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Aus Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Stuttgart, III: Nr. 11, 30. Mai 1906.
In langer Entwicklung ist in den Perioden der Wildheit und Barbarei der Geschlechtsverkehr von der „regellosen Vermischung“ von Mann und Weib über verschiedene Formen der Gruppenehe zur losen Paarungsehe und von ihr zur festen Einzelehe emporgestiegen, mit welcher das Vaterrecht an Stelle des „Mutterrechtes“ trat. Als wichtigste treibende Kraft der Wandlungen darf man wohl zweierlei ansprechen. Zunächst die beobachteten schädlichen Wirkungen der Inzucht, die auf Erweiterung des Kreises der Personen hindrängten, die als „blutsverwandt“ – nach mütterlicher Abstammung gerechnet – von der ehelichen Vereinigung miteinander ausgeschlossen wurden.
Ferner die Art und weise, wie die Wilden und Barbaren ihren Lebensunterhalt gewonnen und sicherten, mit einem Wort: die Entwicklung der Arbeit, ihre steigende Ergiebigkeit und die dadurch bedingten wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse. Diese Annahmen können sich auf ethnographische Forschungsergebnisse berufen, wie auf altersgraue Denkmäler der Literatur, die beide uns in das Leben barbarischer Stämme und Völker einführen, deren niedrige Kulturstufe den Gang und die Etappen der Menschheitsentwicklung widerspiegelt. Wie viel Hypothetisches auch immer den Theorien über die Geschichte der Ehe anhaften mag, welche sich darauf aufbauen: Unzweifelhaft weisen ethnographische und literarische Forschungen aus, dass die Monogamie nicht von Ewigkeit sei, vielmehr an der Schwelle der Zivilisation als das Ergebnis eines langen Entwicklungsprozesses auftritt, in dem die Stimme der Sittlichkeit, die individuelle Geschlechtsliebe, kaum schüchtern gehört wurde und keineswegs das letzte und entscheidende Wort sprach. Eine soziale Einrichtung aber, die unter dem Einfluss sich wandelnder gesellschaftlicher Verhältnisse geworden ist, die kann auch nun und nimmer dem Wechsel der Zeiten entzogen bleiben. Sie muss sich in dem Maße ändern als der wirtschaftliche Untergrund sich umwälzt, aus dem sie herausgewachsen ist und der sie trägt; in dem Maße als mit dem ökonomischen Sein zusammen das sittliche Bewusstsein der Menschen ebenfalls revolutioniert wird und seinerseits revolutioniert. Die Geschichte zeigt uns denn auch, dass die vaterrechtliche Einzelehe durchaus nicht in starrer Unveränderlichkeit verharrt ist. Die verschiedenartigen ökonomischen und sozialen Verhältnisse der Völker und Zeiten haben an ihr gehämmert und gemodelt.
Im klassischen Altertum trägt sie andere Züge bei den Griechen und Römern, ja sogar von Stamm zu Stamm der ersteren, von Epoche zu Epoche ihrer Geschichte, wie die der lateinischen Völker weist sie unterschiedliche Merkmale auf. Aber in der Mannigfaltigkeit und im Wechsel ihres Gepräges erscheint uns ein wirkendes Gesetz: der überwiegende und bestimmende Einfluss, den die Entwicklung des Wirtschaftslebens darauf ausübt. Besonders auffällig zeigt sich das in der Stellung und Würdigung des Weibes in der vaterrechtlichen Ehe. Hand in Hand mit der sozialen Ächtung und Knechtung, mit der Ausdehnung der Sklavenarbeit in Griechenland und Rom geht ein Sinken des Ansehens, welches die Ehefrau genießt. Erklärlich genug. Je mehr und je ausschließlicher die häusliche Produktion an Sklaven übergeht; je geringer mit dem steigenden Reichtum bei den Freien der Anteil wird, den die Ehefrau selbst an ihr nimmt: um so mehr verliert die Gattin auch die Bedeutung und die Achtung, die ihr als Vorsteherin und wichtigster Arbeiterin in der Hauswirtschaft gezollt wurde. Sie wird schließlich in der Hauptsache nur noch als Geschlechtsapparat für die Erzeugung legitimer Erben gewertet, sie behält „nur noch ihren Reiz als Geschlecht“ und verliert an allgemein menschlicher Würde. Die Erniedrigung und Unfreiheit des Weibes in der Ehe und Gesellschaft ist von Anfang an aufs Engste mit der Erniedrigung und Versklavung der Arbeit verknüpft gewesen. Das tritt in Morgans „Urgesellschaft“ wie in Lipperts „Kulturgeschichte“ – um nur diese beiden Werke herauszugreifen – scharf in Erscheinung.
Die Zeit des Verfalls der antiken Welt offenbart sinnenfällig, dass die Einzelehe an sich nicht eine unerschütterliche sittliche Potenz ist, welche die geschlechtlichen Beziehungen von Mann und Weib veredelt. Sie vermochte nicht den steigenden Schmutzstrom der ungeheuerlichsten sexuellen Unsittlichkeit einzudämmen, geschweige denn zum Versiegen zu bringen; er flutete über die Schwelle des Hauses, die Ehe selbst sank zum Tummelplatz der zügellosesten „Emanzipation des Fleisches“ herab und wurde zersetzt.
Mit dem Eintritt des Christentums und der Germanen in die Geschichte erfuhr die Ehe wieder eine Befestigung. Aber wahrlich: weder die „göttliche Natur“ des Christentums noch sein „spezieller sittlicher Gehalt“ noch die „viel besungene germanische Keuschheit“ waren ausschlaggebend dafür. Das Christentum hat betreffs der Ehe nichts Neues und Vollkommeneres geschaffen, es sanktionierte lediglich als göttliches Gebot und erhob zum Sakrament, was bereits vorhanden war und durch die historischen Verhältnisse bedingt wurde, in denen es sich entfaltete. Es übernahm die vaterrechtliche Monogamie von den Griechen und es proklamierte sie mit großer Schärfe, weil es sich in seinem Anfang an die Armen wendete, „in deren Bereich die Monogamie immer heimisch gewesen“, denn; „die Armut übt überall die Monogamie – der Not“, erklärt Lippert.
Die Geschichte der Germanen des betreffenden Zeitalters bestätigt das. Bei den Edlen und Reichen finden wir in der Regel die Vielweiberei, die Mehrzahl lebte dagegen in einer losen Paarungsehe, welche der Monogamie sehr nahe kam und schließlich von ihr abgelöst wurde. Die idealisierte „Heilighaltung der Ehe“ und „geschlechtliche Sittenstrenge“ bei den alten Deutschen war also zu einem Teil ein Reflex der Armut. Der geringen Entwicklung der Arbeit, zum anderen aber eine Frucht der Achtung, deren sich das Weib in der Familie und Gesellschaft erfreute. Aus mancherlei Tatsachen, welche die Geschichte verzeichnet hat, darf man schließen, dass damals die Zeiten nicht fern zurücklagen, in denen bei den germanischen Stämmen das Mutterrecht durch das Vaterrecht verdrängt worden war. Und dass die Spuren, welche es in der Stellung und dem Ansehen des weiblichen Geschlechtes zurückgelassen hatte, nicht so bald und nicht völlig verlöscht wurden, dafür sorgten ganz andere zwingende gesellschaftliche Faktoren als etwa die „deutsche Gemütstiefe“. Die damalige Entwicklung und Organisation des wirtschaftlichen und sozialen Lebens wies der Germanin als Arbeitskraft und Gefährtin des Mannes im Kampfe gegen die Natur, bei den Wander- und Heerfahrten usw. eine bedeutsame Rolle zu. Die auf dem Wert der Arbeit gegründete Würdigung des Weibes hat aber jederzeit seiner Erniedrigung als Geschlechtswesen und damit auch der Erniedrigung des Mannes durch die sexuelle Zügellosigkeit entgegengewirkt. Die Monogamie setzte sich allmählich bei den Germanen durch, jedoch nicht etwa als ein „höheres sittliches Prinzip“ oder dank der „tiefen sittliche veranlagten Natur“ der Rasse. Mit dem Zusammenbruch der Römerherrschaft und der Völkervermischung entwickelten sich vielmehr für die deutschen Stämme soziale Verhältnisse, welche manche wesensverwandte Züge mit denen des alten Griechenlands aufwiesen und hier wie da zur Herrschaft der vaterrechtlichen Monogamie führten.
Das Germanentum hat jedoch in diese ein neues und wesentliches Element hineingetragen. Es milderte die Form der Männerherrschaft in die monogamische Familie und ließ der Frau eine wenigstens äußerlich angesehenere und freiere Stellung als sie – von Sparta abgesehen – das klassische Altertum gekannt hatte. Zeitlich fällt die fruchtbare Einwirkung des germanischen Lebens auf die Monogamie ungefähr mit der steigenden Ausbreitung der Herrschaft des Christentums zusammen. Von vielen wird dieses daher als die Macht gefeiert, welche die Sklavenbande des weiblichen Geschlechtes lockerte und es aus der tiefsten Niedrigkeit, in welche es aus der verfallenden antiken Welt gestoßen worden war, zu höherer Würde emporhob. Aber die Erhöhung und Gleichberechtigung, welche die christliche Religion dem Weibe wie allen sonst Enterbten und Entrechteten brachte, bezog sich auf den inneren Menschen und ließ die soziale Stellung unabgetastet. Herren und Sklaven, Männer und Frauen sollten nur vor Gott gleich sein, nicht vor dem Staate, nicht in der Gesellschaft. Das Christentum hielt daher das Weib in der Unterbürtigkeit, die bei den Juden und Griechen auf ihm gelastet hatte, und es heiligte sie als göttliche Satzung. Dass in der vaterrechtlichen Monogamie die antike Sklaverei der Frau in die mittelalterliche Hörigkeit umgewandelt wurde, darauf hat weit mehr das Mutterrecht der alten Germanen als die Ethik des Christentums entscheidenden Einfluss ausgeübt.
Auf dem Respekt des vereinigten Germanen- und Christentums vor der Heiligkeit und Unauflöslichkeit der Ehe werfen geschichtliche Tatsachen kennzeichnendes Licht. Nach Laboulaye zum Beispiel hatten unter den Karolingern zum Beispiel der Herr das Recht, die hörige Frau gewaltsam von ihrem Gatten zu trennen, wenn für sie nichts gezahlt oder kein Ersatz gestellt worden war. Das Recht ward meistens genützt, nachdem die Frau mehrere Kinder geboren hatte, die zur Hälfte zusammen mit der Mutter in die Dienstbarkeit des Herrn kamen. Die Heiligkeit der Ehe wurde also „von Rechts wegen“ durch die noch größere Heiligkeit des Eigentums gebrochen. Und alle Durchtränkung mit christlichem und germanischem Geiste hat der Monogamie im Mittelalter durchaus nicht die Kraft verliehen, das sexuelle Leben zu zügeln und zu versittlichen. Das bezeugt Burckhardt, der in seiner „Kultur der Renaissance“ konstatiert: „Von der gewöhnlichen Hurerei scheute sich bekanntlich das Mittelalter überhaupt nicht, bis die Syphilis kam.“
Als der durchgreifendste Ehereformist ist seither der Protestantismus aufgetreten. Er führte die Ehe aus einem Sakrament in eine rein weltliche Handlung durch, die wenigstens in der Theorie auf der Freiheit des Vertrags von Mann und Weib beruht. Würdigt man das gesamte historische Milieu, in welchem der Protestantismus die Ehereform durchsetzte, so erscheint diese unstreitig weit „revolutionärer“, als es etwa heutigentags der Übergang von der Zivilehe zu der so genannten „freien Ehe“ wäre, das heißt zur Ehe als Privatvertrag zwischen Mann und Weib. Tatsächlich trägt auch die protestantische weltliche und lösbare Ehe die freie Ehe im Keim in ihrem Schoß. Von hier aus führt eine gerade Linie über die Zivilehe hinweg zu der Ehereform der Zukunft. Das sollten die protestantischen Eiferer für die Vollkommenheit und den ewigen Bestand der heutigen Form der Monogamie bedenken, ehe sie ihren Geifer gegen die Ehereformer verspritzen.
Wenn gläubige Katholiken den Protestantismus der Zertrümmerung der alten Ehefestigkeit und des Heraufbeschwörung von Geistern zeihen, die er nicht zu bannen vermag, so haben sie die kirchliche Logik unstreitig für sich, jedoch keineswegs damit auch die historische Wahrheit. Wie groß auch immer der Anteil gewesen ist, welcher der Reformation an der Durchführung der größten neuzeitlichen Ehereform zukommt: im letzten Grunde war sie nur Vollstreckerin gesellschaftlicher Faktoren, die ihr Odem und Tatkraft einhauchten und Ziele setzten. Sie war wohl die Trägerin, nicht aber die treibende Macht der Umwandlung der Ehe zu „einem weltlich Geschäft“. Die gesellschaftlichen Triebkräfte, denen sie im religiös-ideologischen Feierkleid diente, sind die nämlichen, die in konsequenter Weiterentwicklung heute am Werke sind, die Verhältnisse und Menschen für die wahrhaft sittliche Ehe der Zukunft umzuschaffen. Mit ihnen und der lichtdurchfluteten Perspektive, die ihr Walten und Weben uns eröffnet, werden wir uns in dem folgenden Schlussartikel beschäftigen.
Zuletzt aktualisiert am 11. November 2024