Clara Zetkin

 

Brief an Nikolai Bucharin

(11. September 1927)


E. Reuter, W. Hedeler, H. Helas, K. Kinner (Hrg.): Luxemburg oder Stalin. Schaltjahr 1928 – Die KPD am Scheideweg, Karl Dietz Verlag, Berlin 2003, Dok.13.
Kopiert mit Dank von der verschwundenen Webseite Marxistische Bubliothek.
Transkription und HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Berlin, 11.IX.1927

Lieber Freund,

Nachricht über unser Eintreffen in Hamburg werden Sie durch Telegramm von Freunden und eingeschriebene Postkarte erhalten haben. Die Reise verlief programmgemäß, jedoch mit unfreiwilliger Verzögerung.

Seit ich hier bin, rekognosziere und prüfe ich das Terrain für die Entwicklungs-, Arbeits- und Kampfmöglichkeit der Partei. Ich habe zu diesem Zwecke nach und nach mit den Vertretern aller Parteien gesprochen, die Masloviten ausgenommen. Es versteht sich, daß ich dabei sorgfältig vermieden habe, was „fraktionsmäßig“ ausgelegt werden könnte.

Gleich bei meiner Ankunft erfuhr ich durch den gewiß vorsichtigen Wilhelm [Pieck], daß Teddy [Thälmann] seit seiner Rückkehr stark fraktions- oder wohl richtiger cliquenmäßig eingestellt sei und sich von Dengel, Schneller und anderen gegen die nötige Konzentration der Kräfte, ja sogar gegen das Zusammenarbeiten mit Meyer aufputschen lasse. Ich ließ mir daher angelegen sein, vor allen anderen mit Teddy [Thälmann] eine gründliche Aussprache zu haben. Darüber später. Natürlich hielt ich es für Recht und Pflicht, auch Meyer und einige andere Genossen zu hören. Darauf nahm ich an der Sitzung des Polbüros teil, die das Plenum der Z[entrale] vorbereiten sollte, ferner an den Sitzungen des Plenums, die zwei Tage dauerten. In folgendem meine Eindrücke.

Von den übrigen Verhandlungen des Plenums sei nur hervorgehoben, daß Referat und Diskussion über die wirtschaftlichen Kämpfe und die Gewerkschaftsarbeit eine altbekannte Tatsache bestätigen. Fritz [Heckert] kann nicht Leiter der Gewerkschaftsarbeit sein, wenn aus dieser mehr als ein bloßer Bluff werden soll. Ich verzichte auf weitere Darstellung dessen, was ist. Der Freund, der Ihnen diesen Brief überbringt, wird vollständiger berichten. Ich ziehe die praktischen Schlußfolgerungen für das, was meiner Meinung nach geschehen muß.

Die Cliquenwirtschaft um Teddy [Thälmann] und mit Teddy [Thälmann] muß durch kollektives Zusammenarbeiten ersetzt werden. Teddy [Thälmann] ist das Symbol revolutionärer proletarischer Führung der Partei, aber er selbst ist in der vorliegenden Situation kein Führer und kann kein Führer sein. Die kollektive Führung hat auf der Grundlage der Konzentration zu geschehen. Konzentration der Kräfte nicht bloß in der Z[entrale], vielmehr in allen leitenden und organisierenden Körperschaften der Partei von oben bis unten. Ganz abgesehen davon, daß A[ugust Thalheimer]s Rückkehr zur Durchführung des Kampfes mit der SPD und den Masloviten eine sachliche, politische Notwendigkeit ist, bedeutet sie innen- und außenparteilich den Beweis, daß die Konzentration der Kräfte keine papierene Phrase bleibt, sondern Tatsache wird. Sie wird das Signal sein für die Heranziehung weiterer tüchtiger Kräfte und die Gewinnung neuer. Die Gefahr ist nicht ausgeschlossen, daß der Beschluß sabotiert wird. Deshalb ist unerläßlich, daß ihr auf der schleunigsten Durchführung besteht, unerschütterlich fest in der Sache, klug in der Form.

Sobald Jacob [Walcher] von den Ärzten freigegeben ist, muß er die tatsächliche Leitung der Gewerkschaftsarbeit erhalten. Das Gejammer, daß es keine Kräfte für diese Arbeit gebe, ist falsch. Jannack in Remscheid-Solingen, Ehlers, Dantz und andere in Bremen, Westermann in Hamburg, Schönbeck und viele andere sogenannte „Rechte“ sind geschulte, erfahrene und begabte Gewerkschafter. Es ist höchste Zeit – auch in Hinblick auf die Wahlen –, daß die Partei sich ein Aktionsprogramm oder eine Plattform gibt. Es muß die kommunistische Ideologie als Grundlage haben, das ist unerläßlich. Über die einzelnen Forderungen, Etappenziele usw. muß und kann diskutiert werden. Diese Diskussion könnte durch den endlichen Abdruck des Artikels von Brandler eingeleitet werden. Diese Diskussion würde den Geist, das Denken und Studieren in der Partei beleben, der Gedankenarmut und dem Papagei[ge]plapper entgegenwirken, die leider zu deren Wesenszügen gehören.

Der Kampf mit den Masloviten außerhalb und innerhalb der Partei ist nicht wie bisher fast nur organisatorisch zu führen. Er muß auf die ideologische Überwindung abzielen. Dazu ist notwendig, daß die WKP authentisches Material über den Kampf mit der Opposition liefert. Es wird stürmisch verlangt. Wie war nur der Irrtum des Polbüros betreffs der Zitate gegen die Masloviten möglich? Er wird von diesen natürlich stark ausgenutzt. Alles wartet hier auf Aufklärung.

Zum Schluß: Leute wie Osten [Lominadse] sollten nie wieder nach hier kommen. Von offiziellen Lobhudlern abgesehen, sind alle der Meinung, daß er mehr geschadet als genutzt, den Konzentrationsprozeß aufgehalten und gestört habe. Dagegen wird allgemein die baldige Rückkehr Brauns [Ewert] gewünscht, obgleich man über seine mancherlei Unvollkommenheiten im Klaren ist. Meyer hält sich tapfer und klug, aber seine Stellung ist sehr schwer, sie muß gestärkt werden. Über besondere Kapitel, RFB und Frauenarbeit demnächst.

Ich lebe und halte mich. Ende der Woche geht’s nach Stuttgart, Sillenbuch.

Grüßen Sie alle Freunde, Ihnen selbst in treuer Freundschaft festen Händedruck.

Clara Zetkin


Zuletzt aktualisiert am 20.7.2008