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Aus Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Stuttgart, I: Nr. 8, 18. April 1906.
Einer, der für die Öffentlichkeit längst tot sein müsste, wenn Schmach töten könnte, hat neulich im Reichstag geredet. Und obendrein noch über Sittlichkeit. Pater Stöcker feierte die Ehe als den starken Hort aller geschlechtlichen Moral, und er eiferte gegen die „freie Liebe“ als den Inbegriff aller sexuellen Verworfenheit. Ganz wie es sein ehemaliges Handwerk verlangt. Nach dem teuren „Gottesmann“ a. D. geht heute
„der ernsteste Kampf im öffentlichen Leben gegen das Herunterziehen der Ehe in den Schmutz. Es stehen sich gegenüber: der sittliche Gedanke, dass das geschlechtliche Leben nur auf dem Boden der Ehe stattfinden soll, und der unsittliche Gedanke, dass freie Liebe erlaubt sei. Eine große Schar von Leuten, welche heute die Freiheit des Fleisches verteidigen und treiben, führen ohne Scheu und Scham ihre Sache ... Frauen ziehen im Lande umher, welche die Ehe beschimpfen und die freie Liebe verkündigen. Etwas ähnliches von Scheußlichkeit hat es im deutschen Lande und Volke noch nicht gegeben ... Wir haben in diesem Wirrsal das Wort gehört, es sei für eine Frau nicht mehr anständig, in der Ehe zu leben.“
Die Philippika ist offenbar in der Hauptsache veranlasst worden durch die Erörterung des Eheproblems in frauenrechtlerischen Kreisen. Diese Erörterung zeitigte eine scharfe, nur zu berechtigte Kritik der heutigen bürgerlichen Ehe; sie brachte unter anderem auch die kindliche Aufforderung, durch eine größere Anzahl freier Ehen die nötige Reform durchzusetzen. An den strittigen Auseinandersetzungen muss man mit Fug und Recht tadeln, dass mangelnde und unreife historische Schulung an dem viel verschlungenen Problem herumtastete, dass dessen ökonomischer Untergrund zu wenig und zu verworren gewürdigt wurde. Allein ihr sittlicher Gehalt war das Ausfluss hochgespannten Idealismus, der, den Blick auf die Menschheitsentwicklung gerichtet, die Beziehungen zwischen Mann und Weib veredeln und vertiefen will. Vom Standpunkt der Moral aus kann nur pfäffische Engbrüstigkeit oder Schlimmeres noch einen Stein auf sie Werfen.
Mehr als alle anderen aber sollten sich die Vertreter der protestantischen Kirche davor hüten, Räuber und Mörder über jeden zu rufen, der, von leidenschaftlichem Sittlichkeitsempfinden getrieben, Kritik an der heutigen bürgerlichen Ehe übt und mit sehnsuchtsvoller Seele im Bewusstsein seiner sozialen Verantwortlichkeit nach einer vollkommeneren höheren Form des Zusammenlebens von Mann und Weib sucht. Denn gerade was die proklamierte Unantastbarkeit dieser Ehe anbelangt, haben „Diener am Wort“ bewiesen, dass „sie auch anders können“. Wenn ihnen auch die geschichtliche Erkenntnis mangelte, dass von der Geschlechtsmoral ebenfalls gilt: ländlich-sittlich oder richtiger zeitlich-sittlich, so eignete ihnen genügend höfische Bedientenhaftigkeit, um zu erkennen, dass in dieser Beziehung unter allen Umständen fürstlich sittlich ist. Die Leuchten der Reformation: Luther, Melanchthon und Bucer gaben ihren Segen zu der Doppelehe, welche der geile Landgraf Philipp von Hessen einging, um sich nicht der Gefahr einer zweiten syphilitischen Verseuchung auszusetzen. Und sie hoben bei dieser Gelegenheit obendrein in schimpflicher Doppelzüngigkeit eine zwiefache Moral auf den Schild: eine für die Fürsten, eine für die „groben Bauern“ –, die bekundet, dass die Jesuiterei schon lange vor der Gründung des Jesuitenordens von den Hütern der „christlichen Wahrheit“ geübt worden ist. Bucer bat, die Doppelehe geheim zu halten, „um etlicher schwacher Christen willen, die nicht mögen geärgert werden“. Luther und Melanchthon aber erklärten, dass die Doppelehe zwar unzulässig sei, dass aber ein Fürst wohl eine Ausnahme machen dürfe. Denn „ein großer Unterschied ist, ein gemein Gesetz zu machen, oder in einem Falle aus gewichtigen Gründen und doch nach göttlicher Zusagung eine Dispensation zu gebrauchen“. Als er zur zweiten Gemahlin auserkorenen Margarethe von der Saale Zweifel über die Zulässigkeit der Doppelehe aufstiegen, wurden diese von Hofprediger Lenning in einer eigenen Schrift unter Hinweis auf die Bibel und das Beispiel von Esther und Abigail zum Schweigen theologisiert.
Die protestantische Kirche kann es nicht einmal mit der Zeit und den außergewöhnlichen Umständen entschuldigen, dass ihre Begründer „die Freiheit des Fleisches“ segneten. Denn „Ähnliches von Scheußlichkeit hat sich im deutschen Lande und Volke“ später und unter gänzlich veränderten Verhältnissen mit ihrer Genehmigung wieder begeben. Es war zu Zeiten Friedrich Wilhelms II. von Gottes Gnaden König von Preußen, und einer der ärgsten Wollüstlinge und borniertesten Frömmler, die je deutsche Throne geziert haben. Das geschlechtliche Luderleben dieses Biedermannes trübte nicht um einen Hauch seine innigen Beziehungen zur Geistlichkeit. Und nicht bloß Wöllner der „betrügerische und intrigante Pfaff“ um mit dem alten Fritz zu reden, auch Theologen in Amt und Würden haben in schöner Untertänigkeit vor dem schönen Minchen Enke, alias Frau Rietz, alias Gräfin Lichtenau gedienert, der Obermätresse des viel liebenden Königs. Auf seine beiden Doppelehen in der einen wurde ihm ein Fräulein von Voss, in der zweiten eine Gräfin von Dönhoff „zur linken Hand“ mit „göttlicher Zusagung“ angetraut, flehte die Kirche den Segen des Himmels herab. Doch sehen wir von einzelnen Fällen ab, wo „Verkünder des reinen Evangeliums“ amtlich und in aller Form dem „sittlichen Gedanken“ ein Schnippchen schlugen, „das das geschlechtliche Leben nur auf dem Boden der Ehe stattfinden soll“. Es bleibt dann noch immer die Tatsache bestehen, dass hohe Würdenträger des Protestantismus sich wieder und wieder mit der zügellosen „Freiheit des Fleisches“ an den Höfen und in den Kreisen des Adels schweigend abfanden, dass sie Fürstenehen weihten, welche aus der schmutzigsten Berechnung geboren, von Anfang an die verkörperte Unsittlichkeit, der Ehebruch in Permanenz waren.
Übrigens haben die Geschorenen in dieser Hinsicht den Gescheitelten nichts vorzuwerfen. Auch die katholische Kirche hat es jederzeit trefflich verstanden, ihr Dogma von der geschlechtlichen Sittlichkeit vor den Leidenschaften der Fürsten und ihrer eigenen Würdenträger geschmeidig in die Knie sinken zu lassen. Als Pius II. zum Kongress in Mantua reiste (1459), ritten ihm bei der Einholung von Ferrara acht Bastarde aus dem Hause Este entgegen, darunter der regierende Herzog Borso selbst und zwei uneheliche Söhne seines ebenfalls unehelichen Bruders und Vorgängers Leonello. Also berichtet Burckhardt in seiner „Kultur der Renaissance“. „War es doch die Zeit, da sich die Söhne der Päpste Fürstentümer gründeten“, setzt er lakonisch hinzu. Und es ist noch kein halbes Jahrhundert her, dass Pius IX. Isabella von Spanien, eine der schamlosesten Dirnen aller Zeiten als „frömmste Tochter der Kirche“ mit der goldenen Tugendrose auszeichnete. Wenn nichts anderes, so sollte die hausbackene Klugheit die katholischen und protestantischen Zeloten davor bewahren, die Ehekritiker und Ehereformer als Lasterhafte zu begeifern.
Doch wichtiger noch als die Frage nach ihrem sittlichen Rechte zum Richteramt ist die andere nach der Berechtigung ihres Sittlichkeitscredos selbst. Mit der Beantwortung dieser Frage werden wir uns in einem folgenden Artikel beschäftigen.
Zuletzt aktualisiert am 11. November 2024