Clara Zetkin

 

Ein Flammenzeichen

(28. Oktober 1907)


Die Gleichheit,Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Stuttgart, 28. Oktober 1907.
Nach Ausgewählte Reden und Schriften,Band I, S. 376–381.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Rings am Horizont unseres politischen und sozialen Lebens leuchten zahlreiche Flammenzeichen, welche den bewusst geführten, scharfen Kampf zwischen den Klassen künden. Jedoch höher als alle von ihnen erhebt sich die lodernde Feuersäule des Hochverratsprozesses, der gegen unseren Genossen Karl Liebknecht geführt worden ist und ihm 1½ Jahre Festungshaft gebracht hat.

Warum? Etwa weil sich Genosse Liebknecht, dem erhabenen Vorbild deutscher Fürsten der Vergangenheit folgend, wie sie von hohlem Ehrgeiz oder schmutziger Gewinngier getrieben, der Schmach schuldig gemacht hat, mit irgendeinem „Erbfeind“ gegen das Vaterland konspiriert und ihm Teile davon ausgeliefert zuhaben? Oder weil er – den herrschenden Klassen der Gegenwart gleich – teil an dem Frevel hat, in der Jagd nach Ausbeutungsgelegenheit und Profit durch wahnwitzige, täppische koloniale und weltpolitische Abenteuer Deutschland in einen Gegensatz zu anderen Staaten zu bringen und Kriegsgefahr heraufzubeschwören? Oder aber, weil er den Umsturz der deutschen Reichsverfassung erstrebt hätte wie die Boguslawski, Mirbach und andere Herren noch, die sehnsüchtig nach dem Manne mit dem kleinen Gehirn und der starken Faust rufen, welcher dem Reichstagswahlrecht an die Kehle springt?

Nichts von alledem ist der Fall. Wohl aber hat Genosse Liebknecht eine „Schuld“ auf sich geladen, die in der Meinung der herrschenden Gewalten alle ähnlichen Verbrechen zehnfach aufwiegt. Er hat in einem Schriftchen [1] rücksichtslose Kritik an dem Militarismus geübt, um den ausgebeuteten Massen die Augen über sein Wesen als Schürer von Kriegen, als schlimmstes Werkzeug und letzte, festeste Stütze der Klassenherrschaft der Besitzenden zu öffnen und ihren Willen auf den systematischen Kampf gegen den gefährlichen Feind zu richten.

Daher Räuber und Mörder, daher eine Aktion, die von der Erhebung der Anklage an bis zu dem Schuldig, das der höchste Gerichtshof des Reichs gesprochen, in allen ihren Einzelheiten eine Kette von juristischen, logischen und moralischen Ungeheuerlichkeiten ist.

Der Prozess glich dem Untier der Sage, dem für ein abgeschlagenes Haupt zwei neue erwuchsen. Für die Anklage eines hochverräterischen Verbrechens, das die Verteidigung zerstörte, entstand die eines neuen umstürzlerischen Frevels, und die feinsten und wuchtigsten juristischen Waffen mussten sich als wirkungslos erweisen, das Ungetüm zur Strecke zu bringen, weil dieses seine Lebenskraft nicht aus dem Recht zog, sondern aus der Politik, aus der Herrschaftsstellung der besitzenden und ausbeutenden Klassen. Als Rechtssache ist die Anklage auf Hochverrat kläglich den glänzenden Klingen der Verteidigung unterlegen – darüber kann der formale Ausgang des Prozesses nicht täuschen. Lediglich als politischer Handel hat sie triumphiert und hätte sie triumphieren müssen – wie die Dinge gegenwärtig bei uns gelagert sind –, auch wenn sie auf noch schwächeren Füßen gestanden hätte, als es tatsächlich der Fall gewesen ist.

Der Hochverratsprozess sollte eben nicht das verletzte Recht schützen, vielmehr die bedrohte Herrschaftsstellung der Minderheit. Er war ein politischer Tendenzprozess der gehässigsten, aber lehrreichsten Art, welcher zugunsten dieser Herrschaftsstellung die verfassungsmäßig zugesicherte Freiheit der wissenschaftlichen Forschung und Kritik, der Meinung und ihrer Bekundung unter die Füße stampfte und geistig-politische Waffen zerbrach, welche die bürgerlichen Klassen einst selbst in ihrem Kampfe gegen die feudale Gesellschaft geführt haben, die aber in der Hand des klassenbewussten Proletariats der kapitalistischen Ordnung verhängnisvoll sind. Sein offensichtlicher Zweck war, den Militarismus als sakrosankt gegen jede kritische Beleuchtung zu schützen, die er als Herrschaftsinstrument der Besitzenden nicht erfahren kann, ohne an seiner Verwendbarkeit einzubüßen, ja, diese allmählich ganz zu verlieren.

Es ist behauptet worden, dass die Fäden des ungeheuerlichen Prozesses im Kriegsministerium zusammenlaufen. Das mag sein. In Wirklichkeit jedoch sind die Kräfte, die von dort aus die Fäden gezogen haben, nur die Geschobenen. Der letzte und machtvollste Anstifter des Prozesses ist das Lebensinteresse der bürgerlichen Gesellschaft selbst, die über die wachsende Verschärfung des Klassenkampfes und über ihre immer größere Bedrohung durch die Heerhaufen des klassenbewussten Proletariats quittiert, die es unumwunden ausspricht, dass sie die letzte und stärkste Hoffnung für ihre Dauer auf die Dreieinigkeit der Infanterie, Kavallerie und Artillerie setzt. Diese Tatsache ist dick unterstrichen worden durch den lauten oder kaum gedämpften Jubel, mit welchem die gesamte bürgerliche Presse, von der konservativen an bis zu der so genannten freisinnigen hinauf oder hinab – von verschwindenden Ausnahmen abgesehen –, den Ausgang des Prozesses begrüßt hat: ein weithin hallendes Echo des Interesses und Wollens der einen reaktionären Masse, die sich, je länger, je öfter, gegen das klassenbewusste Proletariat zusammenfindet.

Wie stets in der Geschichte, bekunden die herrschenden Klassen auch jetzt wieder den feinsten Instinkt für die Stelle, wo sie sterblich, wo sie am tiefsten verwundbar sind. Indem sie die Klassenjustiz aufrufen, die schützende Hand juristischer Deutelungen über den Militarismus zu breiten und ihre schwersten Strafen über die zu verhängen, die ihn prüfend anzutasten wagen, lenken sie die Blicke des Proletariats mit Gewalt auf den Punkt, wo die bürgerliche Klassenherrschaft tödlich getroffen werden kann und getroffen werden muss. Die Rückwirkung des Prozesses wird daher sein, dass dieses in seinem Kampfe gegen die bürgerliche Ordnung im allgemeinen und den Militarismus im besondern nicht etwa feige geschreckt abrüstet, sondern im Sinne und Geiste der Resolution des Internationalen Kongresses zu Stuttgart zielklar und kräftigst aufrüstet. Die Sozialdemokratie hat bereits damit begonnen, indem der Parteivorstand den Beschluss fasste, die Verhandlungen gegen den Hochverräter als Broschüre in Massenauflage zu verbreiten.

Dank dem Prozesse wird die Stimme des verurteilten und inhaftierten Liebknecht zum Kampfe gegen den Militarismus mehr Proletarierhirne revolutionieren, als der freie Liebknecht in Jahren alltäglicher Agitationsarbeit je zu gewinnen vermocht hätte.

Man kann jedoch das bedeutsame sachliche Ergebnis des Hochverratsprozesses nicht würdigen, ohne auch des starken persönlichen Momentes zu gedenken, das zu seinem Gepräge beigetragen hat und dessen Wirkung nicht gering anzuschlagen ist. Liebknechts ebenso männlich fester als klug besonnener Haltung kommt unstreitig ihr gut Teil Verdienst daran zu, dass eben das sachliche Ergebnis des Prozesses so rein und reich ist und so klar, scharf umrissen in Erscheinung tritt. In richtiger Wertung dessen, was ist, hat er von Anfang an darauf verzichtet, hinter dem Schutzwall papierner Gesetzesparagraphen Bergung zu suchen und um seine Überzeugung und sein Recht mit spitzfindigen juristischen Silbenstechereien zu kämpfen. Großzügig hat er den Rechtshandel als politischen Tendenzprozess durchgeführt, welcher der sozialistischen Auffassung gemacht wurde, welcher im letzten Grunde der unaufhaltsamen geschichtlichen Entwicklung selbst galt, und mit energievoller Entschlossenheit und Würde hat er das Banner der Partei im Lager erbitterter Gegner entfaltet, ein lebendiger Beweis von der Macht der Idee, ein Beispiel für alle, die kämpfen.

Wir aber wollen an dieser Stelle nicht vergessen, dass Frauenwerk in der Tat des Mannes enthalten ist. Was Liebknecht geworden ist und was er für die Sache des Proletariats leisten konnte, das verdankt er mit einer Mutter, die unter den schwersten äußeren Nöten, die der politische Kampf der Familie schuf, redlich bemüht gewesen ist, in dem Sohne zu freiem, starkem Leben das Beste des Vaters heranreifen zu lassen, der sich selbst mit Stolz einen „Soldaten der Revolution“ nannte; das verdankt er mit einer Mutter, die jetzt, wo die Jahre Schnee auf ihren Scheitel gehäuft, den Sohn für lange Monde mit der gleichen hingebungsvollen Fassung hinter Festungsmauern verschwinden sieht, mit der das junge Weib einst die Gefangenschaft des „hochverräterischen“ Gatten getragen hat. Wenn wir das alles besonders hervorheben, so geschieht es nicht nur, um, wie billig, Anerkennung zu zollen, wo Anerkennung gebührt. Wir werten vielmehr auch das schöne Vorbild, das unseren Frauen erscheint, die Mütter sind und Mütter im höchsten Sinne des Wortes sein wollen. Mag es sie im Schein des lodernden Flammenzeichens des neuesten großen Tendenzprozesses lehren, ihre Kinder nach der Weisung der Stuttgarter Resolution mit der sozialistischen Weltanschauung zu erfüllen. Sie tragen dann das ihrige und das Wirksamste zur inneren Zermürbung des Militarismus bei. Denn sie entwickeln in der Jugend den Geist internationaler Brüderlichkeit, der den ausbeutungs- und machtlüsternen Mordspatriotismus der herrschenden Klassen überwindet; den Geist proletarischen Klassenbewusstseins, der, wenn Hochverräter von oben das Halali gegen den „inneren Feind“ blasen, in die richtige Kampffront führt und mit dem alten „Marschall Vorwärts“ sagt: „Wo steht der Feind? Der Feind steht hier, Den Finger drauf! Den schlagen wir!“

* * *

Anmerkung

1. Karl Liebknecht, Militarismus und Antimilitarismus unter besonderer Berücksichtigung der Internationalen Jugendbewegung,1907.


Zuletzt aktualisiert am 18. November 2024