G.W.F. Hegel

Philosophische Propädeutik

Erster Kursus. Unterklasse. Rechts-, Pflichten-, und Religionslehre.

 

 

Zweiter Abschnitt. Pflichtenlehre oder Moral.

§32

Was nach dem Recht gefordert werden kann, ist eine Schuldig­keit. Pflicht aber ist etwas, insofern es aus moralischen Gründen zu beobachten ist.

Erläuterung. Das Wort Pflicht wird häufig von rechtlichen Ver­hältnissen gebraucht. Die Rechtspflichten bestimmte man als vollkommene, die moralischen als unvollkommene, weil jene überhaupt geschehen müssen und eine äußerliche Notwendigkeit haben, die moralischen Pflichten aber auf einem subjektiven Willen beruhen. Allein man könnte eben so die Bestimmung umkehren, weil die Rechtspflicht als solche nur eine äußerliche Notwendigkeit fordert, wobei die Gesinnung fehlen kann oder ich kann sogar eine schlimme Absicht dabei haben. Hingegen zur moralischen Gesinnung wird Beides erfordert, sowohl die rechte Handlung ihrem Inhalt nach als auch, der Form nach, das Subjektive der Gesinnung.

§33

Das Recht lässt überhaupt die Gesinnung frei. Die Moralität da­gegen betrifft wesentlich die Gesinnung und fordert, dass die Handlung aus Achtung vor der Pflicht geschehe. So ist auch das rechtliche Verhalten moralisch, insofern es die Achtung vor dem Rechte zum Beweggrunde hat.

§34

Die Gesinnung ist die subjektive Seite der moralischen Hand­lung oder die Form derselben. Es ist darin noch kein Inhalt vor­handen, welcher, wie das wirkliche Handeln, gleich wesentlich ist.

Erläuterung. Mit dem rechtlichen Verhalten soll wesentlich auch das moralische verbunden sein. Es kann aber auch der Fall sein, dass mit dem rechtlichen Verhalten die Gesinnung des Rechts nicht verbunden ist; ja sogar, dass eine unmoralische Gesinnung dabei statt findet. Die rechtliche Handlung ist, insofern sie aus Achtung vor dem Gesetz geschieht, zugleich auch moralisch. Das rechtliche Handeln, und zugleich mit der moralischen Gesin­nung, ist schlechterdings zuerst zu verfolgen, und dann erst kann das moralische Handeln als solches eintreten, worin kein rechtliches Gebot (keine Rechtsschuldigkeit) vorhanden ist. Die Menschen handeln gern bloß moralisch oder edel und schenken oft lieber weg, als dass sie ihre Rechtsschuldigkeiten erfüllen. Denn in der edlen Handlung geben sie sich das Bewusstsein ihrer besondern Vollkommenheit, da sie hingegen im rechtlichen Handeln das vollkommen Allgemeine ausüben, das ihnen mit Allen gleich ist.

Alles Wirkliche enthält zwei Seiten, den wahren Begriff und die Realität dieses Begriffs, z. B. der Begriff des Staates ist die Sicherung und die Verwirklichung des Rechtes. Zur Realität gehört nun die besondere Einrichtung der Verfassung, das Verhältnis der einzelnen Gewalten u. s. f. Zum wirklichen Men­schen gehört auch, und zwar nach seiner praktischen Seite, der Begriff und die Realität des Begriffs. Zu jenem gehört die reine Persönlichkeit oder die abstrakte Freiheit, zu diesem die beson­dere Bestimmung des Daseins und das Dasein selbst. Zwar ist in diesem ein Mehreres, als im Begriff enthalten, aber zugleich muss es diesem gemäß und durch ihn bestimmt sein. Der reine Begriff des praktischen Daseins, das Ich, ist der Gegenstand des Rechts.

§35

Die moralische Handlungsweise bezieht sich auf den Menschen nicht als abstrakte Person, sondern auf ihn nach den allgemei­nen und notwendigen Bestimmungen seines besondern Da­seins. Sie ist daher nicht bloß verbietend, wie eigentlich das Rechtsgebot, welches nur gebietet, die Freiheit des Andern un­angetastet zu lassen, sondern gebietet, dem Andern auch Posi­tives zu erweisen. Die Vorschriften der Moral gehen auf die einzelne Wirklichkeit.

§36

Der Trieb des Menschen nach seinem besondern Dasein, wie die Moral es betrachtet, geht auf die Übereinstimmung des Äußern überhaupt mit seinen inneren Bestimmungen, auf Vergnü­gen und Glückseligkeit.

Erläuterung. Der Mensch hat Triebe d. h. er hat innerliche Be­stimmungen in seiner Natur oder nach derjenigen Seite, nach welcher er ein Wirkliches überhaupt ist. Diese Bestimmungen sind also ein Mangelhaftes, insofern sie nur ein Innerliches sind. Sie sind Triebe, insofern sie darauf ausgehen, diesen Man­gel aufzuheben d. h. sie fordern ihre Realisierung, die Übereinstimmung des Äußerlichen mit dem Innerlichen. Diese Übereinstimmung ist das Vergnügen. Ihm geht daher eine Reflexion als Vergleichung zwischen dem Innerlichen und Äußerlichen voraus, mag dies von mir oder dem Glücke herrühren. Das Ver­gnügen kann nun aus den mannigfaltigsten Quellen entsprin­gen. Es hängt nicht vom Inhalt ab, sondern betrifft nur die Form, oder es ist das Gefühl eines nur Formellen, nämlich der angegebenen Übereinstimmung. Die Lehre, welche das Vergnügen oder vielmehr die Glückseligkeit zum Zwecke hat, ist Eudämonismus genannt worden. Es ist aber darin unbestimmt, worin man das Vergnügen oder die Glückseligkeit zu suchen habe. Es kann also einen ganz rohen, groben Eudämonismus geben, aber eben so gut einen besseren; nämlich die guten wie die bösen Handlungen können sich auf dies Prinzip gründen.

§37

Diese Übereinstimmung ist als Vergnügen ein subjektives Ge­fühl und etwas Zufälliges, das sich an diesen oder jenen Trieb und seinen Gegenstand knüpfen kann und worin ich mir nur als natürliches Wesen und nur als Einzelner Zweck bin. Erläuterung. Das Vergnügen ist etwas Subjektives und bezieht sich bloß auf mich als einen besondern. Es ist nicht das Objektive. Allgemeine, Verständige daran. Es ist deswegen kein Maßstab oder keine Regel, womit eine Sache beurteilt oder gerichtet wird. Wenn ich sage, dass es mir eben so gefällt oder mich auf mein Vergnügen berufe, so spreche ich nur aus, dass die Sache für mich so gilt und habe dadurch das verständige Verhältnis mit Andern aufgehoben. Es ist zufällig seinem In­halt nach, weil es sich an diesen oder jenen Gegenstand knüpfen kann, und weil es nicht auf den Inhalt ankommt, so ist es etwas Formelles. Auch seinem äußerlichen Dasein nach ist das Ver­gnügen zufällig, die Umstände vorzufinden. Die Mittel, welche ich dazu brauche, sind etwas Äußerliches und hängen nicht von mir ab. Zweites muss das Dasein, was ich durch die Mittel zu Stande gebracht habe, insofern es mir Vergnügen machen soll, für mich werden, an mich kommen. Dies aber ist das Zufällige. Die Folgen dessen, was ich tue, kehren darum nicht an mich zurück. Ich habe den Genuss derselben nicht notwendiger Weise. — Das Vergnügen entspringt also aus zweierlei Umstän­den: erstens aus einem Dasein, das man vorfinden muss, was ganz vom Glück abhängt; und zweitens aus einem solchen, das ich selbst hervorbringe. Dies Dasein hängt zwar, als Wirkung meiner Tat, von meinem Willen ab, aber nur die Handlung als solche gehört mir, hingegen der Erfolg muss nicht notwendig auf mich zurückkommen, folglich auch nicht der Genuss der Handlung. In einer solchen Handlung, wie die des Decius Mus für sein Vaterland, liegt, dass die Wirkung derselben nicht auf ihn als Genuss zurückkommen sollte. Es sind überhaupt nicht die Folgen zum Prinzip der Handlung zu machen. Die Folgen einer Handlung sind zufällig, weil sie ein äußerliches Dasein sind, das von andern Umständen abhängt oder aufgehoben werden kann.

Das Vergnügen ist ein Sekundäres, ein die Tat Begleitendes. Indem das Substantielle verwirklicht wird, so fügt sich das Vergnügen insofern hinzu, als man im Werke auch sein Subjektives erkennt. Wer dem Vergnügen nachgeht, sucht nur sich nach seiner Accidentalität. Wer mit großen Werken und Interessen beschäftigt ist, strebt nur die Sache an sich zur Wirklichkeit zu bringen. Er ist auf das Substantielle gerichtet, erinnert sich sei­ner darin nicht, vergibt sich in der Sache. Menschen von großen Interessen und Arbeiten pflegen vom Volke bedauert zu wer­den, dass sie wenig Vergnügen haben, d. h. dass sie nur in der Sache, nicht in ihrer Accidentalität leben.

§38

Die Vernunft hebt die Unbestimmtheit auf, welche das ange­nehme Gefühl in Ansehung der Gegenstände hat, reinigt den Inhalt der Triebe von dem Subjektiven und Zufälligen und lehrt in Rücksicht auf den Inhalt das Allgemeine und Wesentliche des Begehrenswerten kennen, in Rücksicht auf die Form oder Gesinnung aber das Objektive oder das Handeln um der Sache selbst willen.

Erläuterung. Zunächst geht der Verstand oder die Reflexion über das unmittelbare Vergnügen hinaus, verändert aber den Zweck oder das Prinzip nicht. Sie geht insofern nur über das einzelne Vergnügen hinaus, vergleicht die Triebe mit einander und kann also den einen dem andern vorziehen. — Indem sie nicht auf das Vergnügen als Einzelnes, sondern auf das im Ganzen geht, beabsichtigt sie Glückseligkeit. Diese Reflexion bleibt noch innerhalb des subjektiven Principes stehen und hat das Vergnügen noch zum Zwecke, aber nur das größere, viel­fachere. Indem sie Unterschiede im Vergnügen macht und über­haupt an allen verschiedenen Seiten das Angenehme sucht, ver­feinert sie das Rohe, Wilde und bloß Tierische des Vergnügens und mildert die Sitten und Gesinnungen überhaupt. Insofern also der Verstand sich mit den Mitteln, Bedürfnisse überhaupt zu befriedigen, beschäftigt, erleichtert er dadurch diese Befriedi­gung und erhält dadurch die Möglichkeit, sich höheren Zwecken zu widmen. — Auf der anderen Seite macht diese Verfeinerung der Vergnügungen den Menschen weichlicher indem er seine Kräfte auf so vielerlei Gegenstände verwendet, und sich so man­nigfaltige Zwecke macht, welche durch das Unterscheiden ihrer verschiedenen Seiten immer kleiner werden, so wird seine Kraft überhaupt geschwächt, sich auf das Wesentliche mit seinem ganzen Geist zu richten. Wenn der Mensch das Vergnügen zum Zweck macht, so hebt er durch diese Reflexion den Trieb auf, darüber hinauszugehen und etwas Höheres zu tun. Das Vergnügen ist unbestimmt in Ansehung des Inhalts, weil es bei allen Gegenständen statt finden kann. Es kann bei ihm also insofern kein objektiver Unterschied, nur ein quantitativer gemacht werden. Der Verstand, die Folgen berechnend, zieht das größere dem kleineren vor.

Die Vernunft hingegen macht einen qualitativen Unterschied, d. h. einen Unterschied in Ansehung des Inhalts. Sie zieht den würdigen Gegenstand des Vergnügens dem nichtswürdigen vor. Sie lässt sich also auf eine Vergleichung der Natur der Gegen­stände ein. Insofern betrachtet sie nicht mehr das Subjektive als solches, nämlich das angenehme Gefühl, sondern das Objektive. Sie lehrt also, was für Gegenstände der Mensch um ihrer selbst willen zu begehren hat. Bei dem Menschen, dem seiner allge­meinen Natur halber so unendlich mannigfaltige Quellen des Vergnügens offen stehen, ist überhaupt die Richtung auf das Angenehme täuschend und er lässt sich durch diese Mannigfal­tigkeit leicht zerstreuen, d. h. von einem Zweck abbringen, den er zu seiner Bestimmung machen sollte.

Der Trieb des Angenehmen kann mit der Vernunft übereinstim­men, d. h. dass beide den nämlichen Inhalt haben, dass die Ver­nunft den Inhalt legitimiert. — In Ansehung der Form handelt der Trieb um des subjektiven Gefühls willen oder hat das An­genehme des Subjekts zum Zweck. Bei der Handlung um eines allgemeinen Gegenstandes willen ist das Objekt selbst der Zweck. Hingegen der Trieb des Angenehmen ist immer eigen­süchtig.

§39

Die Triebe und Neigungen sind: 1) an sich betrachtet, weder gut noch böse, d. h. der Mensch hat sie unmittelbar als Natur­wesen. 2) Gut und böse sind moralische Bestimmungen und kommen dem Willen zu. Das Gute ist das der Vernunft Ent­sprechende. 3) Triebe und Neigungen können aber nicht ohne Beziehung auf den Willen betrachtet werden. Diese Beziehung ist nicht zufällig und der Mensch kein gleichgültiges Doppelwesen.

Erläuterung. Die Moralität hat den Menschen in seiner Beson­derheit zum Gegenstande. Diese scheint zunächst nur eine Menge von Mannigfaltigkeiten zu enthalten, das Ungleiche, was die Menschen von einander unterscheidet. Wodurch aber die Menschen von einander unterschieden sind, ist das Zufälli­ge, von der Natur und äußeren Umständen Abhängige. Im Be­sondern ist aber zugleich etwas Allgemeines enthalten. Die Be­sonderheit des Menschen besteht im Verhältnis zu andern. In diesem Verhältnis sind nun auch wesentliche und notwendige Bestimmungen. Diese machen den Inhalt der Pflicht aus.

 

§40

Der Mensch hat: 1) die wesentliche Bestimmung, ein Einzelner zu sein; 2) gehört er einem natürlichen Ganzen, der Familie, an; 3) ist er Glied des Staates; 4) steht er in Verhältnis zu anderen Menschen überhaupt. — Die Pflichten teilen sich daher in vier Gattungen: 1) in Pflichten gegen sich; 2) gegen die Familie; 3) gegen den Staat und 4) gegen andere Menschen überhaupt.

I. Pflichten gegen sich

§41

Der Mensch als Individuum verhält sich zu sich selbst. Er hat die gedoppelte Seite seiner Einzelheit und seines allgemeinen Wesens. Seine Pflicht gegen sich ist insofern teils seine phy­sische Erhaltung; teils, sein Einzelwesen zu seiner allgemeinen Natur zu erheben, sich zu bilden.

Erläuterung. Der Mensch ist einerseits ein natürliches Wesen. Als solches verhält er sich nach Willkür und Zufall, als ein unstätes, subjektives Wesen. Er unterscheidet das Wesentliche nicht vom Unwesentlichen. — Zweitens ist er ein geistiges, ver­nünftiges Wesen. Nach dieser Seite ist er nicht von Natur, was er sein soll. Das Tier bedarf keiner Bildung, denn es ist von Natur, was es sein soll. Es ist nur ein natürliches Wesen. Der Mensch aber muss seine gedoppelte Seite in Übereinstimmung bringen, seine Einzelheit seiner vernünftigen Seite gemäß zu machen oder die letztere zur herrschenden zu machen. Es ist z. B. ungebildet, wenn der Mensch sich seinem Zorne überlässt und blind nach diesem Affekt handelt, weil er darin eine Beleidi­gung oder Verletzung für eine unendliche Verletzung ansieht und sie durch eine Verletzung des Beleidigers oder anderer Ge­genstände ohne Maß und Ziel auszugleichen sucht. — Es ist ungebildet, wenn einer ein Interesse behauptet, das ihn nichts angeht oder wo er durch seine Tätigkeit nichts bewirken kann; weil man verständigerweise nur das zu seinem Interesse machen kann, wo man durch seine Tätigkeit etwas zu Stande bringt. — Ferner wenn der Mensch bei Begegnissen des Schicksals unge­duldig wird, so macht er sein besonderes Interesse zu einer höchst wichtigen Angelegenheit, als etwas, wonach sich die Menschen und die Umstände hätten richten sollen.

§42

Zur theoretischen Bildung gehört außer der Mannigfaltigkeit und Bestimmtheit der Kenntnisse und der Allgemeinheit der Gesichtspunkte, aus denen die Dinge zu beurteilen sind, der Sinn für die Objekte in ihrer freien Selbstständigkeit, ohne ein subjektives Interesse.

Erläuterung. Die Mannigfaltigkeit der Kenntnisse an und für sich gehört zur Bildung, weil der Mensch dadurch aus dem partikulären Wissen von unbedeutenden Dingen der Umgebung zu einem allgemeinen Wissen sich erhebt, durch welches er eine größere Gemeinschaftlichkeit der Kenntnisse mit andern Men­schen erreicht, in den Besitz allgemein interessanter Gegen­stände kommt. Indem der Mensch über das, was er unmittelbar weiß und erfährt, hinausgeht, so lernt er, dass es auch andere und bessere Weisen des Verhaltens und Tuns gibt und die sei­nige nicht die einzig notwendige ist. Er entfernt sich von sich selbst und kommt zur Unterscheidung des Wesentlichen und Unwesentlichen. — Die Bestimmtheit der Kenntnisse betrifft den wesentlichen Unterschied derselben, die Unterschiede, die den Gegenständen unter allen Umständen zukommen. Zur Bildung gehört ein Urteil über die Verhältnisse und Gegenstände der Wirklichkeit. Dazu ist erforderlich, dass man wisse, worauf es ankommt, was die Natur und der Zweck einer Sache und der Verhältnisse zu einander sind. Diese Gesichtspunkte sind nicht unmittelbar durch die Anschauung gegeben, sondern durch die Beschäftigung mit der Sache, durch das Nachdenken über ihren Zweck und Wesen und über die Mittel, wie weit dieselben rei­chen oder nicht. Der ungebildete Mensch bleibt bei der unmittel­baren Anschauung stehen. Er hat kein offenes Auge und sieht nicht, was ihm vor den Füßen liegt. Es ist nur ein subjektives Sehen und Auffassen. Er sieht nicht die Sache. Er weiß nur un­gefähr, wie diese beschaffen ist und das nicht einmal recht, weil nur die Kenntnis der allgemeinen Gesichtspunkte dahin leitet, was man wesentlich betrachten muss, oder weil sie schon das Hauptsächliche der Sache selbst ist, schon die vorzüglichsten Fächer derselben enthält, in die man also das äußerliche Dasein, so zu sagen, nur hineinzulegen braucht und also sie viel leichter und richtiger aufzufassen fähig ist.

Das Gegenteil davon, dass man nicht zu urteilen weiß, ist, dass man vorschnell über Alles urteilt, ohne es zu verstehen. Ein solch vorschnelles Urteil gründet sich darauf, dass man wohl einen Gesichtspunkt fasst, aber einen einseitigen und da­durch also den wahren Begriff der Sache, die übrigen Gesichts­punkte, übersieht. Ein gebildeter Mensch weiß zugleich die Grenze seiner Urteilsfähigkeit.

Ferner gehört zur Bildung der Sinn für das Objektive in seiner Freiheit. Es liegt darin, dass ich nicht mein besonderes Subjekt in dem Gegenstande suche, sondern die Gegenstände, wie sie an und für sich sind, in ihrer freien Eigentümlichkeit betrachte und behandle, dass ich mich ohne einen besonderen Nutzen da­für interessiere. — Ein solch uneigennütziges Interesse liegt in dem Studium der Wissenschaften, wenn man sie nämlich um ihrer selbst willen kultiviert. Die Begierde, aus den Gegenstän­den der Natur Nutzen zu ziehn, ist mit deren Zerstörung verbunden. — Auch das Interesse für die schöne Kunst ist ein un­eigennütziges. Sie stellt die Dinge in ihrer lebendigen Selbst­ständigkeit dar und streicht das Dürftige und Verkümmerte, wie sie von äußeren Umständen leiden, von ihnen ab. — Die objektive Handlung besteht darin, dass sie 1) auch nach ihrer gleichgültigen Seite die Form des Allgemeinen hat, ohne Will­kür, Laune und Caprice, vom Sonderbaren u. dgl. m. befreit ist; 2) nach ihrer inneren, wesentlichen Seite ist das Objektive, wenn man die wahrhafte Sache selbst zu seinem Zweck hat, ohne eigennütziges Interesse.

§43

Zur praktischen Bildung gehört, dass der Mensch bei der Be­friedigung der natürlichen Bedürfnisse und Triebe diejenige Be­sonnenheit und Mäßigung beweise, welche in den Grenzen ihrer Notwendigkeit, nämlich der Selbsterhaltung, liegt. Er muss 1) aus dem Natürlichen heraus, davon frei sein; 2) hingegen in seinen Beruf, das Wesentliche, muss er vertieft und daher 3) die Befriedigung des Natürlichen nicht nur in die Grenzen der Notwendigkeit einschränken, sondern sie auch höheren Pflich­ten aufzuopfern fähig sein.

Erläuterung. Die Freiheit des Menschen von natürlichen Trieben besteht nicht darin, dass er keine hätte und also seiner Natur nicht zu entfliehen strebt, sondern dass er sie überhaupt als ein Notwendiges und damit Vernünftiges anerkennt und sie dem­gemäß mit seinem Willen vollbringt. Er findet sich dabei nur insofern gezwungen, als er sich zufällige und willkürliche Ein­fälle und Zwecke gegen das Allgemeine schafft. Das bestimmte, genaue Maß in Befriedigung der Bedürfnisse und im Gebrauch der physischen und geistigen Kräfte lässt sich nicht genau an­geben, aber es kann Jeder wissen, was ihm nützlich oder schäd­lich ist. Die Mäßigung in Befriedigung natürlicher Triebe und im Gebrauch körperlicher Kräfte ist überhaupt um der Gesund­heit willen notwendig, denn diese ist eine wesentliche Bedin­gung für den Gebrauch der geistigen Kräfte zur Erfüllung der höheren Bestimmung des Menschen. Wird der Körper nicht in seinem ordentlichen Zustande erhalten, wird er in einer seiner Funktionen verletzt, so muss man ihn zum Zweck seiner Be­schäftigung machen, wodurch er etwas Gefährliches, Bedeuten­des für den Geist wird. — Ferner hat die Überschreitung des Maßes im Gebrauch der physischen und geistigen Kräfte, ent­weder durch das Zuviel oder Zuwenig, Abstumpfung und Schwäche derselben zur Folge.

Endlich ist die Mäßigkeit mit der Besonnenheit verbunden. Diese besteht im Bewusstsein über das, was man tut, dass der Mensch im Genuss oder in der Arbeit durch seine Reflexion sich überschaut und also diesem einzelnen Zustande nicht ganz hin­gegeben ist, sondern offen bleibt für die Betrachtung von Ande­rem, was auch noch notwendig sein kann. Bei der Besonnen­heit ist man aus seinem Zustande, der Empfindung oder des Geschäfts, zugleich mit dem Geist heraus. Diese Stellung, sich in seinen Zustand nicht vollkommen zu vertiefen, ist überhaupt beizwar notwendigen, aber dabei nicht wesentlichen Trieben und Zwecken erforderlich. Hingegen bei einem wahrhaften Zweck oder Geschäft muss der Geist mit seinem ganzen Ernst gegenwärtig und nicht zugleich außerhalb desselben sein. Die Besonnenheit besteht hier darin, dass man alle Umstände und Seiten der Arbeit vor Augen hat.

§44

Was den bestimmten Beruf betrifft, der als ein Schicksal er­scheint, so ist überhaupt die Form einer äußerlichen Notwendigkeit daran aufzuheben. Es ist mit Freiheit zu ergreifen und mit solcher auszuhalten und auszuführen.

Erläuterung. Der Mensch, in Rücksicht auf die äußerlichen Um­stände des Schicksals und Alles, was er überhaupt unmittelbar ist, muss sich so verhalten, dass er dasselbe zu dem seinigen macht, dass er ihm die Form eines äußerlichen Daseins benimmt. Es kommt nicht darauf an, in welchem äußerlichen Zustande der Mensch sich durch das Schicksal befindet, wenn er das, was er ist, recht ist, d. h. wenn er alle Seiten seines Berufs ausfüllt. Der Beruf zu einem Stande ist eine vielseitige Substanz. Er ist gleichsam ein Stoff oder Material, das er nach allen Richtungen hin durcharbeiten muss, damit dasselbe nichts Fremdes, Sprödes und Widerstrebendes in sich hat. Insofern ich es vollkommen zu dem Meinigen für mich gemacht habe, bin ich frei darin. Der Mensch ist vorzüglich dadurch unzufrieden, wenn er seinen Be­ruf nicht ausfüllt. Er gibt sich ein Verhältnis, das er nicht wahrhaft als das seinige hat. Zugleich gehört er diesem Stande an. Er kann sich nicht von ihm losmachen. Er lebt und handelt also in einem widerwärtigen Verhältnis mit sich selbst.

§45

Treue und Gehorsam in seinem Beruf, so wie Gehorsam gegen das Schicksal und Selbstvergessenheit in seinem Handeln, haben zum Grunde das Aufgeben der Eitelkeit, des Eigendünkels und der Eigensucht gegen das, was an und für sich und notwendig ist.

Erläuterung. Der Beruf ist etwas Allgemeines und Notwendiges und macht irgend eine Seite des menschlichen Zusammen­lebens aus. Er ist also ein Teil des ganzen Menschenwerkes. Wenn der Mensch einen Beruf hat, tritt er zu dem Anteil und Mitwirken an dem Allgemeinen ein. Er wird dadurch ein Objektives. Der Beruf ist zwar eine einzelne beschränkte Sphäre, macht jedoch ein notwendiges Glied des Ganzen aus und ist auch in sich selbst wieder ein Ganzes. Wenn der Mensch etwas werden soll, so muss er sich zu beschränken wissen, d. h. seinen Beruf ganz zu seiner Sache machen. Dann ist er keine Schranke für ihn. Er ist alsdann einig mit sich selbst, mit seiner Äußerlichkeit, seiner Sphäre. Er ist ein Allgemeines, Ganzes. — Wenn der Mensch sich etwas Eitles d. h. Unwesentliches, Nichtiges zum Zweck macht, so liegt hierbei nicht das Interesse an einer, sondern an seiner Sache zu Grunde. Das Eitle ist nichts an und für sich Bestehendes, sondern wird nur durch das Subjekt erhal­ten. Der Mensch sieht darin nur sich selbst; z. B. es kann auch eine moralische Eitelkeit geben, wenn der Mensch überhaupt bei seinem Handeln sich seiner Vortrefflichkeit bewusst ist und das Interesse mehr an sich als an der Sache hat. — Der Mensch, der geringe Geschäfte treu erfüllt, zeigt sich fähig zu größeren, weil er Gehorsam gezeigt hat, ein Aufgeben seiner Wünsche, Neigungen und Einbildungen.

§46

Durch die intellektuelle und moralische Bildung erhält der Mensch die Fähigkeit, die Pflichten gegen Andere zu erfüllen, welche Pflichten reale genannt werden können, da hingegen die Pflichten, die sich auf die Bildung beziehen, mehr formeller Natur sind.

§47

Insofern die Erfüllung der Pflichten mehr als subjektives Eigentum eines Individuums erscheint und mehr seinem natürlichen Charakter angehört, ist sie Tugend.

§48

Weil die Tugend zum Teil mit dem natürlichen Charakter zu­sammenhängt, so erscheint sie als eine Moralität von bestimm­ter Art und von größerer Lebendigkeit und Intensität. Sie ist zugleich weniger mit dem Bewusstsein der Pflicht verknüpft, als die eigentliche Moralität.

II. Familienpflicht

§49

Indem der Mensch gebildet ist, hat er die Möglichkeit zu han­deln. Insofern er wirklich handelt, ist er notwendig in Verhältnis mit anderen Menschen. Das erste notwendige Verhältnis, worin das Individuum zu Anderen tritt, ist das Familienverhältnis. Es hat zwar auch eine rechtliche Seite, aber sie ist der Seite der moralischen Gesinnung, der Liebe und des Zutrauens, untergeordnet.

Erläuterung. Die Familie macht wesentlich nur Eine Substanz, nur Eine Person aus. Die Familienglieder sind nicht Personen gegen einander. Sie treten in ein solches Verhältnis erst, inso­fern durch ein Unglück das moralische Band sich aufgelöst hat. Bei den Alten hieß die Gesinnung der Familienliebe, das Han­deln in ihrem Sinn, pietas. Die Pietät hat mit der Frömmigkeit, die auch mit diesem Wort bezeichnet wird, gemeinschaftlich, dass sie ein absolutes Band voraussetzen, die an und für sich seiende Einheit in einer geistigen Substanz, ein Band, das nicht durch besondere Willkür oder Zufall geknüpft ist.

§50

Diese Gesinnung besteht näher darin, dass jedes Glied der Fami­lie seine Wesen nicht in seiner eigenen Person hat, sondern dass nur das Ganze der Familie ihre Persönlichkeit ausmacht.

§51

Die Verbindung von Personen zweierlei Geschlechts, welche Ehe ist, ist wesentlich weder bloß natürliche, tierische Vereinigung, noch bloßer Zivilvertrag, sondern eine moralische Vereinigung der Gesinnung in gegenseitiger Liebe und Zutrauen, die sie zu Einer Person macht.

§52

Die Pflicht der Eltern gegen die Kinder ist: für ihre Erhaltung und Erziehung zu sorgen; die der Kinder, zu gehorchen, bis sie selbstständig werden, und sie ihr ganzes Leben zu ehren; die der Geschwister überhaupt, nach Liebe und vorzüglicher Billig­keit gegen einander zu handeln.

III. Staatspflichten

§53

Das natürliche Ganze, das die Familie ausmacht, erweitert sich zu dem Ganzen eines Volkes und Staates, in welchem die Indi­viduen für sich einen selbstständigen Willen haben. Erläuterung. Der Staat geht einerseits darauf hin, die Gesin­nung der Bürger entbehren zu können, nämlich insofern er sich von dem Willen der Einzelnen unabhängig machen muss. Er schreibt daher dem Einzelnen genau ihre Schuldigkeiten vor, nämlich den Anteil, den sie für das Ganze leisten müssen. Er kann sich auf die bloße Gesinnung nicht verlassen, weil sie eben sowohl eigennützig sein und sich dem Interesse des Staates entgegensetzen kann. — Auf diesem Wege wird der Staat Maschine, ein System äußerer Abhängigkeiten. Aber auf der anderen Seite kann er die Gesinnung der Bürger nicht entbehren. Die Vor­schrift der Regierung kann bloß das Allgemeine enthalten. Die wirkliche Handlung, die Ausfüllung der Staatszwecke, enthält die besondere Weise der Wirksamkeit. Diese kann nur aus dem individuellen Verstände, aus der Gesinnung des Menschen ent­springen.

§54

Der Staat fasst die Gesellschaft nicht nur unter rechtlichen Ver­hältnissen, sondern vermittelt als ein wahrhaft höheres morali­sches Gemeinwesen die Einigkeit in Sitten, Bildung und allge­meiner Denk- und Handlungsweise (indem Jeder in dem An­dern seine Allgemeinheit geistiger Weise anschaut und er­kennt) .

§55

In dem Geiste eines Volkes hat jeder einzelne Bürger seine gei­stige Substanz. Die Erhaltung der Einzelnen ist nicht nur auf die Erhaltung dieses lebendigen Ganzen begründet, sondern das­selbe macht die allgemeine geistige Natur oder das Wesen eines Jeden gegen seine Einzelheit aus. Die Erhaltung des Ganzen geht daher der Erhaltung des Einzelnen vor und Alle sollen diese Gesinnung haben.

§56

Bloß nach der rechtlichen Seite betrachtet, insofern der Staat die Privatrechte der Einzelnen schützt, und der Einzelne zunächst lauf das Seine sieht, ist gegen den Staat wohl eine Aufopferung eines Teils des Eigentums möglich, um das Übrige zu erhal­ten. Der Patriotismus aber gründet sich nicht auf diese Berech­nung, sondern auf das Bewusstsein der Absolutheit des Staats. Diese Gesinnung, Eigentum und Leben für das Ganze auf­zuopfern, ist um so größer in einem Volke, je mehr die Einzel­nen für das Ganze mit eigenem Willen und Selbsttätigkeit handeln können und je größeres Zutrauen sie zu demselben haben. (Schöner Patriotismus der Griechen.) (Unterschied von Bürger als Bourgeois und Citoyen.).

§57

Die Gesinnung des Gehorsams gegen die Befehle der Regierung, der Anhänglichkeit an die Person des Fürsten und an die Ver­fassung und das Gefühl der Nationalehre sind die Tugenden des Bürgers jedes ordnungsmäßigen Staates.

§58

Der Staat beruht nicht auf einem ausdrücklichen Vertrag Eines mit Allen und Aller mit Einem, oder des Einzelnen und der Regierung mit einander, und der allgemeine Wille des Ganzen Ist nicht der ausdrückende Wille der Einzelnen, sondern ist der absolut allgemeine Wille, der für die Einzelnen an und für sich verbindlich ist.

IV. Pflichten gegen Andere

§59

Die Pflichten gegen Andere sind zuerst die Rechtspflichten, wel­che mit der Gesinnung, das Recht um des Rechts willen zu tun, verknüpft sein müssen. Die übrigen dieser Pflichten gründen sieh auf die Gesinnung, die Andern nicht nur als abstrakte Per­son, sondern auch in ihrer Besonderheit sich selbst gleich zu halten, ihr Wohl und Wehe als das seinige zu betrachten und (lies durch tätige Hülfe zu beweisen.

§60

Diese moralische Denk- und Handlungsweise geht über das Recht hinaus. Die Rechtschaffenheit aber, die Beobachtung der strengen Pflichten gegen Andere, ist die erste Pflicht, die zu Grunde liegen muss. Es kann edle und großmütige Handlun­gen geben, die ohne Rechtschaffenheit sind. Sie haben alsdann ihren Grund in der Eigenliebe und in dem Bewusstsein, etwas Besonderes getan zu haben, dahingegen das, was die Recht­schaffenheit verlangt, für Alle geltende, nicht willkürliche Pflicht ist.

§61

Unter den besonderen Pflichten gegen die Anderen ist die Wahrhaftigkeit im Reden und Handeln die erste. Sie besteht in der Gleichheit dessen, was ist und dessen man sich bewusst ist, mit demjenigen, was man gegen Andere äußert und zeigt. — Die Unwahrhaftigkeit ist die Ungleichheit und der Widerspruch des Bewusstseins und dessen, wie man für Andere da ist, somit sei­nes Inneren und seiner Wirklichkeit und damit die Nichtigkeit an sich selbst.

§62

Zur Unwahrhaftigkeit gehört auch vorzüglich, wenn das, was man meint, eine gute Absicht oder Gesinnung sein soll, dage­gen, was man tut, etwas Böses ist. (Diese Ungleichheit zwi­schen der Gesinnung und dem, was die Handlung an sich ist, wäre wenigstens eine Ungeschicklichkeit, aber, insofern der Handelnde überhaupt Schuld hat, ist ein solcher, der Böses tut, dafür anzusehen, dass er es auch böse meint).

§63

Es setzt ein besonderes Verhältnis voraus, um das Recht zu haben, Jemand die Wahrheit über sein Betragen zu sagen. Wenn man dies tut, ohne das Recht dazu haben, so ist man insofern unwahr, dass man ein Verhältnis zu dem Andern auf­stellt, welches nicht statt hat.

Erläuterung. Eines Teils ist es das Erste, die Wahrheit zu sagen, insofern man weiß, dass es wahr ist. Es ist unedel, die Wahrheit nicht zu sagen, wenn es an seinem rechten Orte ist, sie zu sagen, weil man sich dadurch vor sich selbst und dem Andern erniedrigt. Man soll aber auch die Wahrheit nicht sagen, wenn man keinen Beruf dazu hat oder auch nicht einmal ein Recht. Wenn man die Wahrheit bloß sagt, um das Seinige getan zu haben, ohne weiteren Erfolg, so ist es wenigstens etwas lieber flüssiges, denn es ist nicht darum zu tun, dass ich die Sache gesagt habe, sondern dass sie zu Stande kommt. Das Re­den ist noch nicht die Tat oder Handlung, welche höher ist. — Die Wahrheit wird dann am rechten Ort und zur rechten Zeit gesagt, wenn sie dient, die Sache zu Stande zu bringen. Die Rede ist ein erstaunlich großes Mittel, aber es gehört großer Verstand dazu, dasselbe richtig zu gebrauchen.

§64

Mit der Verleumdung, welche eine wirkliche Lüge ist, ist das üble Nachreden verwandt, die Erzählung von solchen Dingen, die der Ehre eines Dritten nachteilig und dem Erzählenden nicht an und für sich offenbar sind. Es pflegt in missbilligendem Eifer gegen unmoralische Handlungen zu geschehen, auch mit dem Zusatz, man könne die Erzählungen nicht für gewiss ver­sichern und wolle nichts gesagt haben. Es ist aber in diesem Fall mit der Unredlichkeit verbunden, die Erzählungen, die man nicht verbreiten zu wollen vorgibt, durch die Tat wirklich zu verbreiten; und in jenem mit der Heuchelei, moralisch sprechen zu wollen und wirklich böse zu handeln.

Erläuterung. Heuchelei besteht darin, dass die Menschen böse handeln, sich aber gegen Andere den Schein geben, eine gute Absicht zu haben, etwas Gutes haben tun zu wollen. Die äußerliche Handlung ist aber nicht von der inneren verschieden. Bei einer bösen Tat ist auch die Absicht wesentlich böse und nicht gut gewesen. Es kann dabei der Fall sein, dass der Mensch etwas Gutes oder wenigstens Erlaubtes hat erreichen wollen. Man kann aber dabei nicht das, was an und für sich böse ist, zum Mittel von etwas Gutem machen wollen. Der Zweck oder die Absicht heiligt nicht die Mittel. Das moralische Prinzip geht vornehmlich auf die Gesinnung oder auf die Absicht. Aber es ist eben so wesentlich, dass nicht nur die Absicht, sondern auch die Handlung gut ist. — Eben so muss sich der Mensch nicht überreden, dass er bei dem gemeinen Handeln des individuellen Lebens wichtige, vortreffliche Absichten habe. Wie nun der Mensch einerseits seinen eigenen Handlungen gern gute Ab­sichten unterlegt und seine an und für sich unwichtigen Hand­lungen durch Reflexionen groß zu machen sucht, so geschieht es umgekehrt gegen Andere, dass er großen oder wenigstens guten Handlungen Anderer durch eine eigennützige Absicht etwas Böses beilegen will.

§65

Die Gesinnung, Andern mit Wissen und Willen zu schaden, ist böse. Die Gesinnung, welche sich Pflichten gegen Andere, auch gegen sich selbst zu verletzen erlaubt, aus Schwäche gegen seine Neigung, ist schlecht.

Erläuterung. Dem Guten steht das Böse, aber auch das Schlechte entgegen. Das Böse enthält, dass es mit Entschluss des Willens geschieht. Es hat also vor dem Schlechten das Formelle, eine Starke des Willens, die auch Bedingung des Guten ist, voraus. Das Schlechte hingegen ist etwas Willenloses. Der Schlechte geht seiner Neigung nach und versäumt dadurch Pflichten. Dem Schlechten wäre es auch recht, wenn die Pflichten erfüllt wür­den, nur hat er den Willen nicht, seine Neigungen oder Ge­wohnheiten zu bemeistem.

§66

Welche Dienste wir andern Menschen zu erweisen haben oder erweisen können, hängt von zufälligen Verhältnissen ab, in denen wir mit ihnen stehen, und von den besonderen Umstän­den, in denen wir uns selbst befinden. Sind wir im Stande, einem Andern einen Dienst zu tun, so haben wir nur dies, dass er ein Mensch ist, und seine Not zu betrachten. Erläuterung, Die erste Bedingung, Andern Hülfe zu leisten, be­steht darin, dass wir ein Recht dazu haben, nämlich sie als Notleidende zu betrachten und gegen sie als solche zu handeln. Es muss also die Hülfe mit ihrem Willen geschehen. Dies setzt eine gewisse Bekanntschaft oder Vertraulichkeit voraus. Der Bedürf­tige ist als solcher dem Unbedürftigen ungleich. Es hängt also von seinem Willen ab, ob er als Bedürftiger erscheinen will. Er wird dies wollen, wenn er überzeugt ist, dass ich ihn, dieser Ungleichheit ungeachtet, als einen mir Gleichen behandle und betrachte. — Zweitens muss ich die Mittel in Händen haben, ihm zu helfen. — Endlich kann es auch Fälle geben, wo seine Not offenbar ist und darin gleichsam die Erklärung seines Willens liegt, dass ihm geholfen werde.

 

§67

Die Pflicht der allgemeinen Menschenliebe erstreckt sich näher auf diejenigen, mit welchen wir im Verhältnis der Bekannt­schaft und Freundschaft stehen. Die ursprüngliche Einheit der Menschen muss freiwillig zu solchen näheren Verbindungen ge­macht worden sein, durch welche bestimmtere Pflichten ent­stehen.

{Freundschaft beruht auf Gleichheit der Charaktere, besonders des Interesses, ein gemeinsames Werk mit einander zu tun, nicht auf dem Vergnügen an der Person des Andern als solcher. Man muss seinen Freunden so wenig als möglich beschwerlich fallen. Von Freunden keine Dienstleistungen zu fordern, ist am Delikatesten. Man muss nicht sich die Sache ersparen, um sie Andern aufzulegen.)

§68

Die Pflicht der Klugheit erscheint zunächst als eine Pflicht gegen sich selbst in den Verhältnissen zu Andern, insofern der Eigen­nutz Zweck ist. — Der wahre eigene Nutzen wird aber wesent­lich durch sittliches Verhalten erreicht, welches somit die wahre Klugheit ist. Es ist darin zugleich enthalten, dass in Beziehung auf moralisches Betragen der eigene Nutzen zwar Folge sein kann, aber nicht als Zweck anzusehen ist.

§69

Insofern der eigene Nutzen nicht unmittelbar im moralischen Betragen liegt und von dem besonderen, im Ganzen zufälligen Wohlwollen Anderer abhängt, so befindet man sich hier in der Sphäre der bloßen Zuneigungen zu einander und die Klugheit besteht darin, die Neigungen der Anderen nicht zu verletzen und sie für sich zu erhalten. Aber auch in dieser Rücksicht ist das, was Nutzen bringt, eigentlich auch dasjenige, was sich an und für sich gehört, nämlich Andere darüber frei zu lassen, wo wir weder Pflicht noch Recht haben, sie zu stören, und durch unser Betragen ihre Zuneigung zu gewinnen.

§70

Die Höflichkeit ist die Bezeugung von wohlwollenden Gesin­nungen, auch von Dienstleistungen, vornehmlich gegen solche, mit denen wir noch nicht in einem näheren Verhältnisse der Bekanntschaft oder Freundschaft stehen. Sie ist Falschheit, wenn diese Bezeugung mit den entgegengesetzten Gesinnungen ver­bunden ist. Die wahre Höflichkeit aber ist als Pflicht anzusehen, weil wir wohlwollende Gesinnungen gegen einander überhaupt haben sollen, um durch Bezeugung derselben den Weg zu nähe­ren Verbindungen mit ihnen zu öffnen. (Einen Dienst, eine Ge­fälligkeit, etwas Angenehmes einem Fremden erweisen, ist Höf­lichkeit. Dasselbe aber sollen wir auch einem Bekannten oder freunde erweisen. Gegen Fremde und solche, mit denen wir nicht in näherer Verbindung stehen, ist es um den Schein des Wohlwollens und um nichts als diesen Schein zu tun. Feinheit, Delikatesse ist, nichts zu tun oder zu sagen, was nicht das Ver­hältnis erlaubt. — Griechische Humanität und Urbanität bei Sokrates und Plato.)

 


Zuletzt aktualisiert am 15.11.2007