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Theologische Schamlosigkeiten: Deutsche Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst, hg. v. Arnold Ruge, Dresden 1841, Nr. 117-120 (15. November-18. November), S. 465-479.
Abgedruckt in Bruno Bauer, Feldzüge der reinen Kritik, Nachwort von Hans-Martin Sass, Frankfurt/M, Suhrkamp Verlag, 1968, S. 7-43
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Eine Religion, welche die Selbstverleugnung zu dem ersten ihrer Gebote erhoben, hat die Stufe ihrer Vollkommenheit erreicht, wenn sie ihre Bekenner zu der Kühnheit begeistert, daß sie das Menschliche überhaupt, die Pflichten der Menschlichkeit, die Sittlichkeit, die Freiheit, die Vernunft verleugnen und zur Ehre des Glaubens aufopfern. Die religiöse Selbstverleugnung ist erst realisiert, wenn Familie, Staat, Kunst und Wissenschaft, also alle Schöpfungen des freien Geistes, alle diese Güter und Zierden der Menschheit der Vorstellung der himmlischen Welt aufgeopfert werden. Von diesem Standpunkte aus werden die Tugenden der Heiden als glänzende Laster gelästert, ihm gilt die Philosophie als Torheit, ihm erscheinen die Tugenden der Revolution als lächerliche Narrheit, ihm erscheint alles Menschliche, sobald es sich in seiner Reinheit und Selbständigkeit konstituiert und entwickelt, als verrückt, wie es denn nicht anders sein kann, als daß denen, die von vornherein nach dem Ruhm der Narrheit trachten und ihren Kopf sich selber abschlagen, alle diejenigen, die ihren Kopf behalten wollen und sich auf ihre eigenen Füße stellen, als Toren, Frevler und Unmenschen erscheinen. Natürlich, dem Sklaven graut vor der Freiheit, dem Unmenschen vor der Menschlichkeit, dem Verrückten vor der Vernunft, dem Bewohner der verkehrten Welt vor der Welt der Wahrheit, der Ordnung, der Sittlichkeit. Man nennt die Zeiten vor der Aufklärung und Revolution die guten alten Zeiten des Glaubens, als ob der Glaube gegenwärtig seine Kraft verloren hätte oder überhaupt nicht mehr vorhanden wäre. Sehr mit Unrecht! Jetzt ist vielmehr die wahre Zeit des Glaubens angebrochen und das religiöse Bewußtsein zu der Vollendung gekommen, deren es überhaupt fähig ist. Kann das wohl der wahre unverfälschte Glaube genannt werden, war das wohl die wahre, einfache und ungetrübte Religiosität, wenn man früher nicht nur die ausführlichsten Systeme der Glaubenslehre schuf und sie bis in das Einzelnste der subtilsten Bestimmungen mit außerordentlicher Genauigkeit ausarbeitete, sondern auch die Philosophie benutzte, um die Dogmen zu verteidigen und zu entwickeln? War das Glaube, wenn man sich die Mühe nahm, den Gegner nicht nur ernstlich zu bekämpfen, sondern auch seine einzelnen Argumente zu widerlegen? Das wäre in der Tat religiös gewesen, wenn man die himmlische Wahrheit in tausend Quästionen, Distinktionen und dergleichen weltlichen Rubriken zerlegte und sogar so weit ging, jedes Dogma mit zahllosen dubiis in Streit zu versetzen und mit diesen Bedenken des Zweifels dann auszugleichen? Und nun gar die Verachtung der Welt, die Verleugnung der Wirklichkeit und Vernunft! Schöner Heroismus, wenn man so genau wüßte, wie die himmlische Welt beschaffen sei und welche Güter und Genüsse in dieser des Gläubigen warteten! Frivol, weltlich und gebildet müssen wir die Zeit des guten alten Glaubens nennen, wenn wir sie mit der Vollendung der Religiosität vergleichen, die in unserer Zeit erreicht ist. Das ist erst der wahre Glaube, wenn er nicht mehr weiß, was er glaubt, wenn er alles Wissen, diesen Teufel der Bosheit, von sich ausgetrieben hat, wenn er Glaube als solcher ist und als Glaube, als das reine Nichts des Wissens der Wissenschaft sich entgegensetzt. Die reine inhaltslose Beschränktheit und Verleugnung der Vernunft muß der Glaube sein, wenn er mit dem rechten Erfolg der Ausdehnung, Ausweitung und dem Hochmut des Wissens sich widersetzen will. Und wie allein kann er glücklich kämpfen? Er muß der reine, inhaltslose, unbestimmte Kampf sein, und beileibe nicht auf die Bestimmtheit des Gegners oder gar auf seine wirklichen Gründe und Beweise sich einlassen. Jeder bestimmte Inhalt wäre eine Entnervung des Glaubens, jeder wirkliche Kampf gegen Kritik und Wissenschaft ein Verrat am Glauben. Kaum der Worte bedarf es gegen die Wissenschaft, der höchste Überfluß ist eigentlich schon ein Schimpfwort; der Wille, die Absicht, die reine Opposition ist genug, und um diese Opposition auszudrücken, um den Haß, den Abscheu, die Verachtung zu erkennen zu geben, reicht es hin, daß das Auge des Gläubigen leuchtet und seine Gesichtszüge in jene Falten sich legen, die einem Inquisitor geziemen. Wenn die Beschränktheit, Dummheit und Bettelarmut gegen das Wissen in den Kampf tritt, dann erst hat der Glaube seine rechte Kühnheit erreicht, dann ist es für ihn Ruhm und Gewinn zu siegen. Seinen wahren Heroismus endlich wird der Glaube dann offenbaren, wenn er nicht mehr weiß, ja nicht einmal wissen will, wie es jenseits aussieht und der himmlische Staat konstituiert ist, wenn er vielmehr mit dem bloßen Gedanken des Jenseits über die Frechheit des Selbstbewußtseins, welches hier auf dieser Erde sein Reich begründen will, sich erhebt und im Namen einer unbekannten Welt die Welt der Vernunft und Sittlichkeit verdammt. Wenn es so weit gekommen ist – und jetzt ist es so weit gekommen –, daß der Glaube und die Religiosität die reine Beschränktheit als solche geworden sind, die ihrer Inhaltslosigkeit alle menschlichen und sittlichen Mächte aufopfert, dann ist der Glaube vollendet, und eben seiner Vollendung wegen wird er nichts dagegen haben – er würde sonst seine Pflicht der Selbstverleugnung selbst wieder verleugnen –, wenn wir sein Verhalten gegen Vernunft und Wissenschaft Frechheit und Verrücktheit nennen. Leider aber kann selbst dieser so vollendete Glaube in seiner Reinheit nicht bestehen. Nicht genug, daß er sich die eine Bestimmtheit, menschlich zu sein und Menschen anzugehören, nicht nehmen kann: – er ist auch eifrig, ungeduldig, voreilig. Als menschliche Bestimmtheit muß er sich aussprechen, und sein Eifer treibt ihn noch mehr an, sein Mienenspiel in Worte auszudrücken. Der Haß, der aus seinen Augen leuchtet, setzt die Zunge in Bewegung, und die Wut, die seine Gesichtszüge verzerrt, läßt ihm keine Ruhe, bis er nicht poltert, zetert, tobt und anklagt. Das ist sein Unglück, aber ein Unglück, welches ihm notwendig widerfahren muß, solange er nicht die letzten Reste der Menschlichkeit vernichtet hat. Es ist sein Unglück, daß er alle seine Konsequenzen entwickeln, alle Erscheinungsformen des religiösen Bewußtseins an den Tag bringen muß. Er ist menschlich, die von Menschen ausgehende Verleugnung der Menschlichkeit: also findet kein Stillstand statt, bis nicht die ganze Unmenschlichkeit des Menschen sich offenbart hat.
Das wollen wir dem modernen Gläubigen nicht zum Vorwurf machen, daß er in der menschlichen Gesellschaft verweilt und deren frei geschaffene Güter sich zunutze macht. Auch in Klöstern oder in Wüsten würde er der Menschlichkeit nicht entgehen können. Das aber ist schon sein erstes Versehen und der Grund zu seinem Falle, daß er es überhaupt wagt, die Werke des Teufels in Augenschein zu nehmen und Schriften, die doch notorisch vom Bösen sind, zu lesen. Da er einmal das Selbstbewußtsein aufgegeben und die wache Menschlichkeit in das Traumleben seines dumpfen Inneren zusammengezogen, d. h. sich dem Zustande des Somnambulen hingegeben hat, so sollte er es jedem Dinge anriechen oder ansehen, ob es heilig oder profan ist, und der Geruch oder der somnambule Blick sollte ihn sogleich bewegen, das Unheilige zu meiden und zu verabscheuen. Sein Vorwitz treibt ihn dennoch an, philosophische und kritische Schriften zu lesen. Welches Unglück! Einmal in den Kreis des Menschlichen und der Vermittlung hineingezogen, kann er nicht mehr zurück! Er will doch sein Urteil, d. h. seinen Abscheu, seinen Ingrimm – und wem? er will Menschen, die doch nicht nur auf den Geruch angewiesen sind, seine Meinung zu erkennen geben. Und was geschieht? Er spricht! Nein, er schimpft und rast. Er nennt es, Zeugnis von der Wahrheit ablegen: wir nennen es Schamlosigkeit und Unredlichkeit, von der Beschränktheit und Dummheit Profession zu machen und dennoch sich auf Werke einzulassen, die Entwicklungen, Beweise und Begründungen liefern. Unredlich ist es, wenn die mit Willen und Bewußtsein Beschränkten denen, die aus Furcht oder durch Verführung, oder sie wissen selbst nicht wie, Beschränkte sind, vorreden und zuschreien, daß wissenschaftliche Werke widerlegt sind, wenn sie als ungläubig bezeichnet sind. Man merke wohl! Für den Glauben ist ein Werk widerlegt, wenn es als ungläubig bezeichnet ist; aber es handelt sich nicht nur um die Gläubigkeit, sondern um die Wahrheit und Richtigkeit von Untersuchungen, die allein dadurch widerlegt werden sollen, daß man sie als ungläubig proskribiert. Der Glaube, wenn er einmal vorwitzig und unehrlich genug geworden ist, sich auf dergleichen Untersuchungen einzulassen, hat den Mut verloren, sich auf die Absurdität seiner Sätze zu steifen: seine Sätze sollen auch vor den Menschen wahr und richtig sein, und die Wahrheit der weltlichen Untersuchungen und der Kritik kann er doch nur in der Weise stürzen, daß er sagt, sie seien ungläubig. Ist er nun einmal so weit gegangen, daß er überhaupt liest und spricht, so zieht es ihn unaufhaltsam weiter; er muß den Versuch machen, auch zu begründen und zu beweisen. Da aber sein heiliger Wille und das Dekret desselben schon von vornherein feststeht, so darf und kann er nicht beweisen, denn durch alle Seiten der Sache hindurchgeführt, würde der Beweis zu den Bestimmungen des Gegners führen, der Beweis bleibt daher nur scheinbar, und aus der Vermischung des Weltlichen, welches im Beweis geltend gemacht werden soll, und des Heiligen, welches den Beweis schlechthin verbietet, entsteht die Heuchelei, die in ihrer Durchführung in Niederträchtigkeit und vorsätzlicher Lüge endet. Der Beweis, der anfangs unmittelbar scheinbar wurde, wird aus Absicht nur scheinbar, und das Ignorieren der Beweistümer des Gegners, welches anfangs der Unfähigkeit und Angst zur Last gelegt werden kann, wird am Ende vorsätzliche List und Absicht.
Das sind die Früchte des modernen, des in sich vollendeten Glaubens, und sie selbst wieder haben ihre Vollendung in der Schamlosigkeit, welche die letzte Frucht dieses Glaubens ist, die Frucht, in welche die ganze Kraft dieses Gewächses aufgegangen ist. Wenn sich der Vorwitz, die Unredlichkeit, die Heuchelei erhalten wollen, so bedürfen sie der Schamlosigkeit. Alle diese Glaubenstugenden haben sich in der neuesten Zeit vollendet, weil die glänzenden Laster des Heidentums durch die wissenschaftliche Kritik in einer höheren und furchtbarem Gestalt wiedergeboren sind. Der Gegensatz der Menschlichkeit und des Glaubens hat sich vollendet, und die Laster müssen es zu guter Letzt mit den Tugenden, von denen sie bisher unterdrückt und gelästert sind, aufnehmen. Den Vorwitz bekämpft das Laster der gründlichen Untersuchung und Kritik, die Unehrlichkeit muß von dem Laster der Unbefangenheit bekämpft werden, der Tugend der Heuchelei stellt sich das Laster der aufrichtigen Liebe zur Wahrheit entgegen, mit den Winkelzügen des Glaubens nimmt es die Konsequenz des Denkens auf, und die Tugend der Schamlosigkeit muß Gewalt leiden durch das terroristische Laster der Rücksichtslosigkeit. Die Welt ist verkehrt worden, was sich bisher als Tugend geltend machte und herrschte, wird von dem Laster gestürzt. Die Schamlosigkeiten, welche der moderne Glaube begeht, sind zahllos. In Schriften, in Katheder- und Kanzelvorträgen, in Zeitungen, politischen wie Kirchenzeitungen, in Literatur-Zeitungen, kurz überall, wo nur der Glaube reden und schreiben kann, werden die Schamlosigkeiten zu Tausenden begangen. Wer sie aufzählen und in ihre Gattungen und Arten klassifizieren wollte, der würde – aber es muß einmal zu dieser Klassifikation der Tierwelt des Glaubens kommen – sein ganzes Leben daran wenden müssen. Wir wollen für jetzt bloß einige wenige anführen, wie sie uns gerade in den Wurf gekommen sind und zur Charakteristik der Glaubenstugenden bedeutend schienen.
Die ausgebildete Unehrlichkeit und Heuchelei, Tugenden, die sich in der Bekämpfung der Kritik, sofern sie widerlegt werden soll, beweisen, erfordern eine ausgebildete Glaubenskraft und eine Kühnheit, die eben nur im Kampfe, aber im gelehrten Kampfe erworben wird. Diese Kühnheit ist aber auch in ihrer ersten Naturanlage anzuerkennen, wenn der Glaubensmut von vornherein gegen die Angriffe der Kritik sich auflehnt und frech erklärt, daß er recht habe, wenn er auch die bestimmten Beweise der Kritik nicht zu widerlegen verstehe. Ist nun dieser natürliche, also noch barbarische Mut schon Tugend, um wieviel höher muß er stehen und als soldier anerkannt werden, wenn er bewußter Vorsatz, Wille und Resultat der Bildung ist? Auf dieser Bildungsstufe des Glaubens steht die evangelische Kirchenzeitung. Die Männer, welche sie dirigieren, beschützen, begünstigen und mit ihren Beiträgen unterhalten, sind wahrhaft aufgeklärt – nämlich aufgeklärt in dem Sinne, daß sie die Finsternis der Vernunft, überhaupt die Vernunft, diesen Maulwurf, der nur das Dunkel liebt, vertrieben und verjagt haben – sie sind tief gelehrt und hochgebildet: in welcher Weise widerlegen sie also die Kritik? Nun eben so, daß sie ihren Feind gar nicht widerlegen. Jede Bekämpfung wäre eine Anerkennung des Gegners, wäre ein Bekenntnis, daß der Glaube als solcher nicht feststehe und daß sein Bestehen von dem Fall der Philosophie und Kritik abhänge. Der Glaube steht aber für sich selber fest, und seine Sicherheit würde vielmehr gefährdet werden, wenn man sich mit den kritischen Lästerungen viel zu schaffen machen wollte. Denn (Jahrgang 1841, Nr. 22, S. 173) „es ist allbekannt, daß man Meinungen, die man bekämpft, verbreitet“. Es gibt Schwache, die sich noch nicht zu diesem evangelischen Mut erhoben haben, Verstockte, die entschlossen sind, auf diese Art des Sieges Verzicht zu leisten, Unmenschen, die noch nicht diesen hohen Grad der Bildung erreicht haben, daß sie sich einbilden, gesiegt zu haben, wenn sie die Augen vor dem Gegner verschließen. Sie dürfen also gar nichts von dem Bösen hören. Universitätslehrer z. B. sind aber doch so unglücklich daran, daß sie zuweilen von den kritischen Arbeiten ihrer Gegner sprechen müssen. Wenigstens sind noch nicht alle zu dem Heroismus gelangt, daß sie stumm und sprachlos zu siegen meinen und die menschliche Wissenschaft in tierischer Weise zu widerlegen wagen. Auch für sie hat die evangelische Kirchenzeitung eine Auskunft gefunden. Sie sollen wenigstens nicht in der Weise sprechen, als ob an der Wissenschaft des Gegners etwas daran wäre. „Wenn man“, heißt es a. a. O. S. 176, „wenn man auf dem Katheder ohne innere sittliche Indignation, ohne ein Zeichen, daß der Sprechende (als ob es dann noch der Sprache bedürfte!) von innerstem, seelendurchdringendem Abscheu vor dem Frevel ergriffen ist, über die Philosophie und Theologie des Feindes herumredet – dann erkennt diesen Feind auch sein sog. Feind noch an.“ Aber auch hier zeigt es sich, daß alles, was von Überfluß ist, vom Bösen ist. Soll denn der Lehrer, wenn er stundenlang über den Frevel sprechen muß – und er muß es, denn die Widerlegung eines philosophischen Systems kann doch nicht das Werk von ein paar Minuten sein –, soll er dann immer und ohne Aufhören das nötige Feuer des Hasses in sein Auge legen, soll er stundenlang vor Abscheu zittern und seine innere Indignation in Mienen, Haltung und im Ton der Stimme zu erkennen geben? So meint es die brave Kirchenzeitung gewiß nicht! Ein einziger Blitz des Auges, ein Donner der Stimme, eine einzige Konvulsion des Leibes soll den Abscheu zu erkennen geben und den Gegner vernichten; denn viel und lange Zeit um einen Feind herumreden, hieße ja wieder ihn anerkennen. Also auf die Sprache, auf den Vortrag, auf das Raisonnement kommt es nicht an, sondern auf die Entrüstung, wie sie sich in der Haltung des Leibes zu erkennen gibt. Wer daher als Lehrer an einer Universität zugelassen werden will, hat sich nicht nach seiner wissenschaftlichen Tüchtigkeit zu bewähren, sondern – glückliche Zeit der Komödianten! – nach seiner Fähigkeit, das Auge rollen und glühen zu lassen, die Mienen zu verziehen und den Leib in Konvulsionen zu versetzen. Die höchste Forderung wäre die Gabe, die Stimme so zu modulieren, daß sie alle Empfindungen eines strafenden Engels, eines Höllenrichters und Inquisitors auszudrücken vermag. Aber wohl zu merken! nicht auf den Inhalt der Rede kommt es an — das hieße wieder wissenschaftliche Erörterungen fordern – sondern auf den Ton als solchen, auf den Klang der Klage, des Mitleids – nein, des Abscheus, des Hasses, der Indignation, auf den Donner der Vernichtung. Künftighin werden nur Augenverdreher, Gesichterschneider, Konvulsionäre auf den theologischen Kathedern sitzen. Vor dem Donner muß die Sprache verstummen, das glühende Auge überstrahlt das Licht der Wissenschaft, die Verdrehung des Leibes widerlegt die kritische Dialektik. Wehe dem Theologen, der noch zu sprechen wagt, denn die Sprache enthält leider noch gar zu viel abstrakte Bestimmungen, die an sich philosophisch zur Philosophie reizen. "Wir müssen von jetzt an streng darauf wachen – die Glaubenshelden werden uns dafür Dank wissen –, daß kein Theologe mehr einen Satz spricht oder schreibt, der allgemeine oder abstrakte Bestimmungen enthält. Nicht nur Worte wie Sein, Werden, Dasein etc. müssen ihnen von nun an untersagt sein, sondern alle Worte, denn alle, alle sind ja allgemein, da ist kein einziges unter ihnen, welches gläubig oder gottselig wäre. Die Sprache ist durch den Sündenfall entstellt, profan, gottlos, weltlich und unheilig geworden. Der Theologe darf nicht mehr sprechen. Das ärgste Wehe aber über den Theologen, der eine philosophische Vorlesung besucht, ein philosophisches Buch gelesen, einen philosophischen Gedanken gehabt hat. Hinaus mit ihm aus der theologischen Fakultät, herunter mit ihm vom Katheder! Die philosophische Fakultät muß selbst darüber wachen, daß niemand, der ihr Gift, sei es auch in noch so geringer Dosis, verschluckt hat, in die theologische eindringe, sie macht sich sonst dringend des Verdachts schuldig, daß sie es auf den Sturz des Glaubens abgesehen habe. Sie darf nicht schweigen, sie muß strenges Gericht halten und, wo sie nur ein philosophisches Wort aus theologischem Munde hört, sogleich den Frevler anzeigen oder, noch besser, ihm das Maul stopfen. Das ist ihre Aufgabe, wenn sie mit der Theologie in Frieden leben will. Der Theologe, der Gläubige, wenn er wirklich religiös bestimmt ist, darf nicht mehr sprechen. Einige Sekten – die Geschichte hat aber sehr gefehlt, wenn sie dieselben Sekten nannte – die wahren Träger der Kirche und Bekenner des Glaubens haben bereits das Unheil erkannt, welches dem Glauben von der Sprache zugefügt wird. Sie sprechen nicht mehr, wenn sie ihren Gott preisen und verehren wollen, sie tanzen vielmehr, sie verrenken ihre Gliedmaßen, rollen das Auge und versetzen sich in Konvulsionen. Sie haben Recht! Sie stehen auch höher als diejenigen Sekten, welche in unartikulierten Tönen ihren Glauben äußern, und diese lassen wieder die andern unter sich, welche zwar einsehen, daß die jetzige Sprache verderbt und gottlos ist, aber darin doch fehlen, daß sie ohne weiteres eine neue Sprache für ihren Kultus schaffen wollen. Als ob nicht die völlige Sprachlosigkeit zuvor den Teufel der Vernunft und Wissenschaft austreiben müßte.
In Zukunft wird die Kritik und Philosophie sprachlos durch Tanzen, durch Konvulsionen, durch Verdrehen des Auges widerlegt werden.
Der sprachlose Glaube ist groß, aber barbarisch und ungebildet. Der Glaube, welcher spricht und sich in Worten und weltlich konstruierten Sätzen zu erkennen gibt, ist nicht so groß, denn er gibt seine barbarische Sicherheit auf, er ist gebildeter, was ihm aber an massiver und ungeschlachter Größe abgeht, ersetzt er durch das Enorme seiner Frechheit und Unehrlichkeit. Er bleibt also immer noch groß, d. h. schamlos. Herr Leo gibt uns ein Beispiel von dieser Art des Glaubens. Der erste Schritt, welcher den vollendeten, sprachlosen Glauben zu Falle bringt, ist, wie bemerkt, der Vorwitz. Herr Leo hat sich zwar gegen den Vorwurf dieser christlichen und theologischen Tugend ziemlich sichergestellt: nicht er war es, der auf den Gedanken kam, über „die Richtung und das Ziel der Hallischen Jahrbücher“ zu schreiben, nicht er war so neugierig, daß er „die Gewohnheit des Ignorierens“ aufgab und einmal die Jahrbücher nicht nur las, sondern auch über sie sprach, die Redaktion der evangelischen Kirchenzeitung hat ihn vielmehr veranlaßt, die Jahrbücher zu lesen, und ihm im voraus für diese frivole Beschäftigung den Dispens erteilt. Freilich könnte es nun scheinen, als ob die tugendhafte Kirchenzeitung die Macht, die sie auf die Ihrigen ausübt, gemißbraucht habe, wenn sie einem Leo die Erlaubnis gab, eine lasterhafte Zeitschrift zu lesen, allein für sie sprechen die triftigsten Gründe. Nicht genug, daß sie wußte, Herr Leo würde die Jahrbücher nur lesen, um sie zu widerlegen, sie war auch überzeugt, daß er sie am besten, am gründlichsten widerlegen würde, da seine theologische Ignoranz wie seine Bequemlichkeit, mit der er seit vielen Jahren alle philosophischen Bücher sich vom Leibe zu halten weiß, notorisch ist. Herr Leo hat seine Aufgabe trefflich gelöst – er hat geschimpft. Wenn er dies Schimpfen Berichterstatten nennt, so hat es damit dieselbe Bewandtnis, wie wenn er fordert, daß man gegen geschichtliche Gestalten, die sich überlebt haben, „Liebe und Geduld“ beweisen, nicht aber sie als abgelebt, als tot darstellen und damit stürzen solle. Liebe und Geduld! das fordert Leo, das fordert er in einem Tone, wie wenn ein rasender Hund von demjenigen, auf den er heulend und zähnefletschend losspringt, Milde und Ruhe fordern wollte. Herr Leo brüllt, heult, knirscht mit den Zähnen und gebärdet sich wie ein Rasender, indem er fordert, die Philosophen sollen das Tote, dessen Geruch die Luft schon unerträglich macht, mit Liebe und Geduld hegen und pflegen. Fürchten vielleicht die Hyänen, daß ihre tägliche Nahrung entgehen würde? Liebe und Geduld, das ist das wahre Geschrei der Hyänen; o, sie wissen diese Worte so ausdrucksvoll auszusprechen, diese menschlichen Hyänen, sie wissen so schrecklich zu winseln, wenn sie diese Worte uns zurufen, sie wissen die ganze Tonleiter der Wut dabei so geschickt zu durchlaufen, daß wir vor diesem Widerspruch der Frechheit allen Respekt bekommen. Die süßen Worte der Raserei – der Honig, der von jenem Starken kam – sind das Gegenstück zu jenem andern Widerspruch, welchen das Schimpfwort bildet, mit dem wissenschaftliche Arbeiten abgefertigt werden. Beide Arten des Widerspruchs sind aber der Ausdruck derselben Unehrlichkeit und Frechheit: etwas zu fordern oder zu beurteilen, worin man nichts geleistet hat und was man nicht versteht. Liebe und Geduld sind Herrn Leo so fremd wie Theologie und Philosophie. Dem heulenden Verlangen nach Liebe und Geduld, dem Schimpfen über die Wissenschaft entspricht – in bezug auf die schamlose Frechheit – der Spott über die Forderungen, zu denen die Wissenschaft nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet ist. Die freie Wissenschaft ist gegenwärtig bürgerlich proskribiert, vom Staate verleugnet, sie steht außerhalb der Macht, welche die Regierung besitzt und dem Glauben, dem sprachlosen wie dem sprechenden, zukommen läßt. Käme es uns nun bloß auf die Macht an und auf den Genuß derselben, glaubt dann wohl Herr Leo, daß wir keinen Anteil an ihr erhalten würden, wenn wir unser Prinzip verleugnen und zu einer von beiden Arten des Glaubens uns bekennen wollten? Es handelt sich aber nicht nur um die Macht als solche, sondern um die Macht des Prinzips, nicht um die reine Anerkennung, sondern um die Anerkennung mit dem Prinzip und von wegen des Prinzips, nicht um den Genuß des Staats, sondern um den Genuß eines Staats, der auf das Prinzip des freien Selbstbewußtseins gegründet ist, nicht um Freiheit der Person und des Gewissens – eine Freiheit, die uns niemand erst noch zu garantieren braucht –, sondern um die Freiheit, die mit der öffentlichen Anerkennung des Prinzips gesetzt ist und von ihr abhängt. Ein neues Prinzip hat allerdings dann erst sein Ziel und seine Bestimmung erreicht, wenn es aus seiner theoretischen Idealität in die Unmittelbarkeit der Macht übergegangen ist. Und nun gar ein Prinzip, welches die Rechte des Selbstbewußtseins proklamiert, – das sollte auf den Mitgenuß des Staats Verzicht leisten und Herrn Leo und Seinesgleichen allein den Staat genießen lassen? Will Herr Leo allein genießen? Er sollte sich schämen, da er doch andere, höhere Güter kennt, die ihm den Staat in Vergessenheit bringen sollten. Er spotte nur immerhin über „die Begierde nach dem Mitgenuß des Staats und der politischen Freiheit“! Er muß und kann nicht anders, um unter der Maske des frechen Spottes seine und seiner Brüder Angst zu verbergen, die sie empfinden müssen, wenn sie ihr Prinzip und ihre Lage ins Auge fassen. So sehr haben diese Leute niemals auf ihr jenseitiges Prinzip vertraut, daß sie nicht nach der Macht dieser Welt gegriffen hätten, so sicher sind sie in ihrem Innern auch nicht, daß sie nicht wüßten oder wenigstens fühlten, sie würden augenblicklich fallen, wenn die Regierungen einmal ihre Hand von ihnen abzögen. Ha! welcher Sturz, welche Verlegenheiten, welche Verrätereien, welche Abscheulichkeiten des verschiedenartigsten Abfalls würden eintreten, wenn die Regierungen einmal erklärten, daß sie diese Partei ihr selbst und ihrer eignen Kraft überlassen wollten. Sie müssen also über die Forderung der Philosophie, die sich durch ihre eigne Kraft erhält, spotten; wie es aber scheint, ist der Spott die letzte Waffe von Parteien, die ihrem Falle nahe sind. Ja, wir wollen mitgenießen, wie alle neuen Prinzipien die privilegierten Klassen mit ihrer Begierde nach Mitgenuß beunruhigt und sie endlich gestürzt haben. Wenn einmal diese Begierde erwacht ist, dann hilft es nichts mehr, daß die gebenedeite Klasse wenigstens die Fürsten an ihrer Benedeiung teilnehmen ließ – ihr Vorrecht muß allgemeines Recht werden. So wollten die Hussiten den Wein nicht allein den Pfaffen lassen, ihre Begierde war damit noch nicht gestillt, daß die Priester einigen gekrönten Laien Anteil an dem Weine hatten zukommen lassen, sie wollten vielmehr, daß jeder genießen sollte, und es dauerte nicht mehr lange, so konnte jeder trinken, der da wollte. So hat in der ganzen Geschichte jede ausgeschlossene Klasse mitgenießen wollen, und es hat bis jetzt noch keiner, die es ernsthaft wollte, versagt werden können. Trinket alle daraus, stehet geschrieben.
Auch das freie Selbstbewußtsein wird zum Mitgenuß gelangen, und seine Zeit ist vielleicht nicht mehr fern, wenn Männer wie Leo es an Raserei, Schimpfen und Spott nicht fehlen lassen. Wenn die Ignoranz alle Mittel ihrer Frechheit aufbietet – sie sind aber bald erschöpft! –, dann haben wir gewonnen.
Zuvor aber werden wir es noch mit einer andern – scheinbar feineren, aber, da alles auf diesem Gebiete nur Schein ist, in der Tat nur – plumperen und dennoch – das macht eben jener Schein – widerlicheren Schamlosigkeit aufzunehmen haben. Es ist eine erbärmliche Notwendigkeit, daß man von solchen Phänomenen des Glaubens sprechen muß, aber was kann die Notwendigkeit dafür, daß sie durch erbärmliche Gegenstände bedingt ist: Notwendigkeit hört nicht auf, Notwendigkeit zu sein, und es ist wenigstens zu hoffen, daß, wenn es einmal geschehen ist, von solchen Dingen nicht mehr gesprochen zu werden braucht. Aber einmal muß es geschehen sein. Von solchen tobsüchtigen Gläubigen, wie Herr Leo ist, kann man doch nicht geradezu sagen, daß sie der herrschenden Partei schmeicheln. Im Gegenteil! sie müssen sich nur austoben, einmal recht ausrasen, dabei gehen sie so ziemlich geradeaus, und wenn sie schmeicheln, so schmeicheln sie sich selbst, da sie sich unmittelbar selbst für die herrschende Partei halten und erklären.
Die moderne Gläubigkeit hat aber auch ihre Bedientenseelen, die ihr huldigen, weil sie gerade ihren Vorteil dabei finden, und diese Livree anziehen, wie sie fähig sind, jede andere anzunehmen, wenn eine andere Partei zu Herrschaft kommt und sich dazu versteht, sich von solchen Seelen bedienen zu lassen. Diese Leutlein rasen und toben nicht, sie sind gar zu schwach dazu, und wenn sie es auch versuchen wollten, so würde man ihnen doch nicht glauben, daß sie es ernst meinen. Sie brauchen gar nicht erst zu den Leuten zu sagen: fürchtet euch nicht, ich bin kein wirklicher Löwe! Es ist noch keinem Vernünftigen eingefallen, sie dafür zu halten oder sich vor ihnen zu fürchten. Die Bedientenherrschaften sind mit dem achtzehnten Jahrhundert zu Grabe getragen.
Obwohl diese Leute aber nicht herrschen, so geben sie doch für eine herrschende Partei – falls diese nicht auf das freie, aufrichtige Selbstbewußtsein sich stützt – für eine Zeitlang eine angemessene Basis her. Sie bilden das polizeilich gehorsame Echo von der Vortrefflichkeit und Einzigkeit des augenblicklich Bestehenden, wie sie wiederum von der herrschenden Partei als vortreffliche brauchbare Leute anerkannt werden, d. h. wenn sie sich weggeworfen haben, in der Verworfenheit des Bestehenden ihren wahren Selbstgenuß haben. Die Leute, die auf diesem Standpunkte stehen, sind ignorant wie die Gläubigen der beiden Standpunkte, die wir soeben kennengelernt haben. Über den Vorwitz, in welchen Männer wie Leo zuweilen verfallen oder sich hineinziehen lassen, sind sie schon hinaus, und sie lassen sich mit dem Schein genügen, den sie den andern vorzumachen wissen, als hätten sie wissenschaftliche Werke, über die sie absprechen, gehörig gelesen. Bei ihnen ist alles nur scheinbar, aber ernstlich und wirklich ist ihre Ignoranz und Schamlosigkeit, die an ihnen die Farbe der Niederträchtigkeit hat. Und selbst diese Niederträchtigkeit beruht wieder darauf, daß sie für sich nichts sind, nichts denken, nichts meinen, von nichts überzeugt sind und, wenn sie gegen Wissenschaft sprechen, nicht aus ihrer Überzeugung sprechen, denn sie haben keine, sondern nur deshalb, weil es ihnen so scheint, daß die herrschende Partei gegen die freie Wissenschaft ist. Männer wie Leo sprechen doch wenigstens ihren Haß, ihren Abscheu und ihre Überzeugung aus, diese Leute aber sprechen nur deshalb, weil sie glauben, daß es den Obern so angenehm ist. Da es aber mit ihrer Überzeugung so schlecht bestellt ist, so ist es klar, daß sie der herrschenden Macht, der sie dienen, nach allen Seiten hin gefährlich sind. Stützt sich die Macht auch nur irgendwie auf sie, so ist sie verraten; denn zeigt sich die geringste Möglichkeit eines Unfalls oder gar eines Wechsels, so ist sie von ihnen augenblicklich verlassen, und sie wird zu ihrem Schrecken und ihrer Beschämung sehen müssen, wie die Leute, die soeben noch ihre Vortrefflichkeit und Einzigkeit predigten, schon das Stichwort der neuen Macht, die dem Vermuten nach siegen werde, im Munde führen. Aber auch wenn sie für das Bestehende kämpfen, schaden sie; da sie nämlich nur loben können, indem sie schmähen und herabsetzen, so verwerfen sie mit unüberlegtem Eifer die Taten und Werke der frühern Macht, und außerstande, schon in der Gegenwart die Belege ihres übermäßigen Lobes aufzuweisen, zeigen sie mit hohlen und übertriebenen Worten auf die herrlichen Schöpfungen einer Zukunft hin, auf Schöpfungen, welche die bestehende Macht nicht vollbringen kann, auf eine Zukunft, an die sie selbst nicht glauben. In den Augen der Vernünftigen heißt das eine Macht prostituieren. Ebensowenig Maß kennen sie – eben ihrer Ignoranz und Überzeugungslosigkeit wegen – in ihren Schmähungen gegen die Wissenschaft und freie Forschung. Sie haben nicht genug Kern zum Haß, sie haben keinen aus dem Innern geschöpften Zweck bei ihrer Kritik, die Sprache verliert daher ihr Maß, sie schweifen mit ihrer Rede ins Sinnlose aus, sie machen den Gegner gar zu klein, so daß die Unbefangenen, die sich über die Sache noch nicht selbst unterrichtet haben, entweder nicht begreifen, warum man denn überhaupt noch gegen so ohnmächtige, kindische und faselnde Gegner von seiten der herrschenden Macht zu Felde ziehe, oder argwöhnisch werden und sich selbst über den Tatbestand unterrichten, um endlich über die Schamlosigkeit dieser Leute aufgeklärt zu werden. Nach allen Seiten hin bilden sie denjenigen Punkt einer herrschenden Partei, wo diese nicht bekämpft, sondern nur verachtet werden kann. Im Ganzen nämlich sind sie der Punkt, wo alle Heuchelei, die den Gesamtzustand durchzieht, sich vereinigt und ihren schamlosesten Ausdruck erhält. Beispiele dieser bedientenartigen Heuchelei liefern im Politischen die polizeilich-offiziellen Artikel und Korrespondenzen unserer deutschen Zeitungen: auf dem theologischen und kirchlichen Gebiete scheint sich die Berliner allgemeine Kirchenzeitung zum Hauptorgan dieser Richtung ausbilden zu wollen. Was früher die theologischen Hofbedienten lobten und als die Vollendung der Kirche priesen – z.B. die Union –, das bezeichnen sie jetzt, weil es ihnen so scheint, als wolle die bestehende Regierung einen andern Weg einschlagen, als ein nur äußerliches Werk, welches so viel wie nichts ausrichten könne. Sie kommen vor Enthusiasmus außer sich, wenn sie die Vortrefflichkeit des Neuen und das Herrliche der Pläne, mit denen man umgehe, schildern, aber sie wissen den andern, die die Sache ernster nehmen, keine Vorstellung von dieser Vortrefflichkeit, nicht einmal eine Vorstellung von dem Neuen zu geben. Wenn die Wissenschaft als Kritik des Bestehenden und der gewonnenen geschichtlichen Resultate das Alte erklärt und die Zukunft vorbereitet, so kostet es sie keine Mühe, diese Kritik unreif zu nennen und nach dem pflichtschuldigen Kompliment gegen das Bestehende, welches die Panazee für alle Kollisionen bereithabe, von ihrer Seite Arbeiten zu verheißen, welche die Lösung aller Rätsel geben werden. Wer aber nichts tut, nichts leistet und nichts leisten kann, sind sie. Auf dem Gebiete der Wissenschaft fährt man fort zu arbeiten, die Kritik zu schärfen, näher zu bestimmen und damit die Postulate, mit denen die Geschichte umgeht, immer mehr ans Licht zu ziehen. Wie sie nun indessen nichts getan haben, so können sie auch auf die Fortschritte der Kritik nicht eingehen, sie bleiben vielmehr auf dem Flecke, wo sie sich vorher befanden, stehen, und der einzige Fortschritt, dessen sie fähig sind, besteht darin, daß sie ihre Schimpfworte steigern: — was sie vor ein paar Monaten unreif nannten, bezeichnen sie nun als bodenlose Faselei. Sie sind zu allem fähig, nur nicht zu männlichem Ernste, nicht zu Arbeiten, am wenigsten zu einer erhebenden Idee. Was tun sie denn also? O, sie leisten sehr viel, und ihre Betriebsamkeit ist unendlich. Morgen- und Abendopfer bringen sie dem Bestehenden dar, und ihr Tagewerk besteht in einer ausgebreiteten, intriganten Klatscherei, mit deren Ergebnissen – kleinen, winzigen und gehaltlosen Artikelchen – sie ihre Zeitungen anfüllen.
Die Altäre, die sie errichten, sind dem Bestehenden und dem Gotte, der Brot heißt, gewidmet; ihre kleinen Artikelchen sind die Trophäen ihrer täglichen Arbeit, und das Werk ihres ganzen Lebens ist der Beweis, daß es keine Kirche mehr gibt. Sie sind die Geschöpfe der Fäulnis, welcher die Kirche erlegen ist.
Zur Heuchelei des geschilderten Standpunktes gehört es, daß sogar von Wissenschaft, freier Wissenschaft und Beschützung derselben gesprochen, einerseits aber mit diesem Schutz – obwohl die Wissenschaft seiner nicht bedarf, sobald er nur polizeilich ist – nicht Ernst gemacht und andererseits nichts in der Wissenschaft geleistet wird. Dieser Standpunkt ist so arm, daß er nicht einmal Werke hervorbringt, die scheinbar wissenschaftlich oder freisinnig sind. Die Heuchelei ist also noch sehr plump. Groß ist nur die Schamlosigkeit.
Etwas feiner wird die Heuchelei des religiösen Bewußtseins, wenn es den Versuch macht, sich zum wissenschaftlichen auszubilden, um unter dem Schein dieses weltlichen Titels die Welt und das Böse desto sicherer zu überwinden. Unter der Maske der Wissenschaftlichkeit, ja sogar der Kritik und der Opposition gegen die ängstlichen Besorgnisse der Frömmigkeit und des Buchstabenglaubens wird die Kritik bekämpft und der Buchstabe – wenn es möglich wäre – in seiner rohen Unmittelbarkeit befestigt. Es ist aber nicht möglich, da, wie ich in meinen kritischen Arbeiten nun hinreichend bewiesen habe, es gerade das gläubige und theologische Bewußtsein ist, welches den Buchstaben tötet, verdreht und entstellt. Wenn diese liberalen Theologen, die gewöhnlich von der Schleiermacherschen Bildung ausgehen, ein kritisches Werk beurteilen, so geben sie sich den Schein, daß sie das wahre Maß der Kritik, die Linie, ja den Punkt kennen, über welchen nicht hinausgegangen werden darf, und die wahre Kritik, welche diesen Punkt überschreitet, bezeichnen sie dann geradezu als Vorurteil, Willkür, Vorschnelligkeit und Hyperkritik. Aber ihre Beweise? Nun, die bleiben sie eben schuldig, weil sie als gläubig noch das Vorrecht haben, ohne Beweis Behauptungen aufzustellen, wenn diese nur gläubig scheinen und der Kritik einigen Schimpf antun. Sie lesen kritische Arbeiten, schreiben darüber, ja widerlegen dieselben – und das will doch viel sagen –, aber die kritischen, die gründlichsten Beweise sehen sie doch nicht an, oder übersehen sie, oder studieren sie nicht, am allerwenigsten geben sie ihren Lesern über dieselben einen Bericht. Es ist genug, daß sie sagen, es sei willkürlich, wenn ein Kritiker diese oder jene Behauptung aufstelle.
Das religiöse Bewußtsein ist eigentlich nur rein und vollkommen, wenn es sprachlos bleibt. Sobald es sich ausspricht, gerät es mit den vernünftigen Bestimmungen der Sprache als solcher in Konflikt; will es sich nun aber gar mit den konkreten Bestimmungen der freien Menschlichkeit und des Selbstbewußtseins auseinandersetzen, so muß es zur Gewalt Zuflucht nehmen und sich auf einen Kampf einlassen, der einerseits seinen positiven Bestimmungen selber und andererseits den Gesetzen des Selbstbewußtseins Leids zufügen muß. Wenn es mit ihm noch Ernst ist, so kann die Schuld dieses Kampfes noch Unschuld genannt werden, die Not wenigstens, die Angst der Selbsterhaltung, sowie die Unvollkommenheit des kritischen Selbstbewußtseins können noch viel entschuldigen. Die Schuld ist aber vollkommen an den Tag getreten, wenn das religiöse Bewußtsein in sich selber unsicher geworden, von dem Gift der Kritik angesteckt und seiner Halbheit die vollendete und methodisch ausgebildete Kritik gegenübergetreten ist. Die anfangs absichtslose Selbsttäuschung wird zum gewollten Selbstbetrug, die Verirrung zur Lüge, die Verteidigung zur Betrügerei und Heuchelei, die früher unbefangene Nacktheit zur Schamlosigkeit. Man wird es mir nicht verdenken, wenn ich hier eines gläubigen Angriffs auf meine Arbeit über das vierte Evangelium erwähne. Gerade weil ich überzeugt sein darf, ein im Wesentlichen unwiderlegliches Buch geschrieben zu haben, und noch mehr, weil ich weiß, daß es nicht mein Verdienst ist, daß ich es vielmehr nur dem Umstände zu verdanken habe, weil ich mich an dieses Unternehmen begab, als alle geschichtlichen Voraussetzungen zu demselben sich erschöpft und vollendet hatten, gerade deshalb ist es meine Pflicht, dasselbe gegen den Mißverstand zu verteidigen. Eine schwere Pflicht! da die Verteidigung der Sache keinen Nutzen bringt. Die Gegner sind nur an die ignorierten Beweise zu erinnern, und wenn sie Behauptungen vorbrachten, die über die Beweise hinausgreifen sollten, d. h. allgemeine Bestimmungen enthielten, deren Sturz ich in jenen Beweisen für den Kenner schon vorbereitet hatte, aber erst später ausführen durfte, so sind sie einfach auf einen indessen erschienenen folgenden Band zu verweisen, der ihnen allen Boden unter den Füßen wegzieht.
So ist Herr Schweizer, ein Schleiermacherscher Apologet, in seiner Schrift über das vierte Evangelium gegen mich aufgetreten. Um die Hauptpunkte anzuführen: meine Erklärung von der Formel „das Lamm Gottes“, welche dem Täufer in den Mund gelegt wird, nennt er S. 194 „willkürlich“, und es fällt ihm nicht ein, meinen Beweis, wie diese Formel erst später in der Gemeinde entstanden ist, anzuführen. Daß der Täufer die ihm zugeschriebenen messianischen Vorstellungen nicht gehabt haben könne, sagt er S. 191, hielte ich „zum voraus für eine ausgemachte Sache“ – und ich habe diese Sache erst ausgemacht, nachdem ich diese Vorstellungen einer gründlichen Kritik, um die er sich freilich nicht bekümmert, unterworfen hatte. Ich habe dem Leser alle Akten des kritischen Prozesses vorgelegt, welcher es beweist, daß die große Rede über das Gericht im fünften Kapitel des vierten Evangeliums ein "Werk der spätem Reflexion sei; für Herrn Schweizer sind diese Akten nicht vorhanden. Er sagt S. 149: „Die Idee des Gerichts ist mit dem messianischen Bewußtsein selbst gegeben und um so weniger als Aussage späterer Reflexion, die erst nach Jesu Tod habe entstehen können, anzusehen, als diese Funktion schon in der älteren Messiasidee von Christus vorgefunden wurde, ihm selbst also nichts übrigblieb, als sie mit der Messiasidee selbst zu vergeistigen.“ Die Unehrlichkeit, die meine Beweise ignoriert, wird schon hinreichend bestraft, wenn ich einfach die Aufgabe stelle, man möge die Beweise entnerven oder überhaupt nur in Betracht ziehen. In ihrer ganzen lächerlichen Blöße wird sie aber bloßgestellt, wenn in demselben Augenblick, wo diese kluge Unehrlichkeit sich breitmacht, der erste Band meiner Schrift über die Synoptiker erschien, in welchem ich erst mit dem Beweise vorrücken durfte, daß es vor der Zeit Jesu keine messianische Dogmatik gab und daß die Umwandlung der unsteten prophetischen Anschauungen des A. T. in den Reflexionsbegriff „des Messias“ und die Entstehung der Gemeinde ein und derselbe Akt waren.
In der Schrift über das vierte Evangelium hatte ich zunächst nur nachzuweisen, daß den Samaritern die Vorstellung des Messias unbekannt war, und ich tat es in einer ausführlichen Beilage, in einem Beweise, zu dessen Führung ich eine Menge von Büchern studieren mußte, von denen manches Herrn Schweizer noch nicht vor Augen gekommen sein wird. Nichtsdestoweniger sagt er — es handelt sich nämlich um jenes Gespräch mit der Samariterin – S. 38: „Selbst wenn die samaritische Messiasidee eine ganz abweichende gewesen wäre oder die Samariter sie gar nicht gehabt hätten – eine Frage, die zu den dunkelsten gehört und mit einem Exkurs noch lange nicht aufgehellt wird –, kann das Weib dennoch die in Samarien ungefähr wohl bekannte (!!) Idee vortragen hören und so sprechen, wie sie spricht.“ Was also der Kritiker in einer gründlichen Abhandlung nicht aufhellen kann, darf der gläubige Apologet in einem Nu, wie man die Hand umdreht, entscheiden. Diese lächerliche Frechheit mag sich nun nach einer andern Wendung umsehen, wenn sie wieder auf einen Exkurs stößt, der ihr den Beweis liefert, daß die Juden den „Nachbarländern“ nicht geben konnten, was sie selbst nicht hatten. Und als ob ich diese Sache nur in jenen Beilagen abmachen wollte, als ob zu dem Beweise nicht das ganze Buch, zu dem sie die Beilage bilden, wesentlich mit gehörte!
Es gehört eine theologische Ausbildung der Schamlosigkeit dazu, wenn Herr Schweizer in der Vorrede zu seiner Schrift (S. VIII) sagt: „Nach den kühnen Angriffen auf die Echtheit des Johannesevangeliums, wie Lützelberger und besonders Bruno Bauer sie auch etwas rasch veröffentlicht haben, wird eine Nachweisung der wesentlichen Echtheit des Buches nicht zu lange ausbleiben sollen.“ Auch etwas rasch! Ein echt theologischer Schluß! Eine echt theologische Frechheit! Weil also Herr Schweizer mit der Nachweisung usw. „nicht zu lange“ zögern zu dürfen, weil er eilen zu müssen glaubt, habe ich auch geeilt und meinen Angriff „auch etwas rasch“ veröffentlicht! Welche Schamlosigkeit! Wer sagt denn Herrn Schweizer, wie rasch ich verfahren bin? Hat er etwa aus der Art meiner Beweise nachgewiesen, daß ich etwas rasch aufgetreten sei? Oder wenn das nicht der Fall ist und nicht der Fall sein kann, da er meine Beweise nicht geprüft hat, woher weiß er, wie lange ich an meiner Schrift gearbeitet und sie vorbereitet habe? Und gesetzt den Fall, ich hätte sehr wenig Zeit gebraucht, um meine Arbeit auszuführen, gibt es nicht siegreiche Feldzüge, die in kurzer Zeit, sowie sie eingeleitet waren, durch einige Schlachten beendigt sind? Glaubt das theologische Bewußtsein, es sei noch eines langen Feldzuges wert und fähig? Oder wenigstens jedes seiner Gebiete müsse in unsern Tagen erst nach tausend Schlachten erobert werden? So stark ist es nicht mehr und seine Territorien nicht so viel wert.
In Zukunft wird also die Apologetik mit ihren „Nachweisungen der wesentlichen Echtheit“ so lange warten müssen, bis sie die Beweise, die Methode und die Ergebnisse der Kritik so gründlich studiert hat, wie der philosophische Kritiker ihre Argumentationen, Schleichwege und Schliche studiert. Wenn ich „etwas rasch“ veröffentlichen oder glauben wollte, daß die Nachweisungen der totalen Unechtheit „nicht zu lange ausbleiben“ dürfen, so wird der Apologet aus den indessen erschienenen Bänden meiner Kritik der evangelischen Geschichte und aus den künftig erscheinenden sehen, daß ich, wenn ich nicht so schon auf die Beweise im einzelnen vertrauen dürfte, allgemeine Bestimmungen hätte vorausnehmen dürfen, die ihnen für den Apologeten ein vielleicht fühlbareres und auffallenderes Gewicht geben würden. Aber alles zu seiner Zeit, unter anderem auch die Prüfung der Hypothese des Herrn Schweizer über die beiden Bestandteile des vierten Evangeliums. Die Kritik bedarf der Methode, der Ruhe, Besonnenheit und Zurückhaltung. Die Apologetik mag eilen, frech darauf loseilen, schamlos absprechen, denn sie hat nicht mehr lange zu leben. Dem kritischen Selbstbewußtsein gehört die Zukunft.
Der arme Rationalismus! Wie tief er gefallen ist! Freiheit, Kritik, Liberalität, Unbefangenheit sind die Worte, die er im Munde trägt – nachdem er allerdings der Anstoß gewesen war, daß diese schönen Sachen unter die Masse verbreitet wurden –, und dennoch ist er der fürchterlichste Knecht des Buchstabens, der Knecht, der für seinen grausamen Herrn zittert, wenn diesem die wirkliche, ernstliche Kritik zu Leibe geht. Er war aber immer und von Anfang an der Buchstabenknecht, und seine knechtische Natur muß nur gerade jetzt so offen an den Tag treten, weil die Zeit der wahren Freiheit gekommen ist. Der Gefangene kann sich in dem Maße an den Kerker gewöhnen, daß er die Freiheit, wenn sie ihm angeboten wird, verschmäht und die Arbeiten und Mühen der Freien scheut. Im Rationalismus hat sich die Buchstabenknechtschaft des protestantischen Prinzips vollendet. Das orthodoxe System betrachtete doch die ganze Schrift als kanonisch, und seine Anhänger wurden demnach durch die Widersprüche des Buchstabens gezwungen, diesen in Fluß zu setzen und seine Beschränktheit aufzuheben: der Rationalismus will nicht mehr den ganzen Buchstaben als Herrn anerkennen, nur einzelnen Teilen und Partikelchen unterwirft er sich, d. h. ein paar Fetzen und Lumpen sind sein Fetisch geworden. Der Gläubige der guten alten Zeit sah in dem Buchstaben den Ausdruck und Zeugen seines Intellektual-Systems, diese Welt des Glaubens ist aber dem Rationalismus untergegangen, und ihm bleibt der Buchstabe als solcher, der nackte, kahle Buchstabe, doch nein! er hat doch auch seine Weltanschauung, die er durch den Buchstaben bestätigt sehen möchte, sie ist aber so kahl und dürftig, so jämmerlich öde transzendent wie der Buchstabe, der ihm noch geblieben ist, so daß es möglich scheinen könnte, daß beides, seine Weltanschauung und der Buchstabe, sich entsprechen. Doch auch diese Übereinstimmung ist unmöglich. An allen Orten und Enden ist der biblische Buchstabe das Erzeugnis des außer sich gekommenen Selbstbewußtseins und nur in seiner Totalität ein wenigstens in seiner Art Tüchtiges, Ordentliches und Zusammenhängendes – der Ausdruck von dem Verlust des Selbstbewußtseins. Wird nun die Buchstabenwelt zerstückelt, werden nur Partikelchen als die Wahrheit anerkannt und verehrt, so verliert der Buchstabe seine Natur noch lange nicht, er bleibt der Ausdruck des sich selbst entfremdeten Selbstbewußtseins; ja in seiner Isolierung und Zerstückelung wird er nur noch sinnloser, verrückter, abenteuerlicher, und nimmermehr wird er mit seinen nun regellosen Extravaganzen mit der platten Weltanschauung des Rationalisten harmonieren können. Es bleibt also nur Gewalt übrig, um ihn zu zähmen, menschlich, nüchtern und verständig zu machen.
Zu einer Zeit, wo die biblische Kritik noch in der Kindheit war, gehörte die Kühnheit und Selbstgewißheit eines terroristischen Philosophen dazu, wenn Kant – er konnte sich noch nicht anders helfen – geradezu erklärte, man müsse gegen den Buchstaben Gewalt brauchen. Was in der Bibel, sagte Kant, der Vernunft widerspricht, muß [als] falsch erklärt werden. Es war noch eine falsche Nachgiebigkeit des Philosophen, wenn er mit den Schwachen schwach sein und Bibel und Vernunft, wenn auch nur für die Zeit, solange es Schwache gibt, in Übereinstimmung setzen wollte, aber es war doch offen, männlich und kühn, daß er der Vernunft unbedingt die Oberherrschaft und ihr den Buchstaben auf Gnade und Ungnade gefangengab. Der Rationalismus dagegen nimmt die Vernunft unter dem Buchstaben gefangen. Er will auch Vernunft, aber er sucht sie im Buchstaben und quält sich nun, um sie mit allen ihren Attributen in demselben nachzuweisen. Er braucht Gewalt gegen den Buchstaben, aber gesteht es nicht ein, und wenn er es früher selbst nicht vollständig wußte, daß er Gewalt braucht, so muß er es jetzt endlich mit Gewalt leugnen und nicht Worts haben wollen, wenn die Kritik den Buchstaben von seiner Gewalt befreit und, indem sie alles in seiner Bestimmtheit auflöst, dem unehrlichen, heimtückischen Kampfe mit dem Buchstaben ein Ende macht.
Von der Rücksichtslosigkeit, mit welcher die Kritik das Geheimnis des Buchstabens aufdeckt, sowie von der Einfachheit ihrer Methode, die alle seine Quälereien unnütz macht, überrascht, nennt der Rationalismus ihr Urteil übereilt, ihre Arbeiten flüchtig, ihre Erklärungen oberflächlich und befangen. Es sei mir wieder erlaubt, einige Belege aus einer rationalistischen Beurteilung meiner Schrift über das vierte Evangelium (in dem Juliheft der Hallischen allgemeinen Literaturzeitung) anzuführen. Ich habe neue, von dem Rezensenten nicht beachtete Gründe dafür angeführt, daß die Reflexionen, in welche die Reden Jesu an Nikodemus und des Täufers an seine mißvergnügten Jünger auslaufen, nach der Ansicht des Evangelisten als der Schluß dieser Reden selber betrachtet werden sollen. Aber, wendet der Rezensent (S. 314, 311) ein, dagegen spricht doch gar zu sehr der in diesen Versen waltende Reflexionston und auch manches einzelne (was ich nämlich als die schreiendsten Inkonvenienzen nachgewiesen habe). Als ob in der Schrift alles vernünftig, verständig und der vorausgesetzten Situation passend sein müßte! Als ob der Schrei der Widersprüche nicht kreischend und sogar Gebrüll werden könnte! Ich habe nachgewiesen, daß der vierte Evangelist den äußersten Anachronismus sich zuschulden kommen läßt, wenn er den Herrn (Kap. 3,13) von der Himmelfahrt wie von einem bereits vergangenen Faktum sprechen läßt. Aber, erwidert der Rezensent, dann würde ich ja dem Evangelisten eine „beispiellose Gedankenlosigkeit“ zuschreiben. Und ich habe doch gezeigt, jetzt auch in der Kritik der synoptischen Evangelien, daß diese Gedankenlosigkeit in der evangelischen Geschichtsdarstellung nichts weniger als beispiellos ist. Zahllos sind diese Gedankenlosigkeiten.
Es ist nicht zu leugnen, daß Jesus (Kap. 7) nach der Aufforderung seiner Brüder erklärt, er werde nicht das Lauberhüttenfest besuchen. Und doch begibt er sich sogleich nach der Abreise seiner Brüder auf das Fest. Welche Aufforderung für den Rationalisten zu künsteln, obwohl ich ihm alle Mittel dazu benommen habe. Aber er ist wie jeder Apologet allmächtig. Wenn Jesus seine Erklärung, nicht auf dieses Fest zu gehen, durch den Zusatz, weil seine Zeit noch nicht gekommen sei, begründet, so sagt der Rationalist, werde die Verneinung möglicherweise zu einer relativen. Als ob es eine entschiedenere Verneinung geben könne: „Ich gehe nicht auf dieses Fest, weil meine Zeit noch nicht gekommen ist.“ Meine Zeit! Nämlich meine Leidenszeit, die mich in der heiligen Stadt erwartet! Diese Deutung ist ja aber „geradezu sinnlos“, sagt der Rezensent, „weil die Leidenszeit Jesu noch nicht an dieses Fest geknüpft war“. "Wie schamlos! Als ob Jesus nicht eben deshalb sagte, daß er nicht dieses Fest besuchen würde!
Ich habe gezeigt, wie unpassend es ist, wenn der Evangelist berichtet, daß Jesus den Philippus fand, und uns vorher nicht gesagt hat, wie Jesus einen ihm völlig unbekannten Mann finden konnte. Ich sagte, finden kann man nur einen Menschen, der durch irgendeine Vermittlung mit uns bereits in Beziehung gesetzt ist oder mit uns an sich in Beziehung steht oder, sowie wir ihn finden, augenblicklich mit uns sich in Beziehung findet. So findet Andreas (Kap. i, 42) den Petrus, so Philippus (Kap. 1, 46) den Nathanael, so findet Jesus (Kap. 9, 35) den von ihm geheilten Blindgebornen und (Kap. 2, 14) bei seinem ersten Aufenthalt in Jerusalem im Tempel die Kaufleute. Diese konnte er nämlich auch finden, weil er durch das Unrecht, das sie begingen, und durch seinen Eifer, so wie er sie sah, mit ihnen in notwendiger Beziehung stand. Wenn daher der Rezensent meine Kritik jenes Ausdrucks, daß Jesus den Philippus fand, falsch nennt, so möge er es begreiflich machen, wie man einen Menschen finden kann, der uns schlechthin unbekannt ist und bei dem wir, wenn wir ihm begegnen, nur vorübergehen können. Die Darstellung des Evangelisten bleibt im höchsten Grade unpassend.
Und alle seine Fehler, Übereilungen, Versehen und Gedankenlosigkeiten bleiben, wenn auch der Rationalismus tausendmal die Kritik oberflächlich, befangen und sinnlos nennt. Wenn er sich nicht auf die Beweise einläßt, nicht Gegenbeweise liefert, welche die kritische Methode stürzen, ist er auf dem besten Wege, die Vollendung der Schamlosigkeit zu werden. Die rationalistische ist die Vollendung der Apologetik, weil sie die leerste und gehaltloseste ist. Sie ist die tiefste Erniedrigung des Knechts.
Zuletzt aktualisiert am 20.5.2009