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Die Gleichheit,Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Stuttgart, 19. August 1907.
Stark gekürzt in Ausgewählte Reden und Schriften,Band I, S. 340–343.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
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Seit die Vertreter der revolutionären Arbeiterbewegung aller Länder das letzte Mal in Amsterdam getagt haben, ist ein weltgeschichtliches Ereignis von unvergleichlicher Bedeutung angebrochen. Die Revolution in Russland, deren Schatten der Krieg mit Japan damals voraus warf, ist in kühnem Anlauf in die Zeiten anscheinend ruhiger Entwicklung gestürmt. Und sie lebt unbezwingbar weiter in einem wechselvollen Auf und Ab, das sie bald triumphierend, hoch auf dem Wogenkamm geschichtlichen Lebens, glänzender Erfolge, zeigt und bald den Anschein erweckt, als sei sie vom Abgrund reaktionärer Gewalten verschlungen. Wenn das Ziel der russischen Revolution in der Hauptsache auch die Errichtung eines bürgerlich-konstitutionellen Staates ist, so ist sie dennoch eine proletarische Revolution, die erste Revolution, in welcher die Arbeiterklasse als politisch selbständiger Faktor, als wichtigste, bewusst treibende und führende Kraft auftritt. Aber während das junge russische Proletariat sich anschickt, den Absolutismus zu Boden zu ringen und damit der politischen Herrschaft der Kapitalistenklasse, der Entwicklung des Kapitalismus die Wege zu ebnen, lassen sich die Kapitalisten der ganzen Welt angelegen sein, das wankende Gebäude des Zarismus mit goldenen Balken zu stützen. Vor allem aus Hass gegen die Revolution, aus Furcht vor dem Proletariat. Sie fühlen die internationale Tragweite der revolutionären Periode, die in Russland angebrochen ist, und sie zittern um so mehr vor ihr, je reißender die kapitalistische Entwicklung allüberall vorwärts treibt.
Die russische Revolution ist für die Theorie und Praxis der Sozialistischen Internationale eine wahre Fundgrube der Erkenntnis geworden, deren Schätze sorgsames Studium heben muss. Zwei Probleme aber sind es besonders, welche durch die Vorgänge in Russland scharf beleuchtet worden sind: der Massenstreik und – in den Ländern älterer kapitalistischer Entwicklung – die Verschärfung der Klassengegensätze und des Klassenkampfes, in welchen die internationale Reife des Kapitalismus ihren Ausdruck findet. Beide wurden noch in Amsterdam heiß umstritten. Nun haben die Vorgänge in Russland – wie Genossin Luxemburg in ihrer Broschüre meisterhaft aufgezeigt hat – hellstes Licht auf das Wesen, auf die Bedeutung des Massenstreiks als eines revolutionären proletarischen Kampfmittels geworfen. Und die reaktionäre Rolle, welche das internationale Kapital, einer modernen „heiligen Allianz“ gleich, im Kampfe gegen die russische Revolution spielt, lässt einen Rückschluss darauf zu, wie bedroht es sich in seiner Herrschaft fühlt, weil all die Gegensätze, welche die kapitalistische Produktion und Ordnung in sich schließt, immer rascher und mächtiger zur Entfaltung gelangen und zu kräftigeren Auseinandersetzungen zwischen der ausbeutenden Minderheit und den ausgebeuteten Massen treiben. Die Verschärfung des Klassenkampfes ist denn auch in allen Ländern die Signatur der letzten Jahre gewesen. Das bezeugt der wachsende Umfang und die erbitterte Zähigkeit der Schlachten, in denen die organisierten Arbeiter und die organisierten Unternehmer auf wirtschaftlichem Gebiete miteinander ringen, Schlachten, die öfter und öfter zu Kämpfen der Klassen werden, in denen es über das aufgepflanzte Ziel hinaus um die Existenz der Arbeiterorganisationen und die unbeschränkte Macht des „Herrseins im Hause“ des Unternehmertums geht. Das verkünden ebenso unzweideutig die hervorstechendsten Vorgänge des politischen Lebens: der Zusammenschluss der bürgerlichen Parteien zu Schutz und Trutz wider den „Umsturz“ mit der so äußerst bezeichnenden Konzentration der bürgerlichen Demokratie nach rechts; die Mägdedienste, welche die Justiz, die Schergendienste, welche das Heer in den bürgerlichen Republiken gegen die kämpfenden Habenichtse leisten muss; die abenteuerliche, bluttriefende kapitalistische Kolonialpolitik, welche Welthändel in ihrem Schoß trägt – von anderen bedeutsamen Zeichen der Zeit zu schweigen.
Was die Geschichte das kämpfende Proletariat seit Amsterdam gelehrt hat, das kann nicht spurlos an den Stuttgarter Verhandlungen vorübergehen. Die Frage der Wanderungen von Arbeitskräften, die für den Ausgang der gewerkschaftlichen Kämpfe steigende Bedeutung gewinnen, weist geradezu handgreiflich auf die rapid auflösende, umwälzende Entfaltung des Kapitalismus und die Erweiterung und Zuspitzung der Kämpfe hin, in denen er sich mit den organisiertesten Rebellen gegen seine Herrschaft messen muss. Die Erörterung des Verhältnisses zwischen sozialdemokratischer Partei und Gewerkschaften kann nur unter einer Voraussetzung nachhaltig fruchtbar sein. Dass sie den Ursachen nachgeht, welche in unseren Tagen mehr denn je die beiden Formen des proletarischen Klassenkampfes zu einer innerlich fest verbundenen Ganzheit zusammenschweißen: zur revolutionären Arbeiterbewegung, die in steter innerer Kampfesbereitschaft alle Waffen prüfen muss, die sie in ihrem Kampfe anwenden kann, ja unter Umständen anzuwenden gezwungen ist. Eie grundsätzliche Stellungnahme zur kapitalistischen Kolonialpolitik ist unmöglich, ohne dass der Reifegrad in Betracht gezogen wird, den die kapitalistische Produktion erreicht hat. Zusammen mit der weltwirtschaftlichen und machtpolitischen Entwicklung drängt sich aber damit die andere auf; nach den inneren Verknüpfungen, die zwischen ihr, der reaktionären Kolonialpolitik des krachenden Kapitalismus als naturnotwendiger Ergänzung seiner reaktionären Heimatpolitik und dem Ansturm des Proletariats gegen die kapitalistische Ordnung besteht. Auch die praktische Wichtigkeit des Frauenwahlrechts für die proletarische Emanzipationsbewegung kann nur unter dem Gesichtswinkel der aufgezeigten Situation voll und ganz gewürdigt werden. Sie beruht in dem bewussten Aufnehmen des Klassenkampfes seitens umfangreicher und bis jetzt leider träger, ja dem Sozialismus feindlicher Massen des Proletariats. Und der Verwandlung der Proletarierinnen aus geduldigen, stumpfsinnigen Kreuzesträgerinnen in zielklare, mutvolle Kämpferinnen kommt in dem Maße steigende Bedeutung zu, als die Zusammenstöße zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten härter, kraft- und opferheischender werden, als revolutionäre Situationen sich entwickeln, welche unaufhaltsam zum Massenstreik drängen.
Am klarsten werden jedoch sicherlich die Erörterungen über den Antimilitarismus die zugespitzte Situation widerspiegeln. Über die Verpflichtungen, die aus ihr der sozialistischen Partei im Kampfe gegen den Militarismus erwachsen, und zwar nicht bloß, um den Frieden zwischen den Nationen zu sichern, sondern vor allem auch, um das letzte und gefährlichste Herrschaftsinstrument der ausbeutenden Klasse unschädlich zu machen, ja in ein Werkzeug der Revolution zu verwandeln – dürften voraussichtlich die leidenschaftlichsten Auseinandersetzungen entbrennen. In den einzelnen Ländern liegen die Verhältnisse sehr verschieden, unter denen das Proletariat im Kampfe gegen den Militarismus steht. Vor allem aber ist für die Wucht und die Schärfe dieses Kampfes ausschlaggebend, in welch tiefer, geistiger Scheidung sich die proletarischen Massen von der verlogenen patriotischen Ideologie der herrschenden Schichten losgelöst haben und ihre Aufgabe nicht unter allen Umständen in der Verteidigung des bürgerlichen Nationalstaats erblicken – das Vaterland der besitzenden –, vielmehr in der energischen Vertretung der Klasseninteressen gegen die Besitzenden.
Die verschiedenen hervorstehenden internationalen Gewerkschaftskongresse behandeln fast ausschließlich den Ausbau und die Festigung internationaler Beziehungen zwischen dem organisierten, wirtschaftlich kämpfenden Proletariat. Was internationale Tagungen bis jetzt in dieser Hinsicht geleistet haben, hat zum Teil wesentlich fördernd auf die nationale Entwicklung der Gewerkschaften zurückgewirkt. Die Einsicht bricht sich auch in Ländern mit schwacher Gewerkschaftsentwicklung mehr und mehr Bahn, dass der Aufbau der nötigen internationalen Organisation die Fertigung, Ausdehnung und Einheitlichkeit der nationalen Gewerkschaften zur Voraussetzung hat. Nicht minder ist der klassenbewusste Geist erstarkt, der Leben und Odem der Gewerkschaften sein muss, wenn sie ihre Aufgabe im Kampfe zwischen Arbeit und Kapital erfüllen wollen. Sowohl was den organisatorischen Ausbau der gewerkschaftlichen Internationale anbelangt, wie ihre Durchsäuerung mit der geschichtlichen Auffassung, welche ihr der wissenschaftliche Sozialismus als wertvollstes geistiges Rüstzeug geschaffen hat: dürfen die deutschen Gewerkschaften das hervorragendste Verdienst an ihrer günstigen Entwicklung beanspruchen. Es ist ihre theoretische Schulung, es ist der Ideengehalt des Sozialismus, der sie zu ihren Leistungen befähigt hat. Diese Schulung trug sie über ein enges, zünftiges Nichts-als-Gewerkschaftertum hinweg, hieß sie sich entschieden auf den Boden des Klassenkampfes stellen und in engster innerer Fühlung mit der Sozialdemokratie in Reih und Glied der revolutionären Arbeiterbewegung marschieren. Wie nüchtern praktisch und „realpolitisch“ die arbeiten der internationalen Gewerkschaftskongresse auch scheinen mögen: sie werden der oben skizzierten Lage entsprechend wahrlich nicht im Zeichen gewerkschaftlichen Abrüstens zum „sozialen Frieden“ mit der Kapitalistenklasse stehen, sondern in dem des Aufrüstens.
Die Internationale sozialistische Frauenkonferenz beansprucht neben den anderen internationalen Beratungen nur ein bescheidenes Plätzchen. Sie ist ein erster tastender Versuch, zwischen den organisierten Sozialistinnen der verschiedenen Länder eine regelmäßige Fühlung zu schaffen. Das aber zu dem Zwecke, in Hauptfragen eine einheitliche grundsätzliche Haltung der sozialistischen Frauenbewegung herbeizuführen, sie immer fester mit der allgemeinen sozialistischen Bewegung zu verbinden und dadurch die Kraft und den Erfolg ihres Wirkens und Kämpfens zu erhöhen. Der Versuch ist schwierig. In den einzelnen Ländern steht die sozialistische Frauenbewegung auf den verschiedensten Stufen innerer und äußerer Entwicklung, hier von grundsätzlicher Klarheit getragen, einheitlich und – die ausschlaggebenden Verhältnisse berücksichtigt – gut organisiert, dort dagegen zersplittert, kaum zusammengefasst und noch nicht ganz frei von bürgerlich-frauenrechtlerischen Gedankengängen. Aber die Genossinnen, die als Vertreterinnen sozialistischer Frauen- und Arbeiterinnenorganisationen berufen sind, an dem ersten schwierigen Versuch mitzuarbeiten, bringen den ernsten Willen mit, das internationale Werk grundsätzlicher Klärung und Verständigung zu fördern. Die deutschen Genossinnen heißen sie herzlich willkommen. Sie wissen, dass die Konferenz in die Strategie, in die Methoden der sozialistischen Frauenbewegung der verschiedenen Länder nicht schulmeisternd eingreifen darf. Sie sind sich aber auch klar darüber, dass ihre Aufgabe sein muss, was je und je das Werk der allgemeinen internationalen sozialistischen Kongresse gewesen ist: bestimmte grundsätzliche Richtlinien für die praktische Arbeit zu ziehen. Und auch für die sozialistische Frauenbewegung aller Länder zeigen diese Richtlinien nicht nach rechts, nicht auf Verständigung und Harmonie mit der bürgerlichen Welt, vielmehr nach links, zu immer völligerer Loslösung von ihr, zu schärfstem Kampfe gegen sie.
Aus den Stuttgarter sozialistischen Tagungen in ihrer Gesamtheit wird der starke, schöpferische Odem der langsam aber sicher nahenden Revolution wehen, welche, auch wenn sie Zuchthauskleider trägt oder die Spindel ruhiger Alltagsarbeit schwirren lässt, der kapitalistischen Ordnung zuruft:
“Ich war, ich bin, ich werde sein!“
Zuletzt aktualisiert am 17. November 2024