Clara Zetkin

 

Unser Patriotismus

(Mai/Juni 1907)


Die Gleichheit,Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Stuttgart, 27. Mai, 10. und 24. Juni 1907.
Nach Ausgewählte Reden und Schriften,Band I. S. 316–338.
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Sozialdemokratie und Patriotismus, das ist das Ratespiel, an dem sich die bürgerliche Welt in letzter Zeit ebenso müßig als sinnlos ergötzte. Alles Gerede und Vermuten darüber, ob die Sozialdemokratie bei ihrer viel geschmähten „Vaterlandslosigkeit“ verharre oder sich allmählich zu einem salonrespektablen Patriotismus „durchzumausern“ beginne, beleuchtet scharf, dass ein Ozean von Gegensätzen zwischen dem bürgerlichen und dem proletarischen Empfinden und Denken, Wollen und Handeln flutet. Deutlichst lässt es die „beiden Nationen“ in Erscheinung treten, die nach dem englischen Staatsmann und Schriftsteller Disraeli jedes moderne Land umschließt und die sich so fremd geworden sind, dass sie einander nicht mehr verstehen. National und international, patriotisch und vaterlandslos: Das sind Worte, die für das kämpfende Proletariat Träger ganz anderer Begriffe und Kündiger ganz anderer Willensimpulse sind als für die satte und reaktionäre Bourgeoisie. Und keineswegs sind es „blutleere, verknöcherte Dogmen und Prinzipien“, welche unsere Stellung zum bürgerlichen kursfähigen Patriotismus bestimmen, sondern die lebendige geschichtliche Wirklichkeit ist maßgebend dafür, deren geistiges Spiegelbild unsere Grundsätze sind. Diese Stellung kann daher auch nicht durch das Reden oder Meinen einzelner Persönlichkeiten umgeblasen oder auch nur erschüttert werden, denn sie wurzelt im festen Mutterboden der proletarischen Klassenlage und der proletarischen Klasseninteressen.

Auf den Vorwurf, die Sozialdemokratie wolle „das Vaterland, die Nationalität abschaffen“, kann das klassenbewusste Proletariat noch heute, ja, heute mit mehr Recht als seinerzeit mit den stolzen Sätzen des Kommunistischen Manifests antworten:

„Die Arbeiter haben kein Vaterland. Man kann ihnen nicht nehmen, was sie nicht haben. Indem das Proletariat zunächst sich die politische Herrschaft erobern, sich zur nationalen Klasse erheben, sich selbst als Nation konstituieren muss, ist es selbst noch national, wenn auch keineswegs im Sinne der Bourgeoisie.“ [1]

Mit sicherer Knappheit sprechen diese Sätze aus, dass das Proletariat weder patriotisch noch vaterlandslos nach der bürgerlichen Auffassung sein kann, weisen sie sowohl auf die negative wie auf die positive Aufgabe der Sozialdemokratie in puncto Patriotismus hin. Die unerbittliche, schonungslose Kritik an dem hoch zinsenden Bourgeoispatriotismus ist die eine, der unablässige Kampf; um den Staat der Ausbeutenden zu einem wahren Vaterland für die Ausgebeuteten zu erheben, das ist die andere. Das Proletariat muss sich sein Vaterland erst erobern. Nicht im Kampfe gegen eine fremde Nationalität oder Rasse, die seine „heiligsten Güter“ bedroht, wohl aber im Kampfe gegen die besitzenden, ausbeutenden und herrschenden Klassen, die ihm rauben, was das Geburtsland zum Vaterland macht.

Wie denn liegen die Dinge für jeden, der nicht Betrogener oder Betrüger sein will? Die Stammes- und Nationalitätsgemeinschaft ist in den modernen Gesellschaftsorganismen keine Kraft, welche die Klassenunterschiede aufhebt oder auch nur ihrer wachsenden Verschärfung entgegenwirkt, um Arme und Reiche, Ausgebeutete und Ausbeuter, Knechte und Herren, als „ein einig Volk von Brüdern“ zusammenzuschweißen. Die Klassenscheidung erweist sich mächtiger als sie. Das geschichtliche Verhältnis, in dem Ausbeuter und Ausgebeutete zueinander stehen, zerreißt wie andere „natürlichen“ Bande unbarmherzig auch die zwischen den Volksgenossen und lässt kein anderes Band zwischen ihnen übrig „als das nackte Interesse, als die gefühllose bare Zahlung“. Dank der herrschenden bürgerlichen Ordnung stehen die besitzenden Klassen den werktätigen Massen in der Machtposition von Eroberern, Herrschern, Unterdrückern gegenüber. Und wahrlich: Keine Stammesgemeinschaft, kein Nationalitätsprinzip hindert sie daran, diese ihre Macht zu gebrauchen und zu missbrauchen.

Fremdherrschaft kann die Werktätigen nicht gründlicher schröpfen und plündern, als dies tagaus, tagein die ausbeutenden Klassen besorgen, die am Marke des Volkes zehren. In Hunderttausenden ärmlicher Hof- und Dachwohnungen und dumpfiger Hütten sind die wände kahl, die Schränke leer. Warum? Etwa weil Feinde von Ost oder West raubend ins Land gefallen sind? Mitnichten: Weil ihre Bewohner von den reichen Früchten ihrer mühevollen Arbeit in Gestalt des Lohnes nicht genügend bekommen, um sich ein behagliches Heim und Wohlstand schaffen zu können. Mitten im Frieden, auf ganz legitime Weise, rechtlich unanfechtbar, vom Gesetz geheiligt und geschützt, geht die Ausplünderung vor sich. Wie viele sind der Familien, in denen das ausbeutende Kapital rücksichtslos wie der brutalste Kriegsmann den Herd in Trümmer schlägt und Weib und Kinder zartesten Alters als Lohnsklaven an seinen Triumphzug fesselt, seiner Profitsucht dienstbar macht? Unbeschwert durch patriotische Bedenken verurteilt der steinreiche Unternehmer Arbeiter und Arbeiterinnen durch Lohnkürzungen und kapitalistische Ausbeutungskniffe zum Entbehren und Darben. Seelenruhig wirft er die teuren Volksgenossen aufs Pflaster, um sie durch billigere Fremdlinge aus aller Herren Länder zu ersetzen. Mittels der Hungerpeitsche der Schwarzen Listen treibt er Mann und Frau aus der Heimat und hetzt sie gleich Nomaden von Ort zu Ort. Zum Niederreiten „meuternder“ Lohnsklaven ruft er immer öfter ausländische Streikbrecher ins Land, die ihm um so willkommener und wertvoller sind, je tiefer sie noch in der Unkultur stecken.

Der fremde Eroberer kann nicht fühlloser, gewissenloser die Zeit, die Gesundheit, das Leben selbst der Unterjochten einfordern, als das die ausbeutenden Klassen tun. Diese legen Beschlag auf die Stunden, die der Erholung, der Bildung, dem Familienleben, dem freundschaftlichen Verkehr der Frondenden dienen sollten; um ihres Profits willen brechen sie ihnen sogar von der Zeit ab, die für Essen und Schlaf notwendig ist. Durch Überarbeit, ungesunde Arbeitsbedingungen und elende Entlohnung bringen sie die Jugend der Werktätigen vor der Zeit zum Altern, kürzen sie ihre Lebensdauer um Jahrzehnte. Ihrer Profitwut fallen alljährlich auf dem Schlachtfeld der Industrie weit größere Scharen zum Opfer, als die blutigsten Kriege sie heischen, von den Ungezählten, Zahllosen zu schweigen, welche ein Berufsleiden, welche die Proletarierkrankheit dahinrafft, welche in den Jammerhöhlen der Heimarbeit leiblich und geistig verkümmern. Die besitzenden Klassen kennen nur einen Maßstab für ihr Verhältnis zu den nichtbesitzenden Massen: den Profit. Wie alles Geheiß der Natur, der Sittlichkeit, der Religion, so stampfen sie um des Profits willen auch alle Gebote des Patriotismus unter die Füße. Sie kennen bei Ausbeutungsgeschäften keine Volksgenossen, sondern nur Hände, Nummern, Arbeitskräfte, aus denen es den höchstmöglichen Gewinn herauszuwirtschaften gilt, und zwar mit. den geringsten Unkosten und um jeden Preis.

Welcher Anteil fällt in der Folge den Arbeitern und Arbeiterinnen vom Nationalvermögen zu, mit dessen Milliarden bürgerliche Gelehrte und Politiker blendendes Gaukelspiel treiben und das ohne die wertschaffende Arbeit der Massen nicht wäre? Zuwenig zum Leben, zuviel zum Sterben, auch wenn man für viele Hunderttausende an das zum Leben Notwendige nicht einmal den Maßstab einer kulturwürdigen Existenz anlegt. Das ist die Antwort, welche die Einkommensstatistik aller kapitalistischen Länder gibt, welche die Zahlen der deutschen Berufsgenossenschaften über das durchschnittliche Jahreseinkommen der Arbeiter schreiben, welche uns aus anderen unanfechtbaren Dokumenten entgegengrinst. Das wissen die Proletarier auch ohne statistische Nachweise, denn sie empfinden es täglich, stündlich am eigenen Leibe.

Die harten Tatsachen aber, die dem Wirtschaftsleben der Nation das Gepräge aufdrücken: der Interessengegensatz zwischen den ausbeutenden und den ausgebeuteten Klassen, die Herrschaft der einen über die anderen, werden vom nationalen Staatsleben widergespiegelt, befestigt und vollendet. Nicht als abstrakten Begriff sondern als konkrete Wirklichkeit gefasst, was ist das Vaterland anders als der moderne bürgerliche Nationalstaat, in dem die besitzenden Klassen wenn auch nicht immer regieren, so doch stets herrschen? Der vornehmste Zweck dieses Staates ist daher die Wahrung und Verteidigung der Interessen eben der besitzenden Klassen und damit die Sicherstellung und Verewigung ihrer Ausbeutungs- und Herrschaftsmacht über die ungeheure Mehrzahl der Volks- und Staatsgenossen. Begrifflich bedeutet das Vaterland für die besitzenden Klassen den ideologischen Deckmantel, der ihre volksfeindliche Interessenwirtschaft vermummt, den ideologischen Augenblender, der die Massen über diese täuschen soll.

Sachlich ist es für sie die politisch abgegrenzte und gesicherte nationale Machtsphäre ihrer Ausbeutung und Herrschaft. Sie identifizieren das Vaterland mit sich und ihren Interessen. Im Namen des Vaterlandes sprechen sie, zu Nutz und Frommen ihrer eigenen Interessen handeln sie, unbekümmert um das Wohl und Wehe der Millionen, die ihnen unterworfen sind. Sie entwürdigen das Vaterland zur milchenden Kuh, die sie mit Butter versorgt, und zum hütenden Drachen, der ihre zusammen geraubten Schätze bewacht.

Das bezeugen Zustände und Gesetze, Machtapparate und Herrschaftsmittel des Vaterlandes. In seinen wichtigsten Wesenszügen und Lebensäußerungen bekundet sich der bürgerliche Nationalstaat als das Vaterland der Besitzenden. Dieses Vaterland schanzt den Lieferanten für den Heeres- und Marinebedarf Riesenaufträge und fette Profite zu, es lässt sich dabei von den „Ehrenmännern“ Krupp, Tippelskirch und Kompanie patriotisch übers Ohr hauen, denn nur die steuernden und zinsenden Massen sind es ja, die dafür zahlen müssen. Es verteuert den Werktätigen in Stadt und Land durch indirekte Steuern und ganz besonders durch eine räuberische Zollpolitik den nötigsten Lebensbedarf, denn es muss den Geldsack der Besitzenden respektieren und ihn noch mehr füllen helfen. Es lässt seine Gesetzesparagraphen, seine Büttel und Juristen gegen die Werktätigen los, die sich gegen Ausbeutung und Unterdrückung auflehnen. Es macht sie durch Ausnahmegesetze innerhalb seiner Grenzen zu Rechtlosen, zu Heimatlosen. Es droht, sie als „inneren Feind“ niederkartätschen zu lassen von Söhnen, die auf Vater und Mutter schießen sollen.

Kurz, solange die Klassenherrschaft der Besitzenden die Ausbeutung und Unterdrückung des Menschen durch den Menschen aufrechterhält, solange bleibt auch das Vaterland das Kanaan, wo Milch und Honig fließt für die Besitzenden allein, für die Besitzlosen dagegen ein Tal Josaphat, ein Tal des Jammers und der Tränen. Das Patrimonium, das Vatererbe, das die Wurzel des Patriotismus ist, behält es denen vor, die im Besitz und in der Macht sind; die Habenichtse sind seine Stiefkinder, sind die Enterbten, die vom reichen materiellen und kulturellen Gut nicht mehr erlangen, als sie sich selbst zu erkämpfen vermögen. Wo ist das Anrecht der Ausgebeuteten auf den Heimatboden? Es ist für viele zum Mietkontrakt des Laubenkolonisten zusammengeschrumpft, für noch mehr zur Anwartschaft auf das Grab im Armenfriedhof. Wo hat das Vaterland ihnen an der Tafel geistiger Kultur gedeckt? Fragt die Männer und Frauen danach, welche Zöglinge der Volks- und Armenschulen gewesen sind und die nicht einmal ihre Muttersprache korrekt zu sprechen und noch weniger korrekt zu schreiben verstehen.

Gewiss: Der Anteil der breiten Massen an dem materiellen und kulturellen Erbe des Vaterlandes ist im Wachsen begriffen. Das aber nicht dank wundertätiger Geheimkraft des Vaterlandes selbst, geschweige denn der Erkenntnis patriotischer Pflicht der Klassen, die das Vaterland besitzen und ausbeuten. Des Proletariats fortschreitende Reife und Macht ist es, was das Vaterland zwingt, die Hand zu öffnen. Mit dem Speere des Klassenkampfes empfangen die Ausgebeuteten seine Gaben. Und dem proletarischen Klassenkampf bleibt es vorbehalten, das Vaterland und seine Kultur aus dem Monopol einer kleinen Minderheit in die Heimat und den Besitz aller zu verwandeln. Denn auch den „vaterlandslosen Gesellen“ ist ihre Nationalität wert und ihr Vaterland teuer. Aber dank der aufgezeigten Verhältnisse muss ihr Patriotismus wesensverschieden von dem der besitzenden Klassen sein. Der Patriotismus der Bourgeoisie und der Aristokratie ist reaktionär, sein Ziel ist, das Vaterland als ihre Ausbeutungs- und Herrschaftsdomäne zu erhalten und damit all die Übel, all die Schmach, die dieser Ausbeutung und Herrschaft Erbteil sind. Der Patriotismus des Proletariats ist dagegen revolutionär. Er will nicht erhalten, er muss umwälzen. Seine Aufgabe ist es, die schädigenden und schändenden Bande der Klassenherrschaft zu sprengen, deren Gefangener das Vaterland ist. Jenseits der zerschmetterten bürgerlichen Ordnung winkt dem Proletariat das freie Vaterland.

Der Gegensatz der Klasseninteressen füllt den Patriotismus des Proletariats und der Kapitalistenklasse dem nationalen Staat gegenüber mit einem wesensverschiedenen Inhalt und weist ihm entgegengesetzte Ziele. Er schafft auch eine grundsätzlich verschiedene Stellung der beiden Klassen zum Ausland. In dieser Stellung gelangt das zum Ausdruck, was vom geschichtlichen Wesen der besitzenden und besitzlosen Klassen untrennbar ist: das Streben nach der Möglichkeit von Ausbeutung und Unterdrückung bei den einen, das Drängen nach Überwindung jeglicher Ausbeutung und Unterdrückung bei den anderen.

Wie steht es im Grunde mit dem Gegensatz zwischen den Nationen, von dem die Kapitalistenklassen wirtschaftlich und fast mehr noch politisch zehren? Reißt man ihm respektlos vor tönenden Worten und gedankenlos übernommenen Begriffen die ideologischen Hüllen ah, so zeigt er sich nackt als Gegensatz zwischen den Kapitalistenklassen der verschiedenen Länder. Dieser Gegensatz ist aber seinerseits ein Schößling aus der Wurzel des anderen und tieferen Gegensatzes, der jeden nationalen Staat zerklüftet: des Gegensatzes zwischen den ausgebeuteten und beherrschten Massen und der ausbeutenden und herrschenden Minderheit.

Im Vaterland der Klassengegensätze, unter der bürgerlichen Ordnung, ist nicht das Allgemeininteresse, ist nicht die Rücksicht auf den Wohlstand, die Bildung, das Glück aller die stärkste Triebfeder des nationalen Wirtschaftslebens, sondern das Verlangen nach Mehrwert, den die verschiedenen Klüngel der Kapitalistenklasse als Profit, Grundrente, Zins einsäckeln. Der unstillbare Hunger nach Mehrwert stachelt die Kapitalisten unaufhörlich zu höchstmöglicher Ausbeutung der ihnen zinsenden Massen an, gleichzeitig aber auch zur Steigerung der Produktivität der Arbeit. Märchenhaft schwillt die Menge der Erzeugnisse, welche die nationale Industrie jedes Jahr, jeden Monat, jede Woche in fieberhafter Geschäftigkeit erzeugt. Die Magazine, Vorratshäuser und Stapelräume vermögen die Dinge kaum zu fassen, die die materiellen und kulturellen Bedürfnisse der Menschen befriedigen sollen; es steigt und steigt die Erzeugung von Mitteln der Produktion und des Verkehrs: Maschinen, Werkzeuge, Schifffahrts- und Eisenbahnmaterial, dazu bestimmt, weitere Massen von Konsumartikeln auf den Markt zu bringen.

Die Kapitalisten aber können sich des Mehrwerts, den die schaffende Arbeit in die Waren legt, nur freuen, wenn sie diese verkaufen. Der Absatz ihrer Waren stößt jedoch auf eine Schranke. Die Kaufkraft der Volksmassen im bürgerlichen Nationalstaat ist weder so groß wie ihre eigenen Bedürfnisse noch wie die steigende Ergiebigkeit der Produktion. Tausende Stück Leinwand und Wollstoff, Zehntausende Paar Schuhe und Stiefel bleiben in Deutschland unverkauft, obgleich es wahrlich nicht an Leuten fehlt, die kein ganzes Hemd auf dem Leibe haben, kein warmes, geschweige denn ein schönes Kleid ihr eigen nennen und durch Regen und Schnee barfuß oder mit zerrissenem Schuhwerk wandern. Unter der kapitalistischen Wirtschaftsordnung können die Massen nicht verbrauchen oder richtiger: dürfen sie nicht verbrauchen, was ihnen zu ihres Leibes und Geistes Befriedigung not täte, sondern nur so viel, als sie zu kaufen, zu bezahlen vermögen. Und das ist trotz der wachsenden Ergiebigkeit ihrer Arbeit wenig, sehr wenig. Die Lohnarbeitenden erhalten vom Kapitalisten, der sie verwendet, ja nicht den Arbeitsertrag, sondern nur einen Teil davon, den Arbeitslohn, und seine Höhe richtet sich nicht nach ihren Bedürfnissen, sondern nach den ehernen Gesetzen der fühllosen kapitalistischen Ordnung. Ihrem innersten Wesen nach muss so diese Ordnung die Ausgebeuteten kaufunfähig, die Waren aber unabsetzbar machen. Massenelend und Überproduktion, eines die Ursache des anderen, das ist einer der unausrottbaren Widersprüche, in denen die kapitalistische Ordnung ausläuft und an denen sie zugrunde geht. Und aus diesem Widerspruch heraus erwächst der „nationale“ Gegensatz zwischen den Kapitalistenklassen der verschiedenen Staaten.

Vom „heiligen Goldhunger“ verzehrt, muss die Kapitalistenklasse eines Landes danach streben, den aufgezeigten Widerspruch durch die Erweiterung und Sicherung des Absatzgebietes ihrer Waren zu überwinden.

„Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muss sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen.“ [2]

Der nationale Markt genügt ihrem Ausbeutungsbedürfnis nicht mehr, sie schafft sich den Weltmarkt. Aber die Entwicklung der Verhältnisse bleibt nicht national auf einen Staat beschränkt. In allen Ländern, die von dem Kapitalismus ergriffen werden, fällt der Kapitalistenklasse das Schicksal zu, nach Absatzgebieten die Welt abzuhetzen. Dabei geraten die Ausbeutenden des einen Landes in Widerspruch, in Interessengegensatz zu den Kapitalisten aller anderen in Betracht kommenden Staaten. Vom gleichen international gewordenen Bedürfnis nach Absatzgebieten für ihre waren gepeitscht, wird ein wilder Interessenkampf zwischen ihnen entfesselt. Als herrschende Klasse aber setzen die Kapitalisten eines Landes, ihre eigenen Klasseninteressen mit denen der gesamten Nation gleich und verkleiden ihre Interessengegensätze zu der Bourgeoisie auswärtiger Länder als nationale Gegensätze. Denn sobald diese Gegensätze sich zu Kämpfen zuspitzen, bedürfen sie der Hilfe des Proletariats, der Volksmassen, die mit Gut und Blut den kapitalistischen Gewinn schirmen sollen. Der säbelrasselnde Patriotismus der Besitzenden und Ausbeutenden dem Ausland gegenüber ist im letzten Grunde die zehrende Sorge um das Absatzgebiet, um die Sicherung des Mehrwerts. Er flammt daher stets bis zur Weißglühhitze empor, wenn sie sich durch ihre ausländischen Schwesternklassen in ihrer Plusmacherei bedroht fühlen. Die patriotische Phrase soll dann die Massen über die Tatsache hinwegtäuschen, dass sie ihren Ausbeutern und Herren die Kastanien aus dem Feuer holen müssen.

Gewiss: Es gab Zeiten, in denen die Interessengegensätze zwischen den Kapitalisten verschiedener Nationen noch schlummerten. Es waren die Zeiten, in denen der Kapitalismus der meisten Länder die Kinderschuhe trug und noch nicht mit der starken Faust eines reifen Mannes ein Stück Weltmarkt als Lebensnotwendigkeit gegen fremdländische Konkurrenten verteidigen musste; die Zeiten, in denen eine neue Welt „erschlossen“, das heißt der kapitalistischen Ausbeutung dienstbar gemacht werden konnte. Damals konnte die Bourgeoisie der wenigen kapitalistisch entwickelten Nationen noch zu dem beruhigenden Dogma schwören, dass die „Natur“ selbst: bestimmte Länder zur industriellen Entfaltung berufen, andere dagegen ewig auf die Landwirtschaft angewiesen habe und dass sich zwischen beiden Gruppen der Austausch von Rohprodukten und Nahrungsmitteln einerseits, von industriellen Erzeugnissen andererseits harmonisch regle. Das waren die Zeiten, in denen sie für den Freihandel schwärmte, weil die Freiheit des Handels ihrem Mehrwertgeschäft zuträglich war, und den Traum von der Interessenharmonie, der Brüderlichkeit der Völker des Erdballs, den Traum vom ewigen Frieden träumte. In der Atmosphäre der wirtschaftlichen Entwicklung, welche den nationalen Markt zum Weltmarkt weitete, näherten sich die Völker einander, Kultur empfangend und Kultur spendend, Wissenschaft und Kunst wurden international, eine weltbürgerliche Gesinnung begann zu erblühen, deren Vorkämpfer die erlauchtesten Dichter und Denker der Nationen waren. Es war einmal verrauscht und verweht.

Das Spiel der nämlichen Kräfte, welche die Kapitalistenklassen trieben, nationale Schranken niederzureißen und ihren „Kuss der ganzen Welt“ zu bieten, ließ im weiteren Verlauf ihr schwärmerisches Weltbürgertum in beschränkten Mordspatriotismus umschlagen und zwang sie, neue Grenzmauern zwischen den Staaten zu errichten. Immer mehr Länder wurden von dem Kapitalismus ergriffen und in den Strom seiner Entwicklung gezogen. Nicht mehr einige wenige nationale Kapitalistenklassen erschienen als Lieferanten industrieller Erzeugnisse für die ganze Welt auf dem internationalen Markte, nacheinander traten hier alle so genannten Kulturländer Europas, traten die amerikanischen Staaten als Erzeuger und Verkäufer von Industriewaren auf. Die Entwicklung rannte stürmisch die alte Teilung in Industrie- und Agrarländer über den Haufen. Was als naturgesetzlich bestimmt betrachtet worden war, enthüllte sich als geschichtlich geworden und wurde vernichtet, umgewälzt. Und die Kapitalisten selbst der industriell höchstentwickelten Länder mussten ihre eigenen Konkurrenten auf dem Weltmarkt erziehen und ausrüsten. Die Jagd nach Gewinn ließ sie nicht bei der Ausfuhr von Konsumartikeln stehen bleiben, sie führten den industriell rückständigen Ländern Produktionsmittel zu, legten ihre Kapitalien hier an und entfesselten die noch gebundenen Produktivkräfte. Jenseits des Atlantischen Meeres und an den Küsten des Großen Ozeans, in Amerika wie in Japan, Australien und Indien ließen sie eine kapitalistische Industrie erstehen. Die Agrarstaaten, als deren Aufgabe im Wirtschaftsleben der Menschheit sie es erachtet hatten, den Industrieländern Rohstoffe und Nahrungsmittel zu liefern und dafür ihre Industrieerzeugnisse abzunehmen, entwickelten eine Industrie und drängten als Konkurrenten auf den Weltmarkt. Die trügerische Luftspiegelung verfliegt, die diesen früher als Tempel der internationalen Harmonie und des Weltfriedens erscheinen ließ; er offenbart sich als Tummelplatz wildester Konkurrenzkämpfe zwischen den nationalen Kapitalistenklassen.

Der Kampf aller wider alle, den die kapitalistische Ordnung innerhalb jeder einzelnen Nation entfacht, behauptet auch für die Beziehungen der Nationen untereinander sein Existenzrecht und prägt ihren Charakter. Die Konkurrenz der nationalen Kapitalistenklassen auf dem Weltmarkt löst die Forderung freien Handelsverkehrs zur Eroberung neuer Absatzgebiete durch die andere ab: Abgrenzung und Sicherung bestimmter Absatzgebiete für die Kapitalisten der einzelnen Länder. Die Politik des Freihandels muss weichen; Schutzzölle bauen aufs neue zwischen den Staaten Grenzwälle, welche den Handelsverkehr einengen, welche hemmend auf der Entwicklung der politischen Beziehungen, der Wechselwirkung des gesamten kulturellen Lebens der Nationen untereinander lasten. Und damit nicht genug. Das den nationalen Kapitalistenklassen durch Zollschranken gesicherte Ausbeutungsgebiet des eigenen Staates genügte ihrem Heißhunger nach Mehrwert nicht länger. „Ihr Vaterland muss größer sein.“ Es treibt sie nach der Erweiterung ihrer staatlich gesicherten Ausbeutungs- und Herrschaftsdomäne. Der Taumel nach dem „größeren“ England, Frankreich, Deutschland, Italien und so fort ergreift die nationalen Kapitalistenklassen mit unwiderstehlicher Gewalt. Und als herrschende Klassen haben sie die Macht, den Staat in die Dienste ihrer Profitinteressen zu zwingen und mittels seiner die ausgebeuteten Massen mit ihrem Hunger und mit ihrem Leben die Kosten zahlen zu lassen. Es beginnt die Ära der Kolonialerwerbungen, der Pachtungen und Kolonialkriege, welche abermals Seiten blutigster Schmach in die Geschichte der Kulturnationen schreiben; die eroberungssüchtige Weltmachtpolitik wird Trumpf. Hinter der Politik der Schutzzölle und Kolonialabenteuer aber lauert der Zollkrieg, hockt die Kriegsgefahr mit ihren Vorläufern und Wegbereitern: steigenden, erdrückenden Rüstungen zu Lande und zu Wasser, die Kriegsgefahr nicht bloß zwischen einzelnen Nationen, sondern vor allem die Möglichkeit des Weltkriegs. Dazu kommt, dass Rüstungen, kapitalistische Kreuzzüge zur Erlösung des gebundenen Profits, Kriegsgefahr und Kriege selbst reichlich zinsende Kapitalanlagen für die ausbeutenden Klassen schaffen, die Geld ohne Ekel aus einer Kloake und ohne Entsetzen aus einem Blutmeer aufheben.

Wie aus einem brodelnden, glutgefüllten Vulkan keine Lilie emporblühen wird, also kann auf dem Boden der gekennzeichneten Sachlage seitens der ausbeutenden und herrschenden Klassen kein Patriotismus des Friedens, der internationalen Verständigung und Harmonie gedeihen. Die Wirklichkeit lässt die salbungsvollen Friedenspredigten der guten Bertha von Suttner als hilfloses Gestammel aus einer Kinderstube erscheinen, sie brandmarkt die Friedenskonferenzen der Regierungen als widerliche Komödien. Der Patriotismus der nationalen Kapitalistenklassen muss heute dem Ausland gegenüber feindselig, kriegerisch, kriegsbereit sein. Er wird von Interessengegensätzen erzeugt und nährt sich an ihnen. Seine Seele ist die internationale Konkurrenz der Kapitalistenklassen der verschiedenen Länder. Und das inmitten einer geschichtlichen Entwicklung, die wie keine andere vor ihr die Keime der Völkerverbrüderung und des Weltfriedens in sich birgt und sprossen macht!

Ganz anders der Patriotismus des Proletariats, das dank seines Befreiungskampfes zum bewussten Träger des weltbürgerlichen Ideals wird.

Das Wesen des proletarischen Patriotismus charakterisiert sich in seinem Verhalten zum Ausland als internationale Solidarität der Ausgebeuteten und Unterdrückten aller Nationen und Rassen. Diese internationale Solidarität ist weder ein luftiges Phantasiegebilde theoretischer Spekulation noch ein bloßes Erzeugnis des Zufalls, das heute im Spiel der Verhältnisse entsteht und morgen in ihm vergeht. Sie gleicht ihrem Ursprung nach einem der Gewappneten und Reisigen, welche die alte griechische Sage aus einer Saat von Drachenzähnen entstehen lässt. Sie steigt aus dem geschichtlichen Boden empor, den die kapitalistische Klassengesellschaft für das Proletariat mit all den Leiden und Übeln bestellt, welche von der Ausbeutung und Unterdrückung des Menschen durch den Menschen untrennbar sind. Wie der bourgeoise Prozent- und Mordspatriotismus der legitime Abkömmling des Klassengegensatzes zwischen Ausgebeuteten und Ausbeutenden innerhalb jeder Nation ist, wie er von diesem seinen Odem, seine Wesenheit, seine Ziele empfängt, also auch die internationale Gesinnung des kämpfenden Proletariats.

Aber freilich: Sie wird jenseits der unüberbrückbaren Kluft geboren, welche die Klassen scheidet und jenseits welcher das Stammhaus des kriegerischen kapitalistischen Patriotismus steht. Das besagt nicht mehr und nicht weniger, als dass sie einer anderen Welt angehört als er. Der Wesensunterschied zwischen der Stellung der Bourgeoisie und des Proletariats zum Ausland ist der lebendige geschichtliche Ausdruck der Gegensätze zwischen bourgeoiser und proletarischer Klassenlage, zwischen den unversöhnbaren Klasseninteressen der Ausgebeuteten und der Ausbeutenden. Die internationale Solidarität der Proletarier aller Länder ist unausrottbar in der Klassenlage der Massen verwurzelt, über welche der Kapitalismus seine Geißel schwingt. Aus dieser Klassenlage saugt sie täglich mit tausend feinen Fasern Nahrung, die sie um so kraftvoller emporwachsen macht, je weiterspannende Kreise seiner Herrschaft der Kapitalismus über den Erdball zieht, je länger die Reihe der Völker wird, über die sein Jaggernautwagen zermalmend dahinrollt.

Die proletarische Klassenlage wird durch den Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit, zwischen den Ausbeutern und Ausgebeuteten beherrscht, ihre Signatur ist die Auswucherung und Unterdrückung der nichtbesitzenden und lohnfrondenden Massen durch die kapitalistische Minderheit. Sie ist ihrer Natur nach zwiespältig wie die kapitalistische Ordnung selbst. Sie trägt in ihrem Schoße alles Elend und alle Schmach des leidenden, aber auch alle Kraft und alle Selbsterhebung des kämpfenden Proletariats. Sie unterwirft die Massen der Leib und Geist knechtenden und erdrückenden Ausbeutung durch die gewissenlose Plusmacherei, sie peitscht sie jedoch auch zur Empörung dawider auf und lässt in ihnen alle Bürgertugenden, alle Kampftugenden zur Entfaltung kommen, welche das große weltgeschichtliche Ringen heischt und gebiert, das lastende kapitalistische Joch zu erleichtern und endlich zu zerschmettern. Alle Tendenzen der kapitalistischen Ordnung, welche den Proletarier zwingen, „sich stückweise zu verkaufen“, welche ihn zu einer Ware entwürdigen, die wie jeder andere Handelsartikel „gleichmäßig allen Wechselfällen der Konkurrenz, allen Schwankungen des Marktes ausgesetzt“ ist, vermögen in dem „lebendigen Anhängsel der Maschine“ den Menschen nicht zu ertöten. Das Menschentum der ausgebeuteten Massen lechzt nach Befreiung und treibt mit unwiderstehlicher Macht in den Kampf wider die Ausbeutung.

Die Auflehnung gegen den Kapitalismus setzt ein als unorganisierter, zersplitterter Einzelkampf, zu dem das Bewusstsein der persönlichen Leiden und der persönlichen Bedürfnisse aufruft. Sie entwickelt sich jedoch allmählich zum organisierten, fest geschlossenen Massenkampf, der im Bewusstsein der proletarischen Klassenlage und der proletarischen Klassenbedürfnisse geführt wird. Je länger, je mehr richtet sich dieser Kampf nicht gegen einzelne Kapitalisten und Kapitalistengruppen, vielmehr gegen die gesamte Kapitalistenklasse, die ihrerseits ebenfalls als fest gegliederte Phalanx auf dem Plan erscheint. Die über den Rahmen örtlicher Zusammenstöße hinauswachsenden Konflikte zwischen Ausgebeuteten und Ausbeutern werden zu nationalen Kämpfen, in denen Klasse gegen Klasse ringt. Immer seltener sind es die Arbeitsbedingungen allein und ausschließlich, die ihren Inhalt bilden. Die Kämpfe gehen um die wirtschaftliche Ausbeutungsmacht und ihre Ergänzung und Stütze: die politische Herrschaftsstellung der Kapitalistenklasse, sie zielen über die Einschränkung dieser Macht und Herrschaft hinweg auf ihre völlige Überwindung. Von der kapitalistischen Wirtschaftsordnung erzeugt und auf wirtschaftlichem Felde eröffnet, muss der Kampf des Proletariats gegen die Kapitalistenklasse ein politischer Kampf werden, dessen Preis die Eroberung der politischen Macht durch die Ausgebeuteten und die Aufhebung der kapitalistischen Ausbeutungsgesellschaft ist.

Welches aber ist die Kraft, die mit zwingender Gewalt und doch in Selbstbestimmung die millionenköpfigen Massen der Lohnarbeitenden als Klassenstreiter zu immer fester geschlossenen, immer größeren Heeren zusammenfasst, deren Ringen weitere und weitere Kreise zieht, sich höhere und höhere Ziele steckt und schließlich in dem Kampfe um das eine erhabene Endziel seinen Gipfelpunkt erreicht? Es ist die proletarische Klassensolidarität, in welcher die Gemeinsamkeit der Interessen aller durch den Kapitalismus Ausgebeuteten und Beherrschten ihren Ausdruck findet. Sie hat ihre starke Wurzel in der Gemeinsamkeit der Leiden, welche der proletarischen Klassenlage Erbteil sind, sie trägt als fruchtbare Blüte die Gemeinsamkeit des Kampfes, zu der jene aufruft. Es ist die kapitalistische Produktion selbst, welche die proletarische Klassensolidarität unaufhörlich stärkt und neue Massen unter ihren schützenden Fittichen Schutz suchen lässt. Indem sie die Arbeits- und Lebensverhältnisse, die Interessen innerhalb des Proletariats ausgleicht, vernichtet sie die zünftigen Schranken zwischen den Arbeitern verschiedener Berufe, die altersgrauen Vorurteile zwischen den Arbeitern verschiedenen Geschlechts, verschiedener Herkunft, verschiedener Heimat. Aber ihr doppeltes Werk: zu zertrümmern, was trennt, zu einigen, was zusammengehört, greift über die Grenzen des bürgerlichen Nationalstaates hinaus.

Wir haben gezeigt, wie die kapitalistische Produktion durch die Profitgier der ausbeutenden Klassen von dem nationalen Markt auf den Weltmarkt getrieben wird. Die nämliche geschichtliche Entwicklung jedoch, welche an dem einen Pol der bürgerlichen Gesellschaft die internationale Konkurrenz der nationalen Kapitalistenklassen und ihren kriegsschwangeren Patriotismus zeugt, lässt an ihrem anderen Pol die internationale Solidarität der Proletarier aller Länder und ihre Vereinigung im Klassenkampf entstehen, welche die Vorfrucht der Völkerverbrüderung ist.

Ausweitung der Produktion zur Weltwirtschaft, das bedeutet unter der kapitalistischen Ordnung nichts anderes als Ausdehnung der kapitalistischen Ausbeutung und Herrschaft über den ganzen Erdball. Allüberall, wo der Kapitalismus sich einbürgert, macht er sich die Massen tributpflichtig, zeugt er die modernen Klassengegensätze und die von ihnen bedingten Übel und Kämpfe. Im Gefolge seines glänzenden Eroberungszuges über die Welt schreiten Scharen von Hungerleidern und Geknechteten einher, die sich unter dem Drucke ihrer leiblichen und geistigen Nöte in ein Heer von Kämpfern verwandeln. In allen Ländern, in denen der Kapitalismus zur Herrschaft kommt, vollzieht sich die gleiche Entwicklung. Nicht mehr die Ausgebeuteten eines Staates, die Ausgebeuteten aller Länder steigen kämpfend aus ihrer Vereinzelung zu immer größerer Vereinigung empor, sie schließen sich als nationale Klasse zusammen, die organisiert auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet gegen die Herrschaft der Kapitalistenklasse ringt. Ihre Kämpfe müssen national geführt werden: Das Proletariat jedes Landes erhebt sich zum Ansturm gegen die eigene nationale Ausbeuterklasse. Aber sie sind eine internationale Erscheinung, und die überall wirksamen geschichtlichen Kräfte, von denen sie entfesselt und getragen werden, verleihen ihnen einen gemeinsamen Inhalt, ein gemeinsames Ziel.

Fester noch als die graue Internationale des Klassenelends schweißt ihre streitbare Schwester, die rote Internationale des Klassenkampfes, das Proletariat aller Länder solidarisch zusammen. Auf höherer Stufenleiter, international, geht der gleiche Entwicklungsprozess vor sich, der national die Ausgebeuteten in Solidarität der Erkenntnis und Gesinnung einander zu zielsicherer Aktion nähert. Von Werwolfshunger nach Mehrwert verzehrt, holen die nationalen Kapitalistenklassen wie ihre Rohprodukte und Halbfabrikate so auch die Arbeiter aus den fernsten Zonen. Wie ihre Waren und Kapitalien, so hetzen sie die Lohnfrondenden über unseren Planeten. Der Charakter der kapitalistischen Produktion nivelliert gleichzeitig mehr und mehr die Unterschiede in den Arbeits- und Existenzbedingungen zwischen den Proletariern der einzelnen Länder. Die geschichtliche Entwicklung schiebt bald das eine, bald das andere nationale Proletariat an die Spitze des internationalen Klassenkampfes. Heute zwingt sie den proletarischen Klassenkämpfern hier diese, morgen dort jene Kampfmethode auf; in den verschiedenen Ländern lässt sie sie in dem Gebrauch verschiedener Kampfmittel eine hohe Vollkommenheit erreichen. Es schwindet die nationale Abgeschlossenheit, das nationale Vorurteil zwischen den Proletariern aller Länder, es verfliegt der Glaube an alleinseligmachende Kampfmittel und Kampfmethoden, an auserwählte Nationen des proletarischen Befreiungskampfes. Das kämpfende Weltproletariat wird der Träger internationaler Brüderlichkeit, welche die Eigenart jeder Nationalität in ihrer geschichtlichen Bedeutung wertet und das demokratische Recht aller Nationalitäten respektiert.

Die internationale Solidarität des Proletariats setzt sich als praktische Notwendigkeit des Klassenkampfes durch. Weltwirtschaft und Weltverkehr spinnen unzerreißbare Fäden von Wechselwirkungen der Klassenlage und des Klassenkampfes zwischen dem Proletariat der einzelnen Länder. Je mehr sich innerhalb jeder Nation die Klassengegensätze vertiefen, je schärfer die wirtschaftlichen und politischen Klassenkämpfe sich zuspitzen, um so mächtiger sind auch die Wellen, die sie über die Landesgrenzen hinausschleudern. Die nationalen Klassenkämpfe wachsen sich zu internationalen Schlachten aus, in denen Arbeit und Kapital sich messen. Das tritt sinnenfällig in Erscheinung in einer Zeit, in der die internationalen Streikbrecherimporte alltägliche Begebenheiten sind; in einer Zeit, in welcher der internationale Kapitalismus den zarischen Absolutismus mit goldenen Krücken stützt. Wie die Ausbeuter durch die schlotternde Furcht um ihren Profit und ihre Herrenmacht, so müssen sich die Ausgebeuteten durch die stolze Sorge um ihre Selbsterhebung und Selbstbefreiung ohne Unterschied der Nationalität im Klassenkampf zu Schutz und Trutz zusammenscharen.

Vergegenwärtigt das Proletariat sich die aufgezeigte Lage der Dinge, so muss es der Bourgeoisie auf die Frage nach seinem Patriotismus antworten: „Deine Gedanken sind nicht meine Gedanken, und deine Wege sind nicht meine Wege.“ Wohl schätzt es den modernen Nationalstaat als den geschichtlichen Boden, auf dem es den Klassenkampf gegen seine Peiniger ausfechten muss, und es tritt für seine Unabhängigkeit ein. Aber es lässt sich durch das wohllohnende bürgerliche Geschrei vom schutzbedürftigen Vaterland nicht darüber täuschen, dass heutzutage in Europa die Unabhängigkeit keiner einzigen Nationalität ernstlich bedroht ist, die sich zur selbständigen staatlichen Existenz erhoben hat. Davon abgesehen, wertet das Proletariat den bürgerlichen Klassenstaat nicht unter dem Gesichtspunkt der ihm angesonnenen patriotischen Bundesbrüderschaft mit den kapitalistischen Klüngeln, sondern nach den sehr realen wirtschaftlichen und politischen Vorteilen, die er diesen zuschanzt und sichert. Es misst seine Bedeutung im Gegensatz zu den kapitalistischen Klüngeln an den Reformen, den Rechten und Freiheiten, die es ihm kämpfend abgezwungen hat. Krieg und Kriegsglück betrachtet es nüchternen Auges im Lichte seiner eigenen Klasseninteressen. Es weiß: Im Kampfe gegen die äußeren Feinde haben die Proletarier „nichts von dem ihrigen zu sichern“, und im Kampfe gegen den inneren Feind haben sie durch Abschaffung der bisherigen Aneignungsweise „alle bisherigen Privatsicherheiten und Privatversicherungen zu zerstören“. Seine Stellungnahme zu Konflikten zwischen den herrschenden Klassen der verschiedenen Staaten hängt von den historischen Umständen ab, unter denen sie losbrechen. Die Reife und Macht des Proletariats selbst sind aber dabei zwei der wichtigsten geschichtlichen Faktoren. Von ihnen wird wesentlich entschieden, mit welchem Erfolg sich die Arbeiterklasse dem mordgierigen Taumel der nationalen Kapitalistenklassen entgegenzustemmen vermag, in welcher Weise sie die Situation ihrem Befreiungsringen dienstbar machen muss. Das Proletariat kann daher keine Eide schwören, was es bei internationalen Konflikten tun oder lassen, welche Mittel es ergreifen oder auf welche es verzichten wird.

Es kann insbesondere nicht seinen Antimilitarismus aufgeben, das Wort nicht in dem spezifischen Sinne der Hervéischen Auffassung verstanden. Seine ureigensten Klasseninteressen in Gegenwart und Zukunft zwingen es dazu, nach Überwindung des inneren Widerspruchs zu streben, den der Militarismus in sich birgt: des Widerspruchs zwischen dem modernen Heer als einer Organisation des Volkes in Waffen zur Verteidigung des Vaterlandes gegen den „äußeren Feind“ und dem Heer als eines Herrschaftsinstrumentes in den Händen der besitzenden Klassen zur Niederzwingung des „inneren Feindes“. Auf zwei Wegen muss das Proletariat gleichzeitig und mit gleicher Energie diesem Ziele zuwandern. Der zähe Kampf für militärische Reformen, welche die stehende Armee in eine Miliz umwandeln, ist der eine. Die „Aushöhlung“ des Militarismus von innen durch Revolutionierung des proletarischen Nachwuchses ist der andere. Ein hoher deutscher Militär soll gesagt haben, die Reserve sei derart sozialdemokratisch verseucht, dass sie nicht mehr in einen leichtfertigen unpopulären Krieg geführt werden könne. Wir müssen es dahin bringen, dass dank einer sozialistischen Kindererziehung und Jugendbewegung die militärische Jungmannschaft – soweit sie sich aus den proletarischen Massen rekrutiert – mit so klarem und gefestigtem Klassenbewusstsein in die Kasernen einrückt, dass das Heer untauglich zum Kampfe gegen den „inneren Feind“ wird. Hier liegt eine bedeutsame Aufgabe vor, an deren Lösung vor allem die proletarische Frau als Mutter, als Erzieherin ihrer Söhne kräftigst mitzuwirken hat.

Die nationalen und internationalen Kämpfe, welche die moderne Gesellschaft zerklüften und mit Tränen und Blut überschwemmen, werden von der kapitalistischen Ordnung erzeugt. Die ausbeutenden Klassen sind es, die sie entfesselt. Das Proletariat hat auch in ihnen seinen Sieg vorzubereiten und zu organisieren. So erfüllt sich das Wort unseres Altmeisters: Die Menschen machen die Geschichte, wie sie sie machen müssen. Aber sie machen sie doch! [3]

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Anmerkungen

1. Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei,in Karl Marx/Friedrich Engels – Werke.Band 4, S. 459–493, hier S. 479.

2. a. a.%nbsp:O.,S. 465.

3. Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte,in Karl Marx/Friedrich Engels – Werke,Band 8, S. 115–123, hier S. 415.


Zuletzt aktualisiert am 18. November 2024