleich darauf wieder eines begehen? Wenn ich die Lüge der Theologie aufhebe, muß ich sogleich aufs neue für Lügen sorgen? Wenn ich die Heuchelei der Theologen entlarve, muß ich eine neue Larve erfinden?

Das wäre schon falsch, wenn es sich um eine Schranke überhaupt, um eine Illusion überhaupt handelte, obwohl es sich allerdings von selbst gewöhnlich so macht, daß, wer nur gegen eine bestimmte Schranke kämpft, falls er gesiegt hat, bei einer weiteren sich niederlassen und ausruhen wird. Nicht um eine bestimmte Schranke, nicht um eine bestimmte Illusion handelt es sich, sondern um die Schranke, um die Illusion schlechthin.

Nicht eine Religion, nicht eine bestimmte Religion wird jetzt erkannt und durch die Erkenntnis aufgelöst, sondern die Religion. Die Religion – hören Sie? – die Religion schlechthin wird von der Kritik gestürzt. Und an ihre Stelle: was setzen wir?

Herr Gruppe meint, wir wüßten es nicht oder es sei etwas nur Zukünftiges – eine Seite vorher sagte er, wir wollten eine Philosophie an die Stelle der Religion setzen – . Nein, Herr Gruppe! weder eine Philosophie, noch die Philosophie.

Also wir wissen es nicht! „Es ist töricht,“ muß uns Herr Gruppe p. 99 zurufen, „erst Raum zu machen für das, was kommen soll, es ist doppelt töricht, hinterdrein nicht wissen, was dieses sei.“ Wir Armen! „Habt ihr etwas, so gebt es!“ ruft uns Herr Gruppe sehr herausfordernd zu. Nein! Herr Gruppe, Ihnen und Ihres Gleichen geben wir Nichts, nehmen wir Nichts, Sie haben Nichts und wollen Nichts haben. Sie würden sich sehr dafür bedanken, wenn wir Ihnen das anbieten wollten, was wir zu geben haben.

Auch Marheineke vergißt, daß wir die Philosophen zu Allem in Allem machen wollen, auch er sagt: „Fragt man sie aber (p. 39), was sie denn und ob sie überhaupt etwas an die Stelle des Christentums zu setzen denken, so hat man – (wir lassen das folgende Wortspiel aus) – allen Grund zu erwarten, daß sie Nichts als ein leeres Blatt zur Geschichte der Religion herbeizubringen haben.“

Nein! auf diesem Blatt, auf welchem wir die Religion löschen, auf diesem doppelt beschriebenen Blatte, auf diesem Palimpsest tritt, wenn die Religion gelöst ist, die Urschrift wieder hervor, die von klassischem Werte ist. Mönche haben die Urschrift durch ihr Gekritzel verdorben, wir stellen sie wieder her, und der Mensch steht auf dem Blatte, welches wir zur Weltgeschichte herbeibringen.

Ist das nichts, den Menschen zum Menschen machen? Den Menschen sich selbst wieder geben? Ist das nichts, den Menschen von den Fesseln befreien, die ihn bisher gehindert haben, ganz Mensch zu sein? Das wäre nichts, an die Stelle der Knechtschaft die Freiheit, der Unvollkommenheit die Vollkommenheit, des Mangels die Fülle, an die Stelle der Krankheit die Gesundheit setzen?

Ist der Mensch euch Nichts? Kein Etwas? Allerdings ist er euch Nichts, weil ihr ihn nur mit dem gereizten, blutrünstigen oder nur gen Himmel gerichteten Auge der Religion, also im Grunde noch gar nicht betrachtet habt. Er ist euch Nichts – aber er soll eben Etwas, er soll Alles werden.

Nicht die Philosophie soll Alles in Allem sein, nicht um eine Philosophie, auch nicht um die Philosophie handelt es sich, wenn die Religion gestürzt wird, sondern um die Menschheit handelt es sich und die Menschheit soll Alles in Allem sein. Sämtliche Güter der Menschheit, Staat, Kunst und Wissenschaft, die ein Ganzes, ein System bilden, und unter denen keines als ein absolutes und ausschließliches gilt, keines ausschließlich herrschen darf, wenn es nicht wiederum ein Übel werden soll, alle diese Güter sollen endlich einmal, nachdem sie bisher von der Religion auf Tod und Leben bekämpft waren, d. h. von dem Ausdruck ihrer Unvollkommenheit immer beherrscht werden sollten, frei werden und sich frei entwickeln. Die Menschheit will nichts Ausschließliches mehr, darum kann sie die Religion, die sie bisher hinderte. Alles zu sein, was ihre Bestimmung ist, nicht mehr als eine allgemeine, herrschende Angelegenheit wollen. Sie schließt die Religion deshalb nicht so aus, wie die Religion die Kunst und Wissenschaft ausschließen muß, daß sie dieselbe mit Stumpf und Stiel ausrotten wollte, sondern sie erkennt sie an und läßt sie als das bestehen, was sie ist, als Bedürfnis der Schwäche, als Strafe der Unbestimmtheit, als Folge der Mutlosigkeit, – als eine Privatsache.

Kunst, Staat und Wissenschaft werden deshalb immer noch mit den Unvollkommenheiten ihrer Entwicklung zu kämpfen haben, aber ihre Unvollkommenheit soll nicht zu einem jenseitigen Wesen erhoben werden und als die himmlische, religiöse Macht ihren Fortschritt hemmen. Ihre Unvollkommenheiten sollen als ihre eigenen anerkannt und werden als solche im Fortgange der Geschichte leicht genug überwunden werden. In der Religion wird der Mensch um sich selbst gebracht und sein Wesen, das ihm geraubt und in den Himmel versetzt ist, zum Unwesen, zum Unmenschlichen, zur Inhumanität selbst gemacht.

Die Kritik ist die Krisis, welche das Delirium der Menschheit bricht und den Menschen wieder sich selbst erkennen läßt. Marheineke stellt daher die Frage sehr falsch, wenn er sagt, das Feldgeschrei der Kritiker sei: „Philosophie oder Christentum“; er hört sehr falsch, wenn er in ihrem „entweder . . . oder“ die „Sprache des alten Dogmatismus“ hört. Die Kritik kennt keinen Dogmatismus mehr; ihre Parole ist: Die Menschheit oder die Unmenschlichkeit, Tod oder Leben, Nichts oder Alles. Kennten unsere Gegner unsere Parole, so würden sie auch nicht die sonderbare Forderung aufstellen, wir sollten ruhig, leise sprechen, lispeln oder vielmehr gar nicht sprechen, nichts tun wie sie.

„Ist es etwas (was wir zu geben haben),“ sagt Herr Gruppe, „so wird es von selbst bestehen, auch ohne Deklamationen.“ – (Am Ende, ohne daß wir arbeiten und kämpfen.) – „Es bedarf dann auch keiner solchen (!) Polemik, keiner gehässigen Angriffe auf das, was andern ehrwürdig und heilig ist“ (p. 99). Den Augenblick vorher hatte Herr Gruppe gesagt: „nur die neue Knospe ist es, welche im Herbst das welke Blatt abstößt“ .

Pfui über die Knospe, die auf das welke Blatt ihre gehässigen Angriffe richtet! Pfui über die Deklamation, mit welcher die reife Frucht die Hülse zersprengt, daß es knallt. Die Nordamerikaner waren Schwätzer und Deklamatoren, als sie unter Kanonendonner die Freiheit des Volks gegen die Aristokratie der alten Welt verteidigten. Die Franzosen hätten auch ohne Deklamationen – d. h. ohne Schlachtenlärm die Koalition besiegt. Der Sklave darf nicht mit den Fesseln klirren, wenn er sie zerbricht, d. h. er muß in ihnen steckenbleiben. Nur nicht deklamiert, nicht polemisiert, laßt den Himmel sorgen, d. h. bleibt, was ihr seid, – Sklaven!

Und wie wundern sich unsere Gegner nun erst über die Schnelligkeit der Entwicklung, welche die neuere Kritik herbeigeführt hat und in die sie natürlich selbst hineingezogen ist – sie tun, als ob die Welt seit achtzehn Jahrhunderten geschlafen hätte, als ob es kein achtzehntes Jahrhundert gäbe, als ob die deutsche Philosophie nicht während fünfzig Jahren an der Pforte der Zukunft gerüttelt und gegen sie gedonnert hätte. „Wenn eine Gedankenbewegung“, sagt Marheineke p. 44, „sich so rasch auf ihre Spitze treibt und aller Besonnenheit und Mäßigung ermangelt, so treibt sie ihre eigene Widerlegung zugleich aus sich hervor.“ Nun, das ist eben ihr Ruhm, daß sie nicht auf die Theologen zu warten braucht, um zu erfahren, wo es mit ihr noch schwach steht. Sie korrigiert sich durch sich selbst und braucht nicht einen Neander, einen Tholuck, einen Lange zu belästigen, wenn sie der Schuh drückt und wenn sie bei reiferem Alter für ihre kräftigeren Füße neuer Schuhe bedarf. Ja es geht aber doch gar zu schnell? Wir haben, sagt Marheineke ebend., „ein kurzatmiges Leben“ – als ob wir das Leben für das höchste der Güter hielten und uns nicht gern der Sache aufopferten!

„Selbst Strauß ist vorbei“, ruft Herr Gruppe aus (p. 72); „schon haben sie Strauß für antiquiert erklärt“, ruft Marheineke: unsere Sorge ist dagegen einzig und allein diejenige, wer Recht hat, wer uns der Wahrheit zuführt; die Person sehen wir aber nicht an.

Heute regiert der und der, ruft p. 72 Herr Gruppe, „und morgen wer?“

Antwort: wer weiter schreitet! „Und wann kommt die Sündflut?“ Herr Gruppe sollte die Schrift besser kennen! Die Flut kommt, wenn „sie essen und trinken, freien und sich freien lassen“ und des Herrn Tag nicht merken wollen.

„Dieses beständige Fortschreiten macht ja aber“, ruft uns keuchend ein bekannter Hauderer nach, „die Perfektibilität illusorisch!“

Also deshalb – seht, wie der Hauderer eben einkehrt, um sich eine Herzensstärkung geben zu lassen, nachher wird er sich an den Weg legen, um sich von seiner gewaltigen Arbeit auszuruhen! Wir wünschen ihm wohl zu ruhen! – Also deshalb ist die Perfektibilität illusorisch, weil sie wirklich gesetzt wird, weil es wirklich weitergeht, weil sie eine Wahrheit geworden ist?

Was das für tapfere und wackere Männer sind! Alles soll hadern und zaudern, weil sie nicht gern von der Stelle kommen. Weil sie immer schlafen wollen, soll es beständig Nacht sein. Ja, nach ein paar Jahrhunderten, in einem Jahrtausend, ruft uns einer von ihnen zu, könnt ihr mit euern Grundsätzen durchdringen. Er hört unsere Antwort nicht, da er sich schon auf die andere Seite gelegt hat und höchstens im Traume gegen uns redet. He da, Freund! Wach auf! Höre: wenn unsere Grundsätze wahr sind, so können wir nicht genug eilen, sie ins Leben zu führen und geltend zu machen. Die Wahrheit, wenn sie da ist, ist immer zur rechten Zeit da: die Sonne ist noch niemals, solange die Welt steht, während der Nacht, ehe sie kommen sollte, aufgegangen. Wacht auf, die Sonne steht da, sie wird schon sehr heiß, es kann ein Gewitter geben. Wacht auf! Marheineke macht es uns zum Vorwurf (p. 43), daß wir „nach der Praxis streben“. Das wäre ein schöner Arzt, der etwas Ordentliches gelernt hat, von einer Schar von Kranken umgeben ist und nicht nach der Praxis streben wollte! Die Theorie, die Kritik hat die Wirklichkeit als krank erkannt, und sie sollte nicht zugreifen, nicht nach der Praxis streben? Wir werden noch Gelegenheit haben zu zeigen, worin diese Praxis besteht, indem wir endlich die Frage von dem Austritt aus der Kirche besprechen.

11. Der Austritt aus der Kirche

Der Bruch mit der Kirche und der Religion ist vollständig geworden. Die neuere Bildung und das befreite Selbstbewußtsein sind nicht nur von den Kirchensatzungen frei geworden, sondern sie haben sich vollständig von aller Religion befreit. Wie ruft man uns entgegen, wie? Ihr wollt die Religion auflösen, stürzen, ausrotten? Welcher rohe Übergang von der Theorie zur Praxis! Wir haben sie vielmehr aufgelöst und gestürzt – aber rein und allein durch die Theorie. Die Theorie, aber die wahre, die rücksichtslose Theorie, d. h. die Theorie, die ihren Gegenstand – (die Religion) – nicht so, wie er es eigensinnig genug verlangt – (denn er kann sich ja über sich selbst täuschen) – nicht so, wie er es grollend und donnernd verlangt – (um so schlimmer! Seine Heftigkeit spricht gegen ihn: warum würde er sonst praktisch, durch Drohungen erreichen wollen, was er viel sicherer auf dem Wege der freigelassenen Forschung erreichen müßte) – kurz, die den Gegenstand nicht nach seinen Voraussetzungen betrachtet – (denn diese können ja sehr falsch, ein Vorurteil, eine verkehrte Auffassung seiner selbst, ein falscher Schein sein) — sondern diese Voraussetzungen selbst in Untersuchung zieht, diese Theorie hat die Sache der Religion entschieden.

Nicht wir sind roh praktisch, sondern die Religion ist es, wenn sie schlechtweg anerkannt sein will, wenn sie die wirkliche Erkenntnis verpönt und nur eine Forschung dulden will, die von der Furcht vor ihren Drohungen geleitet und bestimmt wird. Die Religion ist praktisch, wenn sie ihre Voraussetzungen nicht geprüft wissen will oder, falls sie den liberalen Forderungen der Welt nicht mehr widerstehen kann, nur eine Forschung duldet, die zuletzt ihre Voraussetzungen anerkennt. So praktisch ist die Religion, daß es ihr zuletzt völlig gleichgültig ist, wie und in welcher Weise ihre Voraussetzungen anerkannt werden, wenn es nur geschieht; ja zuletzt ist sie zufriedengestellt, wenn es auch nur zum Scheine, wenn es heuchlerisch geschieht. Wir allein verhalten uns rein theoretisch zu der Religion, wenn wir ihre Voraussetzung, die Voraussetzung, daß sie zwei Welten angehöre, der himmlischen und der irdischen, ihre Voraussetzung, daß sie das einzige Band zwischen der himmlischen, wesentlichen und der irdischen, unwesentlichen Welt sei, untersuchen. Ihr Andern seid es, die ihr auch nach dieser theoretischen Arbeit der Kritik, wenn sie bewiesen hat, daß jene beiden Welten nur innere Gegensätze des Selbstbewußtseins und von der Religion nur falsch aufgefaßt sind, euch noch praktisch verhaltet. Ihr untersucht nicht die Theorie und beweist ihr nicht, daß sie falsch sei, sondern ihr klagt sie nur an, macht ihr Vorwürfe, sagt, sie sei tyrannisch usw. Jede eurer Wendungen, die ihr gegen die Kritik gebraucht, ist praktisch – die vollendetste Praxis, die ihr befolgt, ist aber die, daß ihr die Arbeiten der Kritik endlich ganz und gar ignoriert und widerwillig euch gegen sie abschließt.

Unsere Praxis ist die Erkenntnis, die uns alle Täuschungen, welche die Religion sich über sich selbst vormacht, auflöst. Die Theorie hat uns von diesen Illusionen – von der Religion selbst befreit.

Nun, so erklärt doch, ruft man uns zu, daß ihr aus dem religiösen und kirchlichen Verbände ausgetreten seid oder auszutreten entschlossen seid.

Seht, wie wenig es euch um die Sache, um die Wahrheit, um Menschlichkeit zu tun ist!

Meint ihr, damit wäre etwas getan, wenn wir ohne weiteres über die religiösen und kirchlichen Schranken hinwegsprängen? Jeder Bube, jeder Abenteurer kann es tun, und der Pfahlbürger, der in der Sorge für seine egoistischen Interessen versumpft ist, hat es in seiner Weise längst getan, wenn er seine Blicke über den Sumpf seines täglichen Lebens nicht hinausrichtet und jene Schranken dadurch für seine Person aufhebt, daß er sie ignoriert.

Meint ihr, es käme uns nur auf unsere Person an und wir wären befriedigt, wenn wir nur frei sind?

Auch unter dem Papsttum, als es die höchste Stufe seiner Macht erreicht hatte, gab es Atheisten, und zwar Atheisten sehr verschiedener Art. Lest einmal eine Seite in Calvins Schriften, und ihr werdet erfahren, wie viel und wie vielerlei Atheisten es in einer Zeit gab, die sonst als ganz besonders glaubenskräftig gepriesen wird.

Wir wollen nicht nur für unsere Person mit Kirche und Religion brechen, sondern auf eine allgemeine Weise, so daß der Bruch eine Angelegenheit der Welt, die allgemeine Sache der Geschichte wird.

Nichts aber ist allgemeiner als die Theorie, die es nur mit der Natur des Gegenstandes zu tun hat und auf die allgemeine wahrhafte Natur des Menschen rechnen darf, wenn es sich darum handelt, die Wahrheit einer Sache zur Anerkennung zu bringen. Was ich für meine Person tue, nur zwischen meinen vier Wänden tue, kann andern höchst gleichgültig sein. Wenn ich es öffentlich tue, kann mein Beispiel ansteckend sein und andere zur Nachfolge bewegen; aber selbst in diesem glücklichsten Falle wird die Sache nur zu einer Angelegenheit der Mode, die morgen schon lächerlich sein kann. Was hat es selbst Ludwig XIV. geholfen, die Frömmigkeit zur Mode zu machen? Nichts, als daß er die folgende Mode um so pikanter machte und die Leute reizte, sie um so lieber mit der seinigen zu vertauschen. Nein! zur Sache, wollen wir endlich kommen! In der Theorie wollen wir fertig werden, um der Geschichte ein für allemal ihren neuen Weg zu bereiten.

Das Innere, das Wesen der Sache soll enthüllt, die Tiefe des Geistes soll aufgerissen werden, damit die Menschheit weiß, woran sie ist, damit unser wahres Wesen, welches die Religion uns geraubt und vorenthalten und arg entstellt hat, wieder als unser selbst, als unser wahres, reines Wesen zu uns selbst komme, sich in uns entwickle und endlich frei werde. Darum muß die Theorie rücksichtslos den Gegenstand, die Religion sezieren und die Vorurteile, die Fesseln, die Bande, das falsche Fleisch von unserm Herzen abreißen.

Wozu verlangt ihr also eine Erklärung von unserer Seite, daß wir aus dem religiösen und kirchlichen Verband herausgetreten seien? Sind denn unsere Arbeiten für euch nicht da? Seid ihr für die Theorie so ganz und gar unzugänglich, daß ihr nicht einmal von ihr die richtige Notiz nehmen könnt? Die Kritik arbeitet sich durch alle religiösen und kirchlichen Voraussetzungen hindurch; soll sie nun, wenn sie am Schluß alle Schranken aufgelöst hat und wirkliche Freiheit geworden ist, noch besonders vor euch hintreten und sagen: „ich bin frei!“ Wie läppisch! Wollt ihr uns jene Maler preisen, die den Gestalten noch nicht ihren wahren Ausdruck geben konnten und ihnen Zettel in den Mund legen mußten, auf denen ihr Inneres mit klaren Worten zu lesen war? Oder malt sich die Kritik so schlecht ab, daß sie in der Unterschrift noch besonders sagen muß, was sie ist oder was sie nicht ist?

Der Kritiker kann und darf nicht einmal auf den Gedanken kommen, zu erklären, daß er aus dem kirchlichen Verbände heraustrete. Erstens würde er seiner Arbeit ein Dementi und, falls sie gediegen ist, ein ungerechtes und sinnloses Dementi geben, wenn er als einzelne Person erst noch glaubte sagen zu müssen, was er richtig nur sagen konnte, als er sich als allgemeine Macht mit der Sache beschäftigte. Sodann würde er sein Werk noch in einer andern Weise Lügen strafen, wenn er mit einer Erklärung auftreten wollte, welche die Kirche, deren Grundlage und Voraussetzungen er vernichtet hat, noch als eine Macht anerkennen würde. Die Kirche, aus deren Verband ich trete, erkenne ich durch den Austritt selbst als eine Macht an, der ich mich nur durch die Flucht entziehen kann und der ich mich im Gegenteil unbedingt unterwerfen müßte, wenn ich nicht ausdrücklich aus ihrem Verbände heraustrete. Für den Kritiker hat aber die Kirche keine Macht mehr, der er sich durch die Flucht entziehen müßte.

Er flieht nicht aus dem Gefängnisse, sondern er will, daß es überhaupt nicht mehr stehenbleibe. Er bestürmt es nicht von außen, sondern zerbröckelt es von innen. Er bleibt mit Willen im Gefängnisse, um zu zeigen, daß es für die Freiheit kein Gefängnis ist, daß nämlich die wahre, ernstliche Freiheit seine Mauern zersprengt. Wäre ich freiwillig aus der theologischen Fakultät getreten, so wäre die Sache nur für meine Person und zwar sehr falsch abgemacht, da ich mit meinem Austritt erklärt hätte, daß die Kritik und freie Forschung gegen die Gesetze und Voraussetzungen der Fakultät schlechthin Unrecht hätten. Die Konsequenz einer geschichtlichen Existenz ist überhaupt noch niemals freiwillig aus ihr herausgetreten, sondern immer von ihr ausgestoßen. Wir treten nicht aus der Fakultät, sondern diese stößt uns aus; wir treten nicht aus der Kirche, sondern diese hat uns auszustoßen, wenn sie noch so viel Kraft und Willen hat, als zu diesem Akte gehört.

Aus der theologischen Fakultät uns zu stoßen oder uns den Zutritt zu ihr zu erschweren oder völlig abzuschneiden ist leicht, da sie die Form einer weltlichen, beschränkten Korporation hat und die Regierungsgewalt ihr unmittelbar zur Hilfe kommen kann. Es ist auch deshalb leicht, weil wir durch unser Recht, durch unsere Ansprüche oder durch unser Verlangen, in ihren Verband zu treten, mit ihr in unmittelbare Berührung kommen und unsere Person ihr darbieten.

Schwerer ist es aber der Kirche, so viel Courage zu fassen, uns von ihr auszustoßen. Sie hat keine hierarchische Repräsentation mehr, weil sie in der Tat keinen kräftigen, besonderen Willen mehr hat – (der Staat hat ihn sich angeeignet) –, und wir fallen ihr durch das Verlangen, an ihrem Segen und an ihren Gnadenmitteln teilzunehmen, eben nicht zur Last. Sollte sie sich nun dennoch – obwohl nicht abzusehen ist, wie sie als Kirche dazu die Mittel und Wege finden könnte – so weit aufraffen, daß sie uns ausdrücklich exkommunizierte: – wäre es dann für uns Zeit zu erklären, daß wir aus ihr heraustreten oder bereits längst ausgetreten seien? Ei! Sprechen wir doch nicht über Hirngespinste! Die Kirche hat keinen besonderen Willen mehr, den sie gegen uns richten könnte.

Zunächst ist sie sublimiert in das bloße allgemeine Gerede über die Notwendigkeit des kirchlichen Lebens. Sollen wir nun erklären, daß wir an diesem Gerede keinen Anteil mehr nehmen? Wozu? Sollen wir uns am Ende auch auf die Straße stellen und sagen und öffentlich bekannt machen, daß wir keine Kinder mehr sind?

Aber eine ungeheure Macht ist die allgemeine Machtlosigkeit, die über alle öffentlichen und Privatverhältnisse, über Kunst und Wissenschaft herrscht und jeden, der sie enthüllt und durch die Tat widerlegt, als einen Verräter und Unmenschen bezeichnet. Sagt es einmal, daß ihr in der Natur die Natur und nichts als die Natur, in der Menschheit die Menschheit und nichts als die Menschheit sehet, daß ihr die Naturerscheinungen als Naturerscheinungen betrachtet, alle menschlichen Verhältnisse als menschliche nehmt, pflegt und durchlebt, daß ihr die Kunst als Kunst, die Wissenschaft als Wissenschaft liebt und pflegt, daß ihr alle eure Bedürfnisse aus der Natur, aus euch selbst, aus dem Schatz der Geschichte und aus dem unversieglichen Quell, der aus der Berührung mit der Menschheit fließt, befriedigt, sagt es, und jene Machtlosigkeit wird gegen euch in Wut und Raserei geraten. Wie? wird sie sagen, über die Natur hinaus richtet ihr euren Blick nicht nach oben, ihr glaubt, daß die Menschheit sich selbst genüge, ihr wollt Kunst und Wissenschaft nicht als Dienerinnen des Höchsten allein betrachten? Wie? erhitzt sich jene Mutlosigkeit weiter, die Natur ohne ihren Schöpfer ist euch nicht ein bloßer Erdklumpen, die Menschheit ohne ihren Herrn ist euch nicht ein bloßes Nichts, Kunst und Wissenschaft, wenn sie sich von der Religion emanzipieren wollen, sind euch nicht die Erfindungen des Teufels? Die Natur, schließt endlich diese ohnmächtige Wut, ist nichts als der Moder der Verwesung, der Mensch ohne seinen Herrn ein Tier, das nach einer Reihe unseliger Täuschungen die letzte Täuschung erfährt, daß es unbefriedigt zusammenfällt, Kunst und Wissenschaft, wenn sie nichts als Kunst und Wissenschaft sein wollen, sind nichts als Schein und Lüge. Nachdem diese Wut der Zerstörung sich gegen alles, was es im Himmel und auf Erden gibt, vergangen und alles, das Edelste und Beste mit Füßen getreten hat, spricht sie in dem Opiumrausch ihrer Zerstörungssucht von einem künftigen Zustande, wo alles neu geworden, oder vielmehr, wo ein ganz Neues, jetzt ganz Undenkbares, eine Natur, die nicht Natur, eine Menschheit, die nicht Menschheit ist, geschaffen wird, d. h. wo das Nichts herrscht, in welches sie alles Wirkliche gestürzt hat.

Seht, diese Mutlosigkeit ist die ungeheure Macht, mit deren trägem Widerstand – einem Widerstande, der sich aber jetzt, wo allem auf den Leib gegangen wird, mit der Leidenschaft und dem Fanatismus verbinden wird, – ihr zu kämpfen habt. Sie will nicht zugeben, daß die Menschheit endlich Zutrauen zu sich selbst fasse, sich als den einzigen Quell für die Befriedigung ihrer Bedürfnisse kennenlerne und sich auf sich selbst verlasse. Sie will eigentlich nicht die Arbeit, fürchtet die Tapferkeit und erschrickt vor der Freiheit.

Diesem letzten Feinde der Menschheit, des Denkens und der Freiheit ist es nicht um die Aufrechterhaltung der kirchlichen Satzungen und Dogmen zu tun – sie sind ihm so gut wie unbekannt –, er interessiert sich nicht für die Schrift gegen die Kritik, die Frage nach der Echtheit oder Unechtheit der biblischen Schriften ist ihm höchst gleichgültig: sein Gott und sein Himmelreich sind vielmehr die reine Unbestimmtheit, die Unklarheit, die Inhaltslosigkeit selbst, d. h. sie sind nichts als ein anderes Wort und der kurze Ausdruck für die Unbestimmtheit, in der ihm alle menschlichen Verhältnisse erscheinen, für die Unklarheit, mit der er die Welt betrachtet, für die Trägheit, sich wirklich auf diese Welt einzulassen, für das Nichts, als welches ihm alle menschlichen Bestrebungen erscheinen. Wer in dem Kreise, in dem er lebt, in der Familie, in der bürgerlichen Gesellschaft, im Staat nicht die Seele herauszufinden weiß und mit ihr eins zu werden vermag, für den also alle diese Kreise etwas Fremdes und Geistloses sind, der kann allerdings in ihnen nichts Befriedigendes finden: er glaubt nur an die Fremdheit und Geistlosigkeit dieser Kreise, ihr Wesen ist ihm fremd und geistlos, er glaubt nur an dies fremde Wesen, und dieses Wesen ist ihm Gott und die jenseitige, zukünftige Welt. Der Geschäftsmann, der in seinem Bureau arbeitet, ohne zu denken und zu wissen, daß seine Arbeit einem größern Ganzen dient, der also im Mechanismus seiner beschränkten Arbeit versteinert und mit dem Staatsganzen in keinem ausdrücklichen und lebendigen Zusammenhange steht, drückt diese Zusammenhangslosigkeit mit dem Wesen des Staats und die Entfremdung des Staatsganzen gegen ihn in dem Glauben an ein Wesen und an eine jenseitige Welt aus, die ihm und der Welt, in der er lebt, fremd sind und außer allem Zusammenhang mit ihr stehen. Ebenso der Theoretiker, dem das Wesen der Sache, die er behandelt, fremd bleibt und der es nicht wagt, dieses Wesen zu ergreifen und als die menschliche Freiheit zu denken, der Theoretiker also, der ein Sklave seines Gegenstandes bleibt, und zwar der Sklave eines unerkannten Gegenstandes, muß die knechtische Abhängigkeit von einem fremden Wesen zu seiner wahren und höchsten Bestimmung machen: – er tut es in der Religion. Seine Unfähigkeit, den innern Zusammenhang der Begebenheiten zu erkennen und in der Geschichte das Werk der menschlichen Freiheit zu sehen, verehrt der Geschichtsforscher als die göttliche Vorsehung, und die Langeweile, welche die Trägheit in der Weltgeschichte empfindet, verwandelt sich ihr, weil sie diese Langeweile für das Richtige und für den notwendigen Eindruck der Geschichte hält, in die Langeweile eines inhaltslosen ewigen Lebens.

Obwohl nun diese Unbestimmtheit und Unklarheit gegen die kirchlichen Satzungen höchst gleichgültig ist, ja sogar sich nicht wenig darauf einbildet, daß sie sich von den „Menschensatzungen“ befreit hat, und wacker gegen die „Finsterlinge und Fanatiker“ zu sprechen weiß, obwohl sie sogar gegen den öffentlichen Religionskultus gleichgültig sein kann und gewöhnlich es wirklich ist – wie viele, die den Atheismus der Kritik verabscheuen und auf einmal die leidenschaftlichsten Verteidiger des Glaubens an Gott und an ein jenseitiges Leben geworden sind, haben wohl seit Jahren das Innere einer Kirche gesehen? –, trotz dieser Gleichgültigkeit gegen die Kirche ist jene Unbestimmtheit dennoch die Vollendung des kirchlichen Wesens. Sie ist gerade die furchtbarste Entfremdung der Menschen gegen sein wahres Wesen. Wie die Kirche verhält sie sich gegen alle menschlichen Verhältnisse gleichgültig oder feindlich, wie die Kirche ereifert sie sich gegen diejenigen, die es mit jenen Verhältnissen ernst meinen, sie als etwas Wesentliches betrachten und sich in ihr wahres Wesen vertiefen, wie die Kirche behauptet sie zwar, daß sie erst den menschlichen Bestrebungen und Verhältnissen ihre wahre Weihe gebe, aber wie die Kirche gibt sie ihnen auch nur eine äußerliche und falsche Weihe und läßt sie nachher diese Verhältnisse gehen und sich entwickeln, wie sie wollen, d. h. sie läßt sie schlecht genug gehen, da sie ihnen nicht in ihrem wahren Wesen ihren Halt gegeben hat, sie muß sie sogar verderben, da sie ihnen wie dem Staat, der Familie, der Kunst, der Wissenschaft schlechthin verwehrt, in ihnen selbst ihren Halt zu suchen.

Die völlige Mutlosigkeit und Verzweiflung des Menschen an sich selber ist die Vollendung des kirchlichen Wesens, welches den Menschen von seiner Welt abzieht und, wenn es ihn dennoch sich nicht ganz entfremden kann, ihm gebietet, wenigstens nur heuchlerisch in dieser Welt zu leben.

Die Kirche verspricht dem Menschen eine neue Natur, d. h. eine Natur, die keine ist, aber solange er in dieser Welt ist, muß sie ihm diese Natur lassen und ihm erlauben, daß er durch seine Arbeit ihr seine Subsistenz abgewinne. Aber eigentlich soll er in der Natur nicht die Natur sehen, er soll seiner Arbeit nichts verdanken, er soll nichts sein. Sie gebietet ihm daher, in der Natur nicht ihre Gesetze, in ihrer Tätigkeit nicht die Äußerung ihrer Gesetze, in seinem Genuß nicht den Erfolg seiner Arbeit zu sehen: seine Arbeit soll er vielmehr unter der Form des Gebets, das sich nicht an das Gesetz, sondern nur an einen veränderlichen Willen richten kann, verbergen und nachher desavouieren, indem er im Danke den Erfolg derselben einem fremden Willen zuschreibt. D. h. der Mensch soll sich mit der Natur zu tun machen und doch auch wieder nicht, er soll arbeiten und tun, als ob er nicht arbeite, und wenn er gearbeitet hat, soll er sich stellen, als habe er es nicht getan.

Das wahre und himmlische Leben ist jenes, in dem man nicht freit und nicht gefreit wird – wenn nun „der Schwäche des Fleisches wegen“ die Ehe nicht zu umgehen ist, so will der Apostel, daß diejenigen, die Frauen haben, wenigstens seien, als hätten sie keine. Die Ehe soll um des Himmels willen nur ein Schein sein.

Die Kirche muß es zulassen, daß der Gläubige der menschlichen Obrigkeit gehorche und außer dem einen, dem himmlischen Herrn auch weltlichen Herren Untertan sei. Aber sie gebietet ihm zugleich, die weltliche Obrigkeit nur als einen Schein, nämlich nicht als weltliche, sondern als göttliche zu betrachten. Er soll sie nicht als seine Obrigkeit ansehen, nicht als Ausdruck seines Willens, als Depositär des allgemeinen Willens ansehen, sondern als ein ihm fremdes Wesen, als eine Macht, die seinem Willen fremd ist: sie ist von Gott eingesetzt. Die Gebote der Kirche sind nie gehorsamer befolgt worden als in unsern Tagen, wenn die Industrie die Natur sich unterjocht und der Mensch sich dennoch nicht zu gestehen wagt, daß er der Herr der Erde ist; die Ehe kann nicht krasser für einen bloßen Schein erklärt werden, als wenn ihre Haltung von einer kirchlichen Weihe abhängig gemacht wird, die in keinem innern Verhältnisse zu ihr steht und auf ihre sittliche Führung nicht den geringsten Einfluß hat; und kein Kirchenvater konnte gegen den Staat und die Obrigkeit gleichgültiger, indolenter und apathischer sein, als es der Untertan in dem jetzigen Christlichen Staate ist.

Man tut sehr Unrecht, wenn man vom Verfall des kirchlichen Lebens spricht. Es ist noch nie so mächtig gewesen wie jetzt. Sein Einfluß erstreckt sich sogar auf diejenigen, die seit ihrer Konfirmation vielleicht nie wieder die Kirche betreten haben. Wie ist es nun? Sollen wir aus der Kirche treten? Wo sollten wir denn aber hin? Können wir der Berührung mit der Mutlosigkeit, der Trägheit und Heuchelei entgehen? Haben wir uns nicht selbst noch von allen Schwächen, die uns von unserm Ursprünge her aus einem innerlich falschen, verrotteten Zustande ankleben, zu befreien? Haben wir denn die Wahrheit, die Sittlichkeit, die Tapferkeit schon von ihrem Gegenteil befreit und vor ihm sicher gestellt? Nein! Wir leben mitten in der Mutlosigkeit und der Heuchelei, und unsere einzige Aufgabe ist die, zu kämpfen, die Mutlosigkeit zu vertreiben, die Schwachen tapfer zu machen, die Heuchelei zu entlarven und den Blöden zur Aufrichtigkeit Mut zu geben.

Haben wir das getan, wenn wir uns zurückziehen? Als ob wir uns zurückziehen könnten! Überall, wo wir uns hinwenden, finden wir unsere Gegner, denen kein größerer Gefallen geschehen könnte, als wenn wir außer aller Berührung mit ihnen gesetzt werden könnten.

Die Kirche verfolgt uns überall hin, denn ihre Herrschaft ist allgemein geworden und durchdringt alles. Warum? Weil sie endlich ihr ganzes Geheimnis verraten, ihr wahres Wesen entwickelt hat.

Sie ist nichts als der Ausdruck, die isolierte Erscheinung und die Sanktion der Unvollkommenheit und Krankheit der bestehenden Verhältnisse. Sie ist das allgemeine Wesen aller menschlichen Verhältnisse und Bestrebungen, aber als das verkehrte Wesen, als das von ihnen losgerissene, also auch entstellte Wesen der Ausdruck ihrer Wesenlosigkeit und Verkehrtheit. Sind wir frei, wenn wir aus der theologischen Fakultät treten? Nein! Denn die theologische Wissenschaft ist nur die konsequente Darstellung der Unvollkommenheit aller Wissenschaften, sie ist ex professo die Beschränkung der Wissenschaft, eine Beschränkung, die sich in den andern Wissenschaften durch den Einfluß des christlichen Geistes, d. h. durch die Mutlosigkeit und Abhängigkeit von Voraussetzungen, von selber macht. Wenn wir aus der Kirche treten, entgehen wir dann der Macht des christlichen Staats, d. h. der Bevormundung, dem Mißtrauen, der Beschränkung der Sittlichkeit und Freiheit? Die Kirche ist ja nur die isolierte Erscheinung der Unfreiheit, die im christlichen Staat alle Verhältnisse durchdringt. Gestehen wir es also nur: wir können gar nicht aus der Kirche treten, weil sie die Beschränkung der Freiheit und Wissenschaft ist, die wir nicht durch ein Wort, durch eine einfache Erklärung, sondern nur durch die Tat, d. h. durch unausgesetzten Kampf aufheben könnten.

Von dem Kritiker ist es bekannt, daß er sich von allen Voraussetzungen der Kirche losgesagt hat, aber so wenig ihn die Kirche deshalb von sich ausstößt, so wenig tritt er aus ihr heraus. Die Kirche und er kämpfen, aber sie haben sich nicht voneinander äußerlich getrennt. Zum Ausstoßen und Austreten ist die Sache nicht nur zu ernst – weil es sich auf beiden Seiten um Sein und Nicht-Sein handelt –, sondern der Kampfplatz ist auch viel zu groß, als daß der Sieg durch ein Herauswerfen oder freiwilliges Abtreten entschieden werden könnte: der Kampfplatz ist die ganze Welt, es handelt sich um alle menschlichen Güter, um die Frage, ob sie von der Unfreiheit uns vorenthalten, beschränkt und entstellt werden sollen, es handelt sich mit einem Worte um das Prinzip der ganzen kommenden Geschichte. Ist diese Frage entschieden, wenn ein Einzelner oder wenn mehrere erklären, daß sie nicht mehr zur Kirche gehören?

Und wenn Millionen erklären, daß die Resultate der Kritik sie von der Unwahrheit des Christentums überzeugt haben und sie sich nach dieser Überzeugung für verpflichtet halten zu erklären, daß sie sich gezwungen sähen, aus dem kirchlichen Verbände herauszutreten, so ist für die Sache, um die es sich handelt, noch nichts geschehen, und wiederum: sie können nicht einmal aus der Kirche heraus, da der christliche Staat sie nicht nur in dem kirchlichen Verbände festhält, sondern in der Erscheinung dasjenige nur ausführlich darstellt, was die Kirche, sein Wesen ist.

Nicht die Kirche wird uns lästig – auch wir fallen ihr nicht zur Last –, sondern der Staat ist es, der uns durch seine christlichen Anforderungen zur Last fällt. Wir können nicht geboren werden, nicht die Schulbank verlassen, nicht in die Ehe treten, ohne daß der Staat uns zwingt, von der Kirche eine Weihe zu empfangen, die wir nicht verlangen konnten, nicht verlangt haben, nie verlangen und niemals als eine Weihe anerkennen werden. Die Kirche ist eben nichts Besonderes für sich, sondern der isolierte Ausdruck des Wesens des Staats, und als protestantisch ist sie selbst aus dieser Isolierung herausgetreten und zu einer Staatsanstalt geworden. Die Geistlichen sind jetzt die wichtigsten Staatsdiener, diejenigen nämlich, welche uns immerfort in Erinnerung bringen, was der christliche Staat ist und was wir in ihm sind.

Der christliche Staat ist der Staat der Unfreiheit und Bevormundung, der Staat, der noch nicht den Mut gefaßt hat, wirklich Staat zu sein. Unfrei und bevormundet sind nicht nur die Untertanen, die Regierten, sondern unfrei ist auch die Regierung, da ihr Prinzip, das Mißtrauen, die Regierten zu einer ihr fremden, gefahrdrohenden Masse macht. Sie kann immer nur mit Furcht und sie muß sogar um ihres Prinzips willen beständig an die Möglichkeit denken, daß die Regierten endlich den Entschluß fassen, einem wirklichen Staate angehören zu wollen.

Damit sie nicht zu diesem Entschluß kommen, sorgt die christliche Regierung für die unbedingte Aufrechterhaltung der Taufe, der Konfirmation, der kirchlichen Einsegnung der Ehe und wacht sie darüber, daß selbst nicht einmal am Grabe in menschlicher Weise ausgesprochen werden darf, es sei ein Mensch, den seine Nächsten und Freunde zur letzten Ruhe geleiten. Im christlichen Staate gilt es als ein Unglück, daß ein Mensch geboren wird. Das Neugeborene ist ein verdammtes, unreines Wesen, dem die Liebe seiner Eltern, die Neigung, die sie ihm schon im voraus geschenkt haben, die Hoffnung, mit der es die Mutter unter dem Herzen getragen und genährt hat, die Schmerzen, mit denen es die Mutter geboren, nichts helfen. Alle jene menschlichen Beziehungen, Verhältnisse und Zustände, denen es seinen Ursprung verdankt und in die es eintritt, geben ihm noch nicht das Recht, als Mensch anerkannt zu werden; es soll eben nicht als Mensch anerkannt werden; erst eine äußere, seiner Menschlichkeit, den Empfindungen seiner Eltern und seiner künftigen menschlichen Ausbildung völlig fremd bleibende Handlung, die mit ihm ohne sein Wissen und ohne seinen Willen vorgenommen wird, und die Ablesung eines Formulars, auf welches niemand achtet als der einzige, der es vorliest, also eine Handlung, welche die Unmündigkeit als sein wahres Wesen bezeichnet und sogleich an der Wiege seine künftige Bestimmung, einem fremden Willen unterworfen zu sein, abbildet, gibt ihm die Fähigkeit, in den christlichen Staat einzutreten, d. h. es wird erst von diesem Staat anerkannt, wenn seine Menschlichkeit, sein Ursprung, die Liebe seiner Eltern, die Liebe und die Schmerzen seiner Mutter verleugnet werden. Konfirmiert für den christlichen Staat wird der Mensch erst dann, wenn er das Gelübde ablegt, daß er sich zu einer Religion bekenne, die ihm die Pflicht auflegt, ein Kindlein zu werden, den Stand des unmündigen Kindleins als seinen höchsten Stand, als seinen wahren Zustand zu betrachten, und die es ihm verbietet, ein Mann zu werden. Die Ehe erkennt der christliche Staat erst an, wenn er durch den Akt der kirchlichen Trauung es ausgesprochen hat, daß sie an sich ein Unrecht sei, und wenn Braut und Bräutigam eine Rede über den himmlischen Bräutigam, d. h. eine Rede gehört haben, die es ihnen zu Gemüte führt, daß sie nicht an ihre Ehe, sondern an die einzig wahre Ehe zu denken haben, in welcher sie als Glieder der Kirche mit dem einzig wahren Bräutigam stehen sollen. Der christliche Staat erklärt die Menschlichkeit für einen unwesentlichen Schein, den man ablegen müsse, um Christ, d. h. Bürger einer jenseitigen, Bürger der unwirklichen Welt zu werden. Das wesentliche Leben, welches im christlichen Staat geführt wird, ist daher das Leben im Himmelreich, ein Leben, welches gegen die Menschenrechte und die sittlichen Verhältnisse nicht nur gleichgültig ist, sondern auch Krieg führt und eigentlich, wenn es möglich wäre, sie ausrotten müßte. Aber es ist nicht möglich, weil der Mensch sich nicht vollständig verleugnen kann. Die Mutter, die ihr Kind schon liebte, als sie es unter ihrem Herzen trug, liebt es auch nachher nicht deshalb, weil es, sondern trotzdem, daß es getauft ist, d. h. trotzdem, daß vermittelst der Taufe erklärt wurde, sie habe ein unreines Wesen zur Welt gebracht, welches sie als solches und als die Frucht einer unreinen Begierde hassen und als ein Kind des göttlichen Zorns, falls sie in der göttlichen Liebe steht, als ein fremdes Wesen betrachten müsse. Sie liebt es aber trotz der Taufe nur als ihr Kind und als ein Pfand der Liebe ihres Gatten. Obwohl wir ferner in der Konfirmation geloben, unmündige Kindlein und, was wir sind, nur durch einen andern, durch Gott oder seinen Gesalbten zu werden, bemühen wir uns doch, etwas durch uns selbst zu werden, die Ehegatten lieben sich nicht wegen der kirchlichen Weihe ihres Bundes, sondern trotz dieser Weihe, trotzdem, daß das Leben im Himmel und das Trachten nach der Krone des himmlischen Bräutigams als ihre höchste Aufgabe ihnen empfohlen war; sie lieben sich, weil sie den Grund ihrer Liebe in sich selbst finden. Das wirkliche Leben erklärt daher das wesentliche, von der Kirche, d. h. vom christlichen Staat gebotene Leben für einen wesenlosen Schein, wie die Kirche von ihrer Seite wiederum das wirkliche Leben für einen bloßen Schein erklärt. Man glaube nicht, daß die Kirche bisher eine äußere Zwangsanstalt und die Macht des christlichen Staats eine Gewalt sei, die den Menschen ohne oder gar wider seinen Willen beherrsche und zur Verleugnung seiner selbst und seiner Rechte zwinge. Ist es möglich, daß die Menschheit ein Joch trage, das sie sich nicht selbst aufgelegt hat?

Die kirchliche Gewalt des christlichen Staats, d. h. der christliche Staat selbst sind weiter nichts als der Ausdruck, die Erscheinung und äußere Repräsentation unserer Mutlosigkeit. Wir selbst haben uns bisher noch nicht gestehen wollen, daß wir erst als Menschen und nur als Menschen unsere wahren und wichtigsten Rechte besitzen und unsere höchsten Pflichten zu erfüllen haben. Unser Wesen haben wir bisher von uns getrennt und als eine fremde Macht uns gegenüberstehen lassen, als wäre es zu groß für uns und als wären wir für es zu klein. Wir wollten bevormundet sein, bevormundet unter Furcht und Zittern; wir wollten auch mit Mißtrauen und Argwohn behandelt sein, denn Mißtrauen muß die Macht erfüllen, die eigentlich unsere eigene Macht ist, nur dem Scheine nach uns als eine fremde Macht gegenübersteht und argwöhnisch über die Aufrechterhaltung des Scheines wachen muß. Unser Glaube, daß wir nicht für uns selbst sorgen können, hat die Vorsehung geschaffen, die die Haare auf unserm Haupte zählt und uns die Schutzengel zur Seite stellt, die uns nie verlassen und bei jedem Schritt und Tritt, auf allen Wegen, auf der Straße, bei unsern harmlosen Zusammenkünften und auf unsern Reisen uns bewachen und behüten. Wir sind schlechthin unmündig: die Macht, die unser Wesen zu ihrem Privilegium gemacht hat, denkt, spricht, handelt für uns oder vielmehr für sich, und uns kommt ihr Tun und Denken nur deshalb zugute, weil wir ihr als Privateigentum angehören. Wir sind nur Privateigentum und die Leibeigenen eines andern, dem wir unser Wesen als sein ausschließliches Privilegium zuerteilt haben.

In einer zwiefachen Weise haben wir bisher dieses Leben der Unmündigen uns gegeben und geführt, in einer allgemeinen und in einer besonderen Weise, in der Religion und im christlichen Staate. Unser religiöses Leben ist nur der allgemeine Ausdruck für unser Leben im christlichen Staate, das Wesen von dem, was im Staat geschieht, die überirdische Bestätigung der Unmündigkeit, Abhängigkeit und Willenlosigkeit, die im christlichen Staat unser Los ist.

Mehr brauchen wir nicht zu sagen, um zu beweisen, daß wir aus der Kirche nicht austreten können und daß selbst die Erklärung, wir seien aus der Kirche ausgetreten, uns nicht weiterbringen und von der kirchlichen Gewalt nicht befreien könne. Der christliche Staat ist das im Ernste und in Wirklichkeit, was die Kirche an sich oder in einer auf gespreizten und chimärischen Weise ist.

Was ist also zu tun? Wie ist zu helfen?

Die Geschichte hat schon sehr weit geholfen. Die übernatürliche Gewalt der Kirche und die oberherrliche Macht im christlichen Staate sind im Grunde nur ein falscher Schein, nur dem Scheine nach eine den Bevormundeten fremde Macht. Dieser Schein ist nun durch die Entwicklung der letzten Jahrhunderte wirklich nur zum Scheine geworden, zum Schein herabgesetzt und als bloßer Schein wichtig und wertvoll geworden. Die Kirche muß jetzt damit zufrieden sein, und sie ist wirklich damit zufrieden, wenn nur die Massen, deren Abfall das Thema aller ihrer Predigten geworden ist, scheinbar noch mit ihr in Verbindung stehen. Der christliche Staat weiß, da wir es öffentlich und vor aller Welt getan haben, daß wir mit dem gesamten kirchlichen Wesen gebrochen haben, und dennoch hält er an dem System der Bevormundung so fest, daß er uns zwingt, (z. B. bei dem Eintritt in die Ehe) uns Zeremonien zu unterwerfen, die wir als sinnlos und als Verhöhnung des Aktes, den sie einweihen sollen, bezeichnet haben. Er ist mit dem Scheine zufrieden und hat von seiner Seite, soweit es ihm überhaupt möglicht ist, die Sache entschieden. Er zwingt uns mit Gewalt, uns den kirchlichen Formen zu unterwerfen, d. h. sie gerade durch unsere Unterwerfung für einen inhaltslosen Schein zu erklären, als solchen öffentlich zu prostituieren und das allgemeine Bewußtsein daran zu gewöhnen, sie als solchen zu betrachten. Der christliche Staat macht diese Formen selbst zu einem bloßen Schein, zu dem, was sie sind.

Obwohl er endlich weiß, daß wir uns von allen seinen kirchlichen und polizeilichen Voraussetzungen befreit haben, daß wir aus dem Zustand der Unmündigkeit herausgetreten sind und seiner kirchlichen und staatspolizeilichen Mittler und Schutzengel nicht mehr bedürfen, so hält er uns dennoch im Zustand der Unmündigkeit zurück, erlaubt uns nicht, uns als eine Gemeinschaft zu assoziieren, die innerlich frei von allen kirchlichen Voraussetzungen nur der noch vorhandenen Gewalt weicht, wenn sie sich den kirchlichen Zeremonien unterwirft, und jeder verfassungsmäßige Weg, unsere mißliche Lage darzustellen und auf ihre Aufhebung anzutragen, ist uns abgeschnitten.

Schadet nichts! Die Assoziation würde unserer Sache nur den falschen Schein einer Privatsache geben, während sie doch die Sache der ganzen folgenden Geschichte ist, und die Unmöglichkeit, mit einer Regierung zu unterhandeln, der Umstand, daß einem Prinzip auch nicht durch einzelne Zugeständnisse genug getan werden kann, ist nur ein Beweis, daß es sich um eine neue Gestalt aller öffentlichen Verhältnisse handelt und daß die Weltgeschichte einen völligen Bruch mit dem Alten beabsichtigt. Der Staat tut alles, was er nur tun kann, um diesen Bruch recht gründlich, vollständig und zerreißend zu machen, wenn er selbst diejenigen, die seiner religiösen Grundlage und Theorie längst entwachsen sind, als Unmündige betrachtet und sie als solche zu behandeln nicht aufhört. Die Bevormundung wird dadurch zu einem bloßen Schein herabgesetzt und ist bereits zum bloßen Schein geworden, da die Theorie der Bevormundeten der Theorie der Bevormundenden in der letzten Zeit vollständig über den Kopf gewachsen ist. Die Theorie, die uns über unser Wesen aufgeklärt und uns den Mut gegeben hat, wir selbst zu sein und unser Wesen uns wieder anzueignen, hat den christlichen Staat zu einem wesenlosen Schein gemacht.

Die Theorie, die uns so weit geholfen hat, bleibt auch jetzt noch unsere einzige Hilfe, um uns und andere frei zu machen. Die Geschichte, über die wir nicht gebieten und deren entscheidende Wendungen über die absichtliche Berechnung hinausliegen, wird den Schein stürzen und die Freiheit, die uns die Theorie gegeben hat, zur Macht erheben, die der Welt eine neue Gestalt gibt. Der Austritt aus der Kirche ist ein Unding, Verhandlungen mit der christlichen Macht sind unmöglich, die Kritik ist die einzige Macht, die uns über die Selbsttäuschungen des Bestehenden aufklärt und uns die Überlegenheit gibt, und die Geschichte wird für die Krisis und ihren Ausgang sorgen.

12. Anhang

Vanini erklärte, daß ein Strohhalm ihm genüge, um das Dasein Gottes zu beweisen.

In derselben Weise, aber doch mit einem ganz andern Rechte, da ein ganz anderer Erfolg für mich spricht, kann ich sagen, daß ich aus einem Strohwisch, der sich mir etwas aufdringlich in meinem Wege entgegenstellen wollte, das Wesen der jetzigen Theologie deduziert habe. Herr Gruppe war so geschwätzig, daß er alle Wendungen verriet und vorbrachte, die den jetzigen Theologen noch zu Gebote stehen, wenn sie die Kritik vernichten wollen.

Ich bin überzeugt, daß Herr Gruppe über die Ehre, die ich ihm damit angetan habe, daß ich aus seinen Orakeln soviel Wesens gemacht habe, nicht zu stolz werden wird. Seine Bescheidenheit haben wir bereits hinlänglich kennen gelernt, und sollte er sich dennoch überheben wollen, so wird, um die Sache wieder ins Gleiche zu bringen, von meiner Seite die wiederholte Bemerkung hinreichen, daß es nur zufällig war, wenn ich gerade Herrn Gruppe über das Wesen der Theologie befragte, und daß jeder andere Strohwisch mir dieselben Geheimnisse verraten konnte. So bescheidenen Gegnern gegenüber muß man nämlich aufrichtig eingestehen, daß man vorher nichts vom Wesen der Theologie verstand und ohne ihre Eröffnungen noch diesen Augenblick im Finstern tappen würde.

Da wir aber nun einmal so glücklich sind und über alles die genügendsten Aufschlüsse erhalten haben, so wäre es höchst gleichgültig für die Sache, wenn man uns Schiffsladungen von Stroh zusenden oder uns mit Stroh überschütten wollte. Ein Halm sagt uns nicht mehr als der andere; ein Wisch ist nicht klüger als der andere.

Meine Arbeit – ich muß es gestehen — ist sogar darauf angelegt, daß sie jede neue Zufuhr von theologischen Bekenntnissen überflüssig machen, als überflüssig darstellen und im voraus und für immer ihre Würdigung enthalten soll. Ich habe gewonnen. Ich wollte zeigen, daß die Kritik allein, daß nur die Kritik die ganze Angelegenheit übersieht und beherrscht, daß sie allein die Kollision richtig darstellen und lösen kann, daß von theologischer Seite her nichts gesagt und vorgebracht werden kann, was die Kritik nicht richtiger und sie allein richtig sagt: Alles das habe ich nun auch in der Weise gezeigt, daß ich meine Schrift schrieb, ohne die Herausgabe der Fakultätsgutachten abzuwarten. Ich habe diese Gutachten im voraus gewürdigt, und die letzte Würdigung lasse ich ihnen jetzt angedeihen, indem ich über sie schweige. Nach der umfassenden Darstellung des Gegensatzes, die ich in meiner Schrift nun gegeben habe, fallen sie in ihrer theologischen Dürftigkeit, Schwäche und Verworrenheit zusammen, sie bringen nichts vor, was ich nicht in der Darstellung des Gegensatzes schärfer und reiner gesagt, und sie stellen keine Anklage auf, die ich nicht bereits widerlegt haue.

Indem die Gutachten erscheinen, befindet sich mein Werk schon seit längerer Zeit unter der Presse, und sie erscheinen gerade noch zur rechten Zeit, damit ich es anhangsweise aussprechen kann, daß ich sie bereits gewürdigt habe.

Was ich in Betreff ihrer zu tun habe, wird nur in einer kurzen Charakteristik des Verhältnisses bestehen, in welchem sie nicht etwa zu meinen kritischen Arbeiten oder zur Kritik überhaupt – denn alles das ist, wie gesagt, bereits abgemacht –, sondern gegenseitig zueinander stehen.

Wenn es sich zunächst fragt, welches Gutachten meine Arbeit am richtigsten aufgefaßt habe, so ist die Antwort: das zweite der beiden Gutachten, welche die Fakultät zu Greifswald abgegeben hat. Dieses Gutachten, dessen Verfasser, wie man aus der Schilderung der Parteien der Hegelschen Schule sieht, durch die Posaunentöne sich bereits haben warnen lassen, stellt die Sache richtig so dar, daß ich das Christentum nur als etwas zu Negierendes betrachten kann, es erklärt geradezu, daß ich „nicht in Unbesonnenheit, sondern im Ernst der Konsequenz die gesamte christliche Theologie tödlich bekämpfen muß“, und es gibt zu, daß ich deshalb, weil ich erst die wahre Erklärung des Christentums zu geben überzeugt bin, in dieser Erklärung die Verherrlichung desselben zu bewirken meinen muß (p. 116, 117, 118, 133). Dieses Gutachten widerlegt also dasjenige, welches die andere Hälfte der Greifswalder Fakultät abgegeben hat, dessen Verfasser in der Selbsttäuschung leben, daß „Mensch und Gott“, Religion und Denken in der mittleren Religion des sogenannten „Geistes“ sich versöhnen, und auch von mir behaupten, daß meine Weltanschauung eine christliche, dem Christentum nicht feindselige sei, wenn ich auch oder gerade deshalb weil ich das Positive, Gegebene, den Buchstaben, die äußere Geschichte oder wenigstens deren Überlieferung in den Geist aufhebe. Das zweite Greifswalder Gutachten ist auch diesem ersten ausdrücklich entgegengesetzt und widerlegt es Schritt vor Schritt mit entschiedenem Glücke.

Das Bonner Gutachten gibt eine fleißig gearbeitete, genaue und ruhig gehaltene Zusammenstellung der Resultate meiner Kritik und sagt von denselben, daß sie „einen schreienden Gegensatz mit dem Wesentlichen des Glaubens bilden“. Die Königsberger Fakultät erklärt zwar, „auf Grund der (damals noch) unvollendet vorliegenden Schrift darüber, wie ich zur ursprünglichen und wesentlichen Substanz des Christentums stehe, kein entscheidendes Urteil fällen zu können“, aber leichter scheint es ihr gewesen zu sein, zur Einsicht zu kommen oder (was in theologischen Verhandlungen auf dasselbe hinauskommt) es überhaupt nur auszusprechen, daß meine Kritik – (als ob dann ihr Verhältnis zum Christentum noch dunkel sein könnte) – „grund- und maßlos sei, sich von aller Apologetik losgesagt habe und in unwissenschaftlicher Absichtlichkeit nur im Niederreißen aller evangelischen Geschichte ihre Befriedigung finde“.

Wenn jede Fakultät sich eigentümlich benommen hat, die Greifswalder nämlich sich in ihrer Gesamtheit würdig verhalten, in ihrer einen Hälfte ein liebenswürdiges Wohlwollen gegen mich bewiesen, in ihrer andern Hälfte (die sich in dem zweiten Gutachten, Anlage B., ausgesprochen) ein der Höhe der Frage entsprechendes Bewußtsein – wenn auch immerhin in theologischer Form – gezeigt hat, wenn die Bonner Fakultät mit philologischer Genauigkeit die Resultate meiner Schrift zusammenstellt, wenn in dem Königsberger Gutachten der theologische Wirrwar sich schon vernehmen läßt, so wird er übermäßig laut in dem Hallischen Gutachten, welches außerdem noch den eigentümlichen Ruhm hat, daß es vollkommen und bis zum niedrigsten Grade gemein ist. „Ew. Excellenz (so beginnt dieses Votum nach dem Geschäftseingange) haben selbst schon geurteilt, ‚daß die in der Schrift des B. Bauer hervortretenden Ansichten das Wesentliche und den eigentlichen Bestand der christlichen Wahrheit in ihrem innersten Grunde angreifen’, und die Fakultät kann diesem Urteil.....nur beitreten.“

Die in jedem Sinne devote Fakultät hält es dabei – und mit Recht, denn der Devote darf nicht räsonnieren – „weder für nötig noch für geeignet“ – welches Wort! was das nur hier heißen mag! – sich genauer auf meine Schrift einzulassen. Dennoch, obwohl ich „das Wesentliche und den eigentlichen Bestand der christlichen Wahrheit angreife“, dennoch kommt die teure Fakultät, nachdem sie, statt mein Buch zu studieren und seine Methode zu entwickeln, eine nichtssagende theologische Chrie über etwas, was not tut, und über manches andere noch hingekritzelt hat – ja da kommt die hochwürdige Fakultät zu dem Resultat – oder nicht Resultat, sondern zu dem Einfall – denn alles ist hier Einfall –, daß „ich als ein solcher zu betrachten sei, der noch innerhalb des Christentums stehe, und daß man über den Grad meiner Heterodoxie (— ich bin nur ein Ketzer, nicht ein Anhänger des Antichrists, der den Bestand der christlichen Wahrheit usw. – ) aus dem vorliegenden ersten Band meiner Schrift noch kein vollkommen sicheres Urteil fällen kann“ (p. 151). Daß die Fakultät nach dem gehörigen Zwischenraum – d. h. nachdem sie wieder über das Eine, was not tut, und über manches andere eine herrliche Chrie gegeben hat – eines ganz andern Einfalls sich zu erfreuen hat, werden wir bald sehen. Zunächst bemerke ich nur noch, daß sie Sorge getragen hat, die Gemeinheit ihrer Gesinnung, die Schärfe ihrer Urteilskraft, das Bündige ihrer Schlußfolgerungen und die Klarheit ihres Verstandes sogleich im Eingange ihres Gutachtens zu erkennen zu geben, wenn sie versichert, sie glaube die ihr vorgelegten Fragen mit um so größerer „Unbefangenheit“ beantworten zu können, „je weniger eins ihrer Mitglieder der Philosophie zugetan sei, von deren Prinzipien die Kritik des Licentiaten Bauer ausgeht“ – o ihr Heuchler! Hättet ihr nicht vielmehr fragen sollen, ob nicht mehrere und wie viele der beschränktesten Gegner dieser Philosophie unter euch sitzen? Ob ihr nicht alle Gegner derselben seid?

Wenn ich dem Breslauer Gutachten den Ruhm der liederlichsten Verworrenheit – es urteilt über mein Buch ungefähr so wie Herr Gruppe – zugegeben habe, muß ich noch der Berliner Fakultät die pflichtschuldige Erklärung geben, daß sie die tiefste Ignoranz über den Standpunkt meiner Kritik verraten habe. Das Gutachten, das sie abgegeben hat, steht, wenn der wissenschaftliche und sittliche Maßstab angelegt wird, am niedrigsten. Es spricht in den gewöhnlichen Berliner und Neanderschen Phrasen, wie „Pantheismus, Allegorie“ usw. – als ob die Welt noch dieselbe wäre wie vor zehn Jahren, als ob nicht die Phrasen, die Herr Neander bis zum Überdruß wiederholt hat, eben durch die neuere Kritik um alle ihre Bedeutung – d. h. auch um die geringe Bedeutung, die sie im Munde eines Theologen haben – gebracht wären. In einem Gutachten nun, dessen Verfasser nur von dem Schreckbilde des Pantheismus und der allegorischen Erklärung träumen, wird über mein Buch abgeurteilt, über ein Buch, welches gerade darein sein Verdienst setzt, daß es jene Gespenster vertrieben hat! Das heißt doch wissenschaftlich, das heißt doch sittlich!

Doch dieses Gutachten ist so armselig, daß es selbst zuviel gesagt wäre, wenn ich sagen wollte, es urteile über mein Buch auf eine leichtsinnige und unbesonnene Weise ab: es urteilt gar nicht, sondern es kreischt wie ein altes, in Angst und Wut gesetztes Weib, welches den unreinen Geist vor sich zu sehen meint, ein Glaubensbekenntnis in der rohesten Form her: es schreit: „der christliche Glaube geht von historischen Tatsachen aus“ – als ob damit die Sache abgemacht, als ob nicht vielmehr zu erklären wäre, ob dieser sein Ausgangspunkt, der Punkt, von dem er auszugehen meint, trotz der hochbeteuernden Versicherung der Berliner oder aller Fakultäten, nicht bloß eine Vorstellung ist – es schreit: „nach meiner Arbeit bleibe es nur der Willkür überlassen, was von dem historischen Christus noch gehalten und wozu er gemacht werden soll“ – als ob die Kritik nicht den Beweis liefere, daß dieser historische Christus . . . . doch wozu das alles noch einmal sagen! – es jammert: ich könnte mit meiner Kritik und deren Resultaten „nicht die Schwachen trösten“—und die Kritik ist es eben, die der Feigheit, Mutlosigkeit, Schwäche und Erbärmlichkeit ein Ende machen wird. In der beschränkten Wut des Berliner Votums hat der wahre Geist nämlich der Tiergeist der Theologie sein Urteil abgegeben.

Die Fakultäten beantworten nun die zweite Frage, die das Ministerium ihnen gestellt hat, die Frage, ob in der theologischen Fakultät und an der Universität überhaupt meines Bleibens noch sein könne.

Das zweite Greifswalder Gutachten hat die Antwort fast vollständig gegeben – seine Verfasser haben nämlich richtig gesehen, daß es auch die Frage ist, ob ich überhaupt an einer preußischen Universität bleiben könne – und es hat die Sache so rein gefaßt, wie es auf dem theologischen Standpunkte möglich ist. Ich muß nach seinem Urteilsspruch aus der theologischen Fakultät entfernt werden, da ich nach meinem Prinzip das Christentum nicht anders als auflösen kann, und „ob mir in einer andern als der theologischen Fakultät die Erlaubnis zu lesen zu verstatten sei, das würde (- unter anderm – ) von der Frage abhängen, wie das neue Prinzip des freien Selbstbewußtseins zur Entwicklung des Staatslebens überhaupt sich verhalte“ – einer Frage, die von dem Gutachten nicht beantwortet wird, deren Beantwortung aber, wie man aus meiner obigen Abhandlung sehen wird, ich durchaus nicht scheue. Wenn aber die Verfasser dieses zweiten Votums auf meine Entfernung aus dem Verbände mit der theologischen Fakultät antragen, so haben sie die Frage nur in dem Sinne des Ministeriums, des christlichen Staats und der christlichen Theologie, aber nicht als die Frage beantwortet, wie sie von der Geschichte und von der Menschheit gestellt wird. Wenn sie endlich sagen, die Aufgabe der theologischen Fakultät sei eine „wissenschaftliche und religiöse“, so haben sie damit zwar die Kollision bezeichnet, deren Lösung die Welt jetzt endlich verlangt, aber wahrlich nicht gelöst, wenn sie auf meine Entfernung aus dem Verbände mit der Fakultät antragen.

Ich habe aber die Kollision richtig gestellt und gelöst, und aus meiner Darstellung mögen sich die Verfasser dieses zweiten Greifswalder Gutachtens sowie die Glieder der Bonner Fakultät eines Bessern belehren; die letzteren wollen meiner nämlich auch los sein, obwohl sie die freie Forschung der theologischen Fakultät, wie wir schon früher erfahren haben, auch gewahrt wissen wollen.

Die Breslauer Fakultät erklärt, ich müsse vom Katheder entfernt werden, da die Regierung „niemand durch öffentliche Anstellung zur Widerlegung des christlichen Glaubens autorisieren könne“. – Diese Fakultät straft also die Verworrenheit ihres Gutachtens selbst, wenn sie das ein Mal meine Beweise willkürliche Voraussetzungen nennt und nachher so spricht (und sie hat Recht, wenn sie so spricht), als ob mich als Lehrer auf dem Katheder lassen so viel heiße, als mich zur Widerlegung des Christentums autorisieren. Die Forschung freigeben heißt die Auflösung des Christentums freigeben, denn die Erkenntnis der religiösen Prätentionen des Christentums ist seine Auflösung, die Auflösung aller Religion.

Wie der wahre Theologe, d. h. der Fanatiker, der, wenn er noch Macht hätte, den Scheiterhaufen sogleich anzünden würde, mit tierischer Begierde im ersten Teile des Berliner Gutachtens gebrüllt hatte: ich kenne meine Bedürfnisse, ich will das Reale, das Biblisch-Massive, ich will eine Tatsache, ich will abhängig sein, so heult er im zweiten Teil desselben Gutachtens: ich will Freiheit, ich will Freiheiten, ich will alle Freiheiten, aber nur für mich, nur für meine Bedürfnisse und deren Befriedigung, aber nicht die Freiheit, die allgemeine und wirkliche Freiheit ist, nicht die Freiheit, die einem Forscher wie Bauer Recht sein sollte; d. h. ich will die Unfreiheit, Bauer muß so schnell wie möglich vom Katheder herunter! Herunter mit ihm! – Der Tiergeist, der in diesem Gutachten die Sprache gewonnen hat, rast und heult. Der theologische, der Glaubenseifer hat endlich einmal wieder seinen wahren Ausdruck gefunden. Ich würde sagen, man müsse das Berliner Gutachten auf den Leichenstein schreiben, den die Zeit der Theologie bald aufrichten wird, wenn es nicht selbst dieser Leichenstein wäre. Es bleiben noch die Gutachten übrig, die sich gegen meine Entfernung vom Katheder ausgesprochen haben.

Vor allem ist das Separat-Votum zu erwähnen, in welchem sich Herr Middeldorpf gegen das Gutachten seiner Kollegen in Breslau ausspricht. Er ist unbedingt dafür, daß ich in meiner akademischen Wirksamkeit belassen werde, er spricht sich durchweg würdig und männlich aus und täuscht sich nur darin, daß er meint, „wenn man der Wissenschaft die Wissenschaft zum Kampfe gegenüberstellt, sei der Sieg des Christentums immer im voraus entschieden“.

Mit besonderem Wohlwollen hat sich das erste Greifswalder Gutachten meiner angenommen; es „besorgt keine Gefahr, wenn mir auch die Theologie zu lehren gestattet bleibe“ – aber leider! kann ich seine Hilfe auch nicht annehmen, da es sich täuscht, wenn es meint, die Kritik bringe dem Christentum als einer religiösen Satzung keine Gefahr.

Noch weniger darf ich den Succurs annehmen, der mir von Königsberg aus zugeschickt wird. Ich sollte es im Bewußtsein meines absoluten, meines geschichtlichen Rechts annehmen, daß ich mit meiner Kritik als eine „allerdings extravagante Einseitigkeit in dem Gesamtkörper der betreffenden Fakultät geduldet werde“?

Von den Fakultäten kann ich nichts annehmen, weil sie, was sie mir geben wollen, nur als Gnade, ja nur als gnädige Nachsicht gegen meine „willkürlichen, extravaganten, extremen Voraussetzungen, Irrtümer und Verwirrungen“ schenken würden und auch nur schenken könnten.

Man hat es (nach den öffentlichen Blättern) herausklügeln wollen, daß die Mehrzahl der Gutachten zu meinen Gunsten laute. Allein gerade diejenigen Gutachten, die sich für mich aussprechen, muß ich, wenn ich, wie es nicht anders sein kann, meiner Pflicht folgen und im Interesse meiner Arbeit und Aufgabe handeln will, mit Protest zurückweisen. Mit Verachtung aber das Hallische Gutachten. Daß es im Kreise dieser Gutachten den Standpunkt der Gemeinheit einnimmt, habe ich gezeigt, und leider bleibt mir noch die widerliche Aufgabe, zu zeigen, wie es sich zum Schluß mit großer Geschäftigkeit auf diesem Standpunkt ergeht. Obwohl es erklärt, daß es bis jetzt „noch kein vollkommen sicheres Urteil über den Grad meiner Heterodoxie“ für möglich hält, so hält es dasselbe Gutachten doch für möglich, zu erklären, daß ich „in einem prinzipiellen Widerspruch zur Kirche stehe und daß deshalb meine akademische Wirksamkeit an einer theologischen Fakultät nicht förderlich, sondern nur nachteilig sein könne“.

Dennoch ist es eben derselben Fakultät, die mich wegen meines prinzipiellen Widerspruchs gegen die Kirche vom Katheder verwiesen wissen will, wiederum möglich, zu erklären, daß sie Bedenken trage, ob es ratsam sei, gegen mich einzuschreiten. Und was sind das für Bedenken, die ihr auf einmal die Gefahr, mit der ich die Kirche bedrohe, in Vergessenheit bringen? Abgesetzt, meint die hochwürdige Fakultät, würde ich „durch keine amtliche Verpflichtung und keine bürgerliche Rücksicht zurückgehalten“, wenn ich etwa Lust bekommen sollte, das Christentum anzugreifen. Als ob ich nicht in die Posaune gestoßen und meine Schriften geschrieben hätte, während ich allerdings amtliche Verpflichtungen hatte! – als ob ich nicht meine Schriften allesamt geschrieben und ihren Inhalt auch auf dem Katheder entwickelt hätte, weil ich nur so, wie ich schrieb und lehrte, allen meinen Verpflichtungen gewissenhaft nachzukommen die Überzeugung hatte!

Aber die Herren meinen, ein Ämtchen und ein Käppchen und jährliche Gehaltserhöhung und Gehaltszulage seien die wahren Mittel zur Aufrechterhaltung des Christentums. Ferner meinen sie, wenn ich „bestraft“ würde – man höre! „bestraft“! – „bestraft!“ – wo ist der Richter, der mich „bestrafen“ kann? – Die Geschichte wird urteilen, wer mich „bestrafen“ kann, sie wird das Wort nicht vergessen und zur rechten Zeit „bestrafen“ – wenn ich also „bestraft“ würde, so würden meine Schriften „mehr gelesen“ als bisher. Verdienen sie denn aber nicht gelesen zu werden? Müssen sie nicht gelesen werden? Müssen nicht eure Schriften einer baldigen und ewig währenden Vergessenheit anheimfallen? Die Zeit ist nicht mehr fern, wo man von euern Namen und Schriften nichts mehr wissen würde, wenn man von ihnen aus meinen Schriften nichts erführe. Das ist also der Dank, den ihr mir in voraus abstattet? Doch ich erwarte von euch nichts und will von euch nichts, und was ihr mir geben wollt, weise ich mit Abscheu zurück.

Auf der einen Seite des Leichensteins, der das Grab der Theologie bezeichnet, wird das (ohnehin sehr kurze) Berliner Gutachten stehen; auf die andere wird man einen Auszug aus demjenigen der Haller Fakultät eingraben. Ein würdiger Grabstein!

Mögen unter ihn nur erst auch alle andern Lasten abgeworfen sein, von denen die Menschheit bisher zu Boden gedrückt wurde.



Zuletzt aktualisiert am 20.5.2009