Clara Zetkin

 

Volkserziehung

Koreferat auf dem SPD-Parteitag in Mannheim

(28. September 1906)


Protokoll über die Verhandlungen des Parteitags der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands,
abgehalten in Mannheim vom 24. bis 29. September 1906, S. 347–358.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
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[Ist Erziehung in der Familie möglich?]

Genossen! Ehe wir daran gehen, eine Antwort auf die Frage zu geben, was sollen die sozialistischen Eltern auf der Grundlage der von Schulz entwickelten prinzipiellen Auffassung innerhalb des Rahmens der Familie für die Erziehung ihrer Kinder tun, müssen wir eine Vorfrage beantworten. Wenn wir die Gegner hören, so konstatiert die Sozialdemokratie nicht nur die Auflösung der Familie, sondern sie will die Auflösung der Familie. Es versteht sich aber, dass die Antwort ihrer Frage, was soll die Familie zur Erziehung ihrer Kinder im Geiste des Sozialismus tun, mit der Frage steht und fällt, ob die Familie überhaupt als erziehungsfähige Einheit besteht und oder nicht. Es ist gar kein Zweifel, dass wir in der sozialistischen Theorie bis jetzt mehr und mit größerem Nachdruck auf öffentliche Erziehung hingewiesen haben als wie auf die Erziehung durch die Familie. Das hat seinen guten Grund. Zunächst einen individuellen und theoretischen. Ein großer Teil derjenigen, die als literarische Vorkämpfer des Proletariats im Vordertreffen stehen, ist aufgewachsen im Kampfe gegen die in Auflösung begriffene bürgerliche Familie und den Zwang, den sie auf die gesunde Entwicklung der Individualität ausübt. Er ist aufgewachsen unter dem Eindruck des sittlichen Verfalles, den wir in sehr vielen bürgerlichen Familien finden, der aber durch die materielle Not auch in Kreise des Proletariats hineingetragen wird. Infolge des Drucks der kapitalistischen Produktionsweise, insbesondere infolge der kapitalistischen Ausbeutung der Frau sind zahlreiche Proletarier außerstande, ihre Pflichten als Eltern zu erfüllen, wie es sein müsste. (Sehr richtig!) Noch ein anderer Grund, ein allgemeiner historischer bedingt den hervorgehobenen Umstand. Wir sind die Erben der Theorien des Utopismus gewesen, und in den Theorien des Utopismus hat immer die gemeinsame öffentliche Erziehung an erster Stelle gestanden und den breitesten Raum eingenommen. Das aber nicht etwa aus Lust und Liebe zu den Phantastereien, sondern aus ganz anderen Gründen. Einmal, weil der sozialistische Utopismus in der Hauptsache ausgegangen ist von einer Kritik der bestehenden Gesellschaftsordnung und ihren Schäden. Zu den besonders hervorstehenden Schäden, die das Auge auf sich zogen, gehörten aber unstreitig alle jene körperlichen, geistigen und sittlichen Übel, welche die Vernachlässigung der Jugend erzeugt. Das aber, weil der sozialistische Utopismus eben Utopismus war, weil er die Verwirklichung seiner Ziele nicht von der geschichtlichen Entwicklung und dem von ihr erzeugten und getragenen Klassenkampfes des Proletariats erwartete, sondern von der Verwirklichung bestimmter Ideale. Gerade weil für ihn im letzten Grunde Erziehung eine soziale Tat war, welche die Revolution der Gesellschaft, den Aufbau einer neuen Gesellschaft bedingte, musste er die gemeinschaftliche Erziehung durch die Gesellschaft in den Vordergrund aller seiner Theorien stellen. Wir haben uns wirklich dessen nicht zu schämen, was die sozialistischen Utopisten in puncto Erziehung geschrieben und getan haben. Ich erinnere an Owens geradezu bahnbrechende Kleinkinderschule, an seine fruchtbaren Gedankengänge über die Arbeit als Erziehungsmittel, über seine Wertung von Lohn und Strafe. Abgesehen von Übertreibungen, von paradoxalen Einzelheiten, hat z. B. auch Fourier in seinen Ausführungen über die Erziehung der Kinder Gedankengänge entwickelt, zu denen sich die wissenschaftliche Pädagogik heute bekennt. Was er geschrieben hat über den Wert der Arbeit als Erziehungsmittel, die alle körperlichen, geistigen und sittlichen Kräfte des Menschen zur Entfaltung bringt, deckt sich mit der Auffassung der besten Theoretiker der Pädagogik. Ebenso das, was er über die Notwendigkeit und Bedeutung des Wechsels der Arbeit sagt. Hier liegen in seinen Theorien Auffassungen vor, die wir bei Pestalozzi finden, und was Fourier über die Bedeutung des kindlichen Spiels als Vorbereitung auf die Erziehung der Arbeit geschrieben hat, das entspricht im Wesen durchaus dem Prinzip, das Fröbel für die Erziehung aufgestellt hat.
 

[Umwälzung der Familie im Kapitalismus]

Nun zu der Frage: Welche Auffassung haben wir von der Entwicklung und dem Wesen der Familie? Sind wir der Ansicht, dass die geschichtliche Entwicklung zu einer Aufhebung der Familie überhaupt führt, oder sind wir der Auffassung, dass die geschichtliche Entwicklung nur auf eine Umwandlung der Form, aber zugleich auch au eine Revolutionierung, auf eine Hebung des Inhalts und Wesens der Familie, auf eine vollkommenere gesellschaftliche Institution hinzieht? Von der Antwort auf diese Frage hängt es ab, ob wir der Familie überhaupt Erziehungsaufgaben zuweisen können. – Die kapitalistische Produktionsweise ist zweifellos die Trägerin eines tiefgehenden Umgestaltungsprozesses der vaterrechtlichen Familie, der bürgerlichen Familie, wie wir sie kennen. Dieser Prozess setzt sich in engster Verbindung mit der Umgestaltung der Arbeit und ihrer Bedingungen durch, wie sie durch die kapitalistische Produktion gegeben werden. Von der durch die Revolutionierung der Arbeit bedingten Gestaltung der Frauenarbeit hängt im letzten Grunde die Gestaltung des Haushalts, die Gestaltung des Familienlebens und damit auch die Gestaltung des Rahmens an, innerhalb dessen der erzieherische Einfluss von Seiten der Eltern auf die Kinder geltend gemacht wird. Die kapitalistische Produktion zielt im Allgemeinen darauf hin, die Familie aus einer wirtschaftlichen Einheit in eine sittliche Einheit zu verwandeln. Sie beseitigt mehr und mehr die Naturalwirtschaft, welche die Vorbedingung für die alte hauswirtschaftliche Tätigkeit der Frau gewesen ist. Aber der gleiche Prozess der Vertreibung der Naturalwirtschaft aus der Familie und damit die Entlastung der Frau von produktiver wirtschaftlicher Tätigkeit im Rahmen des Hauses, für den Bedarf des Hauses, wirkt in den verschiedenen Klassen verschieden. In den oberen Zehntausend führt dieser Prozess nicht nur zu der Entlastung der Frauen von den Arbeiten des Haushalts, sondern da dort Besitz die Grundlage der Familie ist, zur Entlastung der Frauen von jeglicher produktiver Tätigkeit überhaupt. Dem Umwandlungsprozess eignet die Tendenz, die Frauen der besitzenden Klasse in bloße Parasiten zu verwandeln, auch in geistiger Beziehung. (Sehr richtig!) Die Geschichte zeigt uns, dass da, wo die Frau von der produktiven Tätigkeit emanzipiert wird, sie nach und nach überhaupt jeder Arbeit enthoben wird. Infolgedessen wird in den Kreisen der oberen Zehntausend das Verhältnis zwischen den Gatten und das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern aus einem persönlichen Verhältnis mehr und mehr in ein Sachverhältnis verwandelt. (Sehr richtig!) Weniger und weniger sind sowohl für den Familienschluss wie für die Familiengestaltung die persönlichen Eigenschaften der Gatten maßgebend als vielmehr die Besitzverhältnisse. Die Gatten schließen die Ehe nicht auf Grund dessen ab, was sie sind, sonder auf Grund dessen, was sie haben. (Sehr richtig!) Ebenso wird das Verhältnis der Eltern zu den Kindern nach und nach zu einem Sachverhältnis. Der Besitz ermöglicht es sowohl dem Vater wie der Mutter, die Pflichten der Erziehung Mietspersonen zu übertragen, und die persönliche Anteilnahme an dem Erziehungswerk beschränkt sich sehr oft darauf, dass die Eltern die Direktive geben und in ihren Geldbeutel greifen und Mietskräfte zahlen. Des Besitzes wegen wird die äußere Form der Familie aufrecht erhalten und äußerlich respektiert; aber ihr Inhalt ist zerfetzt und korrumpiert.

Anders vollzieht sich der Umwälzungsprozess der Familie im Proletariat. Hier wird die äußere Form der Familie zersetzt und aufgelöst – zumal die kapitalistisch ausgebeutete Frauenarbeit spielt dabei eine bedeutsame Rolle – aber der Inhalt, das Wesen der Familie wird versittlicht und gehoben. Im Proletariat kann, dank der Klassenlage, die Frau nach der Entlastung von der alten hauswirtschaftlichen Arbeit nicht als Parasitin leben. Die Familie sinkt deshalb auch nicht zu einer Gemeinschaft im Genuss herunter, sie bleibt vielmehr eine Gemeinschaft in der Arbeit. Die Frau muss die Arbeit, die produktive, die gesellschaftlich notwendige Arbeit, die sie nicht mehr im Rahmen der Familie zu leisten vermag, auf dem gesellschaftlichen Markt der Berufsarbeit leisten. (Sehr richtig!)

Damit ist die Vorbedingung für die Umgestaltung der Familie auf einer neuen sittlichen Grundlage gegeben. Denn es werden von vornherein sowohl für die Gründung als auch für die Weiterführung und Gestaltung der Familie die Besitzverhältnisse ausgeschlossen, die persönlichen Beziehungen zwischen den Gatten, sittliche Werte zur Grundlage erhoben. Aber wir dürfen hierbei verschiedenes nicht übersehen. Vor allem müssen wir die Auffassung preisgeben, als ob das proletarische Familienverhältnis, wie es sich auf der Grundlage der veränderten wirtschaftlichen Tätigkeit der Frau herausbildet, etwas gemein hätte mit der alten kleinbürgerlichen Idylle vom Familienleben, wie sie etwa durch die Titelbilder vom „Daheim“ oder der „Gartenlaube“ illustriert wird. (Heiterkeit und sehr gut!) Im Kommunistischen Manifest heißt es: „Die Lebensbedingungen der alten Gesellschaft sind schon vernichtet in den Lebensbedingungen des Proletariats.“ Der Proletarier ist eigentumslos; sein Verhältnis zu Weib und Kindern hat nichts mehr gemein mit dem bürgerlichen Familienverhältnis.

Das trifft durchaus zu. Das alte bürgerliche Familienverhältnis ist seinem Wesen nach darauf gegründet, dass der Mann als Erhalter und Ernährer der Familie gilt und der Herr der Familie ist, während die Frau in seinem Privatdienste innerhalb der Familie wirkt und unter dem Manne steht. Dadurch aber, dass infolge der Umwälzung im Produktionsleben die Frau als Berufsarbeiterin ökonomisch auf eigene Füße gestellt wird, stehen sich beide Gatten als gleichberechtigt gegenüber. Auf dieser Gleichberechtigung bauen sich die neuen sittlichen Beziehungen zwischen Mann und Weib in der Familie auf. Auf dieser Grundlage erwachsen aber auch die Bedingungen, unter denen Mann und Weib in der proletarischen Familie als Eltern walten, denn auch betreffs der Pflege und Erziehung der Kinder liegen die Verhältnisse anders als in den bürgerlichen Kreisen. Wenn die Bourgeoisdame aus irgendwelchem Grunde ihre Kinder nicht selbst erziehen kann oder will, so wird deshalb noch lange nicht der Mann als Pfleger und Erzieher einspringen. Wenn dagegen im Proletariat die Frau durch ihre Einbeziehung in das Heer der Industriearbeiterinnen ganz oder zum großen Teil außerstande gesetzt wird, ihren Pflichten als Erzieherin der Kinder so nachzugehen, wie es in Rücksicht auf das Erziehungsresultat der Fall sein sollte, dann bedingen es die Umstände ganz von selbst, dass nicht bezahlte Mietlinge nur Pflichten übernehmen, sondern dass der Mann ohne Rücksicht auf männliche und weibliche Arbeit ihr helfend zur Seite tritt. (Sehr richtig!) Wir haben in dem Umstand, dass die Not den Mann hierzu zwingt, einen Fortschritt zu begrüßen, der planmäßig und bewusst weiter geführt werden muss. Es ist ein Ansatz dazu, dass der Mann seine Aufgabe als Genosse der Frau bei dem verantwortungsreichen Erziehungswerk zu übernehmen beginnt. Diese Entwicklung der Dinge, die darauf abzielt, allmählich den Mann wieder in das Heim zur Erziehung der Kinder zurückzuführen, tritt auf als eine Begleiterscheinung des Hinausschreitens des Weibes als Berufsarbeiterin in die Gesellschaft. Sie ist die Vorbedingung dafür, dass das Weib in der Gesellschaft als gleichberechtigte Genossin des Mannes auf allen Gebieten produktiver, gesellschaftlich notwendiger Arbeit tritt. Aber wir dürfen den Umgestaltungsprozess nicht nur begrüßen im Hinblick auf die Entlastung der Frau, wir müssen ihn auch fordern in Hinblick auf die vollkommeneren Endresultate in der Familie. Mann und Weib sind ihrer geistigen und sittlichen Eigenart nach so wenig völlig gleich, als sie ihrer körperlichen Art nach gleich sind. Und in dieser Verschiedenheit liegt ein äußerst wichtiges und wertvolles Moment für die Erziehung der Kinder. Wie Mann und Weib zusammengehören als Zeugende, so gehören sie auch zusammen als Erzieher des Kindes, denn die Erziehung ist eine zweite Schöpfung des Kindes und in vielfacher Beziehung oft genug die wichtigste Schöpfung, darum ist es notwendig, dass bei der Erziehung die geistige und sittliche Kraft, welche der Mann auf der einen Seite und das Weib auf der anderen Seite einzusetzen haben, sich in freier Entfaltung harmonisch zusammenfügen. Wir erklären deshalb grundsätzlich, dass das Erziehungswerk nicht einseitig Mutterwerk sein soll, sondern dass es gemeinsames Elternwerk sein muss. Eine ganze Reihe hervorragender Pädagogen hat jederzeit mit aller Schärfe betont, wie notwendig und wichtig es ist, dass der Vater vollen Anteil an dem Werk der Erziehung der Kinder nimmt. Wir können es nur beklagen, wenn durch die berufliche Tätigkeit, durch den Kampf um die Existenz draußen auf dem Wirtschaftsmarkt der Gesellschaft, die Kraft des Mannes so ausgelaugt wird, dass er die Erziehung des Kindes vollständig der Frau überlassen muss. Diese Einseitigkeit liegt nicht im Interesse einer gedeihlichen Erziehung. Wir müssen deshalb darauf hinwirken, dass der Mann immer besser seien Aufgaben als Miterzieher der Kinder genügen kann.
 

[Erziehung zu Individualität und Gemeinschaft]

Die Erziehung des Hauses, die das gemeinschaftliche Werk der Eltern sein soll, steht unseres Erachtens nicht im Gegensatz zur öffentlichen Erziehung: Sie muss vielmehr ergänzend und vervollständigend neben die öffentliche Erziehung treten. Welches sind die Gründe, die uns bestimmen, mit großem Nachdruck nicht nur die Aufrechterhaltung der jetzigen öffentlichen Erziehung zu fordern, sondern ihre Ausdehnung zu befürworten? Wenn es nur der Hinblick wäre auf die Schäden, die heutzutage im Proletariat infolge der Erziehungsunfähigkeit seitens vieler Familien hervortreten, so müssten wir für die Zukunft darauf hinarbeiten, alle diese Schäden zu beseitigen, die Frau dem Hause zurückzugeben und die Erziehung einzig und allein das Werk des Hauses sein zu lassen. Aber das Ziel der Erziehung soll nicht bloß das sein, die Persönlichkeit zu erziehen, sondern die Persönlichkeit im Bewusstsein dessen zu erziehen, was sie der Gemeinschaft dankt, und was sie ihr schuldet. Wir bedürfen der öffentlichen Erziehung, damit in der Brust des Kindes von zartester Jugend an alle jene Gefühle entwickelt werden, welche Wurzeln der sozialen Tugenden sind, der die Gesellschaft bedarf. Aber während die öffentliche Erziehung immer den Schwerpunkt des Wirkens der körperlichen, geistigen und sittlichen Ausbildung der Individualität im Hinblick auf die Gemeinschaft findet, während in der öffentlichen Erziehung die Berücksichtigung der individuellen Eigenart zurücktreten muss, da ist es Aufgabe der Familie, der Individualität ihr Recht werden zu lassen. Die Berechtigung und Bedeutsamkeit dieser Aufgabe erhellt uns die Ergebnissen der Psychologie, welche notwendig bedingt zu einer Grundlage der Pädagogik geworden ist Die Psychologie weist mit aller Schärfe nach, wie bedeutsam es ist für das höchstmögliche Erziehungsresultat, dass die individuelle Veranlagung eine weitestgehende Berücksichtigung findet. Wenn wir die öffentliche Erziehung brauchen, um Bürger zu erziehen, so bedürfen wir der häuslichen Erziehung, um starke Persönlichkeiten zu erziehen. Das liegt im letzten Grunde im Interesse der Gemeinschaft selbst, in die wir die Jugend geistig und sittlich hinein erziehen wollen. Was der einzelne der Gemeinschaft zu geben hat, das wird um so wertvoller, um so reicher sein, je reicher und kraftvoller er seine Persönlichkeit ausgestaltet hat. Aber, werte Anwesende, wenn wir von diesem Gesichtspunkte aus die Erziehung zur Individualität ins Auge fassen, so muss das immer geschehen, getragen von der Überzeugung, dass die Individualität sich nicht im luftleeren Raume entwickelt, dass sie im innigsten Zusammenhange mit der Gemeinschaft steht, dass sie aus ihr kommt und dass sie für sie erzogen werden soll. Pestalozzi, der der Erziehung zur Individualität die größte Bedeutung beigemessen hat, erachtet gerade die Familie als die Gemeinschaft, welche die Verbindung zwischen der einzelnen Persönlichkeit und der Gesellschaft vermittelt.

Von diesem Gesichtspunkt ausgehend, erklärt z. B. der Pädagoge Professor Rein: „Durch den Einfluss der Familien werden auf dem Grunde von Individualitäten, die feinen Linnen in der Gefühls- und Denkweise gezogen, in der Anschauung und im Urteil, in der Sprache und in der Gesinnung, in den Neigungen, Gewohnheiten, Affekten, Leidenschaften, im Wünschen, Fürchten und Hoffen, im Sehen, Hören und Angreifen der Dinge, in der Beachtung der Naturerscheinungen und in der Wertschätzung der Gesinnung und Handlungen der Menschen, in den Sympathien und Antipathien, im Wählen und Verwerfen, in der Beschäftigung und im Handeln.“ Diese Linien frühzeitig angelegt, werden allmählich immer tiefer ausgefurcht, bis sie diesen und keinen anderen Menschen mit ganz bestimmten Zügen aus dem heranwachsenden Kinde gemacht haben. Der Berücksichtigung der Individualität kommt gerade bei der Familienerziehung die höchste Bedeutung insofern zu, als in der vorschulpflichtigen Zeit ohne Zweifel das Kind betreffs seiner Entwicklung die größten Leistungen zu vollbringen hat. Was in körperlicher, in geistiger, in sittlicher Beziehung im Kinde in den ersten sechs bis sieben Jahren seines Lebens gepflegt, entwickelt und gestaltet wird, das bleibt meist grundlegend für das ganze spätere Leben: Die Eindrücke, die Richtlinien, die in jener Zeit gegeben werden, lassen sich schwer verwischen.
 

[Grundsätze der Erziehung durch die Familie]

Was kann nun die Familie tun, um auf der Grundlage dieser Auffassung das Kind zur Individualität für die Gesellschaft zu erziehen? Da möchte ich in erster Linie der Familie die Aufgabe stellen, das Kind zum richtigen Wollen zu erziehen, zum Wollen, das unter Umständen in sich begreift ein Sichfügen, Sichunterwerfenkönnen und das im Hinblick auf die Gemeinschaft, in der das Kind lebt. Weiter tut Not die Erziehung zum Gebrauch der Freiheit, die nun und nimmermehr erwachsen kann, wenn die Eltern den Kindern gegenüber im Verhältnis starrer Autorität stehen, wenn sie diese zwingen, statt sie zu führen und zu überzeugen. Es gilt in dem Kinde schon den heranwachsenden Menschen, den Bürger der Gemeinschaft zu respektieren. Die ersten Ansätze für die gesunde Bildung des Willens und des Intellekts, die stecken meiner Meinung nach in der Gewöhnung des eben geborenen Kindes zur Reinlichkeit, zur Regelmäßigkeit. Denn in dieser Gewöhnung haben sie die Grundlagen einer gesunden körperlichen und geistig-sittlichen Entwicklung; diese Gewöhnung enthält die Keime wertvoller individueller und sozialer Tugenden, die sich später entfalten müssen. Wenn wir nun an das Werk der Erziehung des Willens und des Intellekts von unserer sozialistischen Auffassung aus herangehen, dass sie für die Gemeinschaft geschehen soll, so ist es die Pflicht der sozialistischen Eltern, ihre Kinder auf der Grundlage ihrer Weltanschauung allmählich in das sozialistische Fühlen und Denken einzuführen. Nicht in der groben Weise, dass die Eltern das Kind zwingen, tendenziöse politische, sozialistische Formeln auswendig zu lernen und nachzuplappern. Das ist ganz verkehrt. (Sehr richtig!) Und genau so verderblich für Geist und Charakter des Kindes wie die Aufzwingung irgend welcher religiöser oder bürgerlich politischer Formeln. (Sehr wahr!) Aber, geehrte Anwesende, wenn wir auch diesen Unfug an dem Kinde zurückweisen, so ist damit keineswegs gesagt dass wir nicht auf andre Weise auch schon das Kind in die Gefühle und Gedankenwelt der sozialistischen Weltanschauung einführen können. Das geschieht nach der einen Seite hin dadurch, dass wir das Kind lehren, allmählich in der Betrachtung der Natur und aller natürlichen Dinge jeden übersinnlichen außerhalb der natürlichen Welt stehenden Einfluss auszumerzen und auszuscheiden. Dass wir es gewöhnen, in allen natürlichen Vorgängen und Erscheinungen natürliche Prozesse zu sehen, die sich nach bestimmten, den Dingen selbst immanenten Gesetzen vollziehen. Von der Art und Weise, wie sich die Eltern allem Natürlichen gegenüber stellen, hängt in hohem Maße die Stellungnahme ab, die das Kind von seiner zartesten Jugend an zu den Problemen des natürlichen Seins einnehmen wird. Besondere Pflicht der Eltern ist es, nie ohne Not natürliches Sein zu töten, zu vernichten, zu zerstören; dass sie nie ohne Not in der Zerstörung oder Vernichtung natürlichen Seins Grausamkeit betätigen. Dadurch legen sie die ersten Grundlagen in dem Gemüt des Kindes, sich selbst zu erkennen als ein Glied in der langen Kette des organischen Seins. Ebenso haben es die Eltern in der Hand, ohne Zwang das Kind allmählich auf der Grundlage unserer Anschauungen in das soziale Sein einzuführen. Als wichtigstes Mittel der häuslichen Erziehung zu diesem Zwecke erscheint mir die Erziehung zur produktiven Arbeit, der selbstverständlich zuerst eine zweckmäßige und verständnisvolle Anlage zum Spiel im Geiste Fröbels voranzugehen hat, denn für das Kind ist auch das Spiel eine Arbeit, eine Äußerungsform des inneren Tätigkeitsdranges, der nach Ausdruck dringt. Sehr bald geht das Kind vom Spiel zur produktiven Arbeit über. Das Kind kennt gar kein größeres Vergnügen als das, was uns seinerseits noch als Spiel erscheint, als zweckmäßige, als produktive Arbeit zu empfinden. Es sind die größten Kindesseligkeiten, die aus dem Gefühl herauswachsen, in freier, schöpferischer Tätigkeit etwas Nützliches, Wertvolles getan zu haben, (sehr gut!) mag es vielleicht auch einem Erwachsenen als ganz verkehrt oder überflüssig erscheinen.
 

[Vorurteilen gegen Handarbeit und Frauenarbeit entgegenwirken]

Die Eltern können in dieser Weise das Kind durch die Erziehung zu Spiel und Arbeit zur sozialen und sozialistischen Wertschätzung der Arbeit und zur Freude an ihr erziehen. Die häusliche Erziehung zur Arbeit ist aber weiter ein Mittel, um den sozialen Vorurteilen entgegen zu arbeiten, die durch die Verhältnisse außerhalb der Familie in die Seele des Kindes hineingetragen werden könnten. Ich kenne kein besseres Mittel, um den Keim solcher Vorurteile zu vernichten als dass die Eltern beiden Verrichtungen, die im Hause notwendig sind, nie eine sozial geringere Wertschätzung der einen oder der anderen Tätigkeit angedeihen lassen. Sei es Handarbeit oder Kopfarbeit, Frauenarbeit oder Männerarbeit. Durch die Art, wie die Eltern sich zu der Arbeit stellen, können sie schon dem zartesten Kind die Auffassung fest einpflanzen, dass es für die soziale Wertung nur eine Art der Arbeit gibt, gesellschaftlich notwendige, gesellschaftlich nützliche Arbeit. In diesem Zusammenhang möchte ich ganz besonders auf die Pflicht der Eltern aufmerksam machen, ihre Knaben und Mädchen nicht in den Vorurteilen aufzuziehen, dass es Arbeiten gibt, die des Mannes unwürdig sind, die aber dem Weibe geziemen. Knaben und Mädchen sollen alle Vorrichtungen, die das häusliche Leben mit sich bringt, mit gleich großer Geschicklichkeit und Freude verrichten können. Ich will dadurch keineswegs die Teilung der Arbeit zwischen den Geschlechtern beseitigt wissen, soweit dieselbe sozial notwendig ist, und im Hinblick auf das Ergebnis der Arbeit durch vererbte Disposition oder Geschicklichkeit geboten erscheint, mag auch an dem Vererbten das unter sozialen Einflüssen geschichtlich Erworbene ein gut Teil haben. Ich will nur dem alten Vorurteil von höherwertiger Männerarbeit und minderwertiger Frauenarbeit entgegen zu wirken suchen. Was bedeutet denn im letzten Grunde diese Scheidung zwischen höherwertiger Männerarbeit und minderwertiger Frauenarbeit. Dieser Unterschied ist im letzten Grunde weiter nichts als ein Reflex der verschiedenen sozialen Wertung von Kopf- und Handarbeit. Gehen Sie den Dingen auf den Grund, so werden Sie finden, dass den bürgerliche Vorurteilen entsprechend, Männerarbeit, und mag sie auch noch so mechanisch sein, der Frauenarbeit gegenüber noch als eine höhere, qualifiziertere Art der Arbeit, als Kopfarbeit gilt. Um diesen Vorurteilen entgegen zu wirken, soll man Knaben und Mädchen ohne Unterschied gewöhnen, allen häuslichen Verrichtungen ohne Vorurteil nachzugehen. Wenn Sie das befolgen, so werden Sie sehr viel dazu beitragen, die Vorurteile zwischen den Geschlechtern zu beseitigen. Der Knabe wird mit einer gerechten sozialen Wertung des Weibes und seiner Leistungen in das Leben hinaustreten. Dem Weibe aber, der Mutter, dem Mädchen, wird in der Familie, wie draußen in der Gesellschaft eine reichere Lebensmöglichkeit, eine reichere Entwicklungsmöglichkeit geschaffen. Der Mann wird von seiner Ungeschicklichkeit in seinen so genannten weiblichen Verpflichtungen emanzipiert, und das Vorurteil von dem verschiedenen sozialen Wert der Hand- und Kopfarbeit wird zerstört. (Sehr gut!)
 

[Aufklärung in geschlechtlichen Dingen]

Werte Anwesende! Ich will noch auf eine ganz besondere Aufgabe der Familie hinweisen, die in enger Beziehung steht mit der Einführung des Kindes in die Welt des natürlichen Seins. Das ist die Aufklärung in geschlechtlichen Dingen. Meiner Meinung nach gibt es keine größere Sünde wider den heiligen Geist der Wahrheit, gegen die geschlechtliche Reinheit, die wir unseren Kindern erhalten sollten, als wenn wir sie durch Märchen vom Storch und ähnliches über die menschliche Entwicklung täuschen. (Sehr richtig!) Durch diese Märchen, durch die Geheimnistuerei veranlassen wir nur die Kinder, mit roten Köpfen einander Geschichtchen in die Ohren zu flüstern, Geschichtchen, die, die sie recht oft in der Gasse aufgehoben haben, die sie einem entarteten, frühreifen Kameraden verdanken, kurz Geschichten, die in den seltensten Fällen Ausfluss seelischer und körperlicher Reinheit sind. Wir können nur bedauern, dass die Unwissenheit, in welcher große Kreise der proletarischen Eltern sich befinden, recht viele Mütter und auch Väter außer Stande setzt, ihre Kinder in der geeigneten keuschen, in möchte sagen heiligen Weise in die Geschichte der Entwicklung menschlichen Lebens einzuführen. Die Familie kann daher meist nur in bescheidenem Maße die vorliegende Aufgabe erfüllen, sie muss zum großen Teile durch die Schule weitergeführt und vervollständigt werden. Aber ich wollte wenigstens mit allem Nachdruck darauf hinweisen, dass die Eltern, wenn sie körperlich und sittlich reine Kinder in die Welt hinaussenden wollen, die Pflicht haben, nicht eine krankhafte und ungesunde Phantasie bei ihren Kindern durch die Heimlichtuerei in den Dingen des sexuellen Lebens zu reizen.
 

[Erziehung zu produktiver Arbeit]

Was den Hauptgrundsatz anbelangt, die Einführung der Kinder in das soziale Leben durch die häusliche Erziehung zur produktiven Arbeit, so hat auch Pestalozzi die häusliche Erziehung der Kinder zur Arbeit zur Grundlage der sozialen Pädagogik gemacht. In seinem berühmten Roman Lienhard und Gertrud lässt er die sittliche Erneuerung eines Dorfes von der Erziehung zur Arbeit ausgehen, die Gertrud im Hause ihren Kindern angedeihen lässt, eine Erziehung zur Arbeit, die auf jenen Grundsätzen beruht, die Genosse Schulz Ihnen vor mir dargelegt hat. Und Pr. Natorp weist ausdrücklich darauf hin, dass gerade die Familie die erste, die berufene Gemeinschaft ist, um das Kind durch Erziehung zur Arbeit in das Wirken für die Gemeinschaft einzuführen, weil das natürliche sinnliche Band des Wohlwollens, das zwischen Eltern und Kindern besteht, alle jene Härten, die nach der Gewöhnung und Anlehnung zu systematischer Arbeit verbunden sind, mildert und erleichtert. So wird es ermöglicht, dass die Arbeit zu einer Quelle der Freude und des Genusses sich gestaltet und das prachtvolle Wort seine Erfüllung findet, das Pestalozzi von den Kindern der Gertrud sagt: Sie taglöhnerten, aber ihre Seelen taglöhnerten nicht. So weit wir Eltern sind, haben wir alle die Pflicht, unsre Kinder zu einer Arbeit in der Familie zu erziehen, bei welcher ihre Seele nicht taglöhnern, sondern emporblühen, genießen und sich zu fruchtbarem Schaffen entfalten kann.
 

[Sozialistische Familienerziehung in der Klassengesellschaft]

Aber eins ist selbstverständlich. Von dem Augenblick an, wo wir die Erziehung im Hause darauf hinauszielen lassen, alle sozialen Vorurteile der bürgerlichen Ordnung zu vernichten, das Kind schon in die sozialistische Gefühls- und Gedankenwelt einzuführen, langsam, stufenweise, schrittweise in einer Auffassung heimisch zu machen, die im Widerspruch steht zur bürgerlichen Weltanschauung: von diesem Augenblick an geraten wir in Gegensatz mit demjenigen, was die Schule des Kindes lehrt. Ich hatte eingangs gesagt, dass die häusliche Erziehung sich harmonisch ergänzend anschließen soll an die öffentliche Erziehung. So lange aber die Schule ein Instrument der Klassengesellschaft ist, so lange sie in erster Linie das Ziel verfolgt, nicht Menschen zu bilden, sondern geschickte Produktionswerkzeuge und demutsvolle Untertanen für die kapitalistische Gesellschaftsordnung, so lange wird auch die häusliche Erziehung die Kinder und die Eltern im Konflikt mit der Schule bringen. Was können wir tun, um den Einflüssen planmäßig entgegenzuwirken, welche aus der Schule in das geistige und seelische Leben des Kindes hineingetragen werden Ich bin folgender Überzeugung: Wenn die Eltern im Sinne der sozialistischen Weltanschauung von klein auf einwirken, so ist bei dem Eintritt des Kindes in die Schule bereits ein gewisser Fond sozialistischen Fühlens und Denkens vorhanden, der groß genug ist, dass das Kind alles, wenigstens das wichtigste, was der Lehrer im Gegensatz zu unserer Anschauung sagt und in das Kind hinein erziehen will, als etwas Fremdes, wenn nicht gar als etwas Feindseliges empfindet. Wir haben gar nicht notwendig, das Kind von vornherein mit Misstrauen gegen den Lehrer zu erfüllen (Sehr richtig!), nicht notwendig, ihm zu sagen: Sei auf der Hut, du wirst manches hören, was du zu Hause nicht gehört hast, manches wird gelehrt werden, was wir verurteilen, manches wird verdammt werden, was uns heilig ist. Nein, das wäre unpädagogisch und ist meiner Ansicht nach auch ganz überflüssig, wenn die Eltern in der vorschulpflichtigen Zeit mit Liebe und Verständnis das ihrige getan haben, um die Ansätze ihres sozialistischen Denkens und Empfindens in das Kind zu pflanzen. Aber ich bin auch persönlich der Meinung: Wenn der Lehrer in taktloser Weise die Anschauungen der Kinder in der Schule verletzt, wenn er mit Gewalt ihre Gedanken und Empfindungen unter die bürgerlichen Dogmen beugen will, dann haben die Eltern die Pflicht, den Kampf gegen die Taktlosigkeit und Übergriffe des Lehrers aufzunehmen. (Sehr wahr!) Zunächst dadurch, dass sie in persönlicher Aussprache ihr Recht und das Recht des Kindes verteidigen, und wenn das nicht hilft, dann müssen sie den Kampf dafür in der Öffentlichkeit aufnehmen. Ich verurteile es auch nicht, wenn ältere Kinder unter Umständen, falls sie in grober Weise in der Schule provoziert werden, öffentlich sich zu ihrer Meinung bekennen und dem Lehrer entgegentreten. (Bravo!) Dadurch lernen sie, sich zu ihrer Überzeugung bekennen, zu ihr zu stehen, und, wenn es sein muss, für sie zu leiden. Das entscheidende bei dem aufgenommenen Eintreten für die Überzeugungen und ihr Recht ist, dass Kinder wie Eltern mit dem nötigen Takt handeln. Die Disharmonie zwischen Schule und Haus kann uns Leid tun, aber die Zukunft unserer Kinder ist uns so heilig, dass wir um ihretwillen den Krieg mit dem Lehrer durchfechten müssen. Wenn ich vor der Wahl stehe, mit einem Lehrer oder einem Schulkollegium einen unangenehmen Konflikt zu bekommen, oder die Seele meines Kindes dauern vergiften zu lassen, dann trete ich als Mutter oder Vater mit ganze Energie für das Recht meines Kindes ein.
 

[Historischer Materialismus bedeutet nicht Fatalismus]

Wenn wir aber den Eltern so hohe Aufgaben zuweisen, wird sich sofort die Frage aufdrängen, wie sie heutzutage unter dem Drucke der proletarischen Klassenlage gelöst werden sollen. Ich gebe ohne weiteres zu, dass es für Hunderte und Tausende von Familien schwer, ja vielleicht unmöglich wird, ihnen auch nur annähernd gerecht zu werden; jedoch ehe ich mich dieser Seite des Problems zuwende, drängt sich mit eine Erwägung auf. Die Arbeiterbewegung hat im Allgemeinen mit den gewerkschaftlichen und politischen Organisationen die verhältnismäßig besser gestellten Schichten des Proletariats erfasst. Innerhalb dieser Schichten kann in puncto der Erziehung noch weit mehr geschehen als heute geschieht. Die wichtigste Voraussetzung dafür ist gewissenhafte Selbsterziehung, die geistige Fortbildung inbegriffen.

Sie werden wahrscheinlich sagen: „Wir sind Produkte unseres Milieus; wir können nicht über die materiellen und geistigen Schranken hinaus, die uns verhindern, mit Takt und Verständnis an der Erziehung unserer Kinder, mit Strenge an unserer Selbsterziehung zu arbeiten.“ Ich warne Sie davor, dieser Auffassung zu huldigen. Das ist kein historischer Materialismus, das ist ein verderblicher Fatalismus. Wer hat Ihnen gesagt, wo die Schranke ist, über die Sie nicht mehr hinwegkommen. Wir weit die Kraft reicht, das kann man mit ernstem Streben erproben. Die fatalistische Auffassung übersieht völlig, dass der Wille auch ein Faktor in der Gestaltung des Milieus ist. Dieser Fatalismus dient nur als Ruhekissen für alle Feigen, Faulen, für alle Zweideutigen. (Bravo!) Man soll nicht vergessen, dass der Mensch mit seinen höheren Zwecken wächst. Wir wollen es mit den Worten Rückerts halten:

Vor einem jeden steht ein Bild des was er werden soll;
So lang er das nicht ist, ist nicht sein Friede voll.
 

[Die proletarische Familie durch Sozialreformen erziehungsfähig machen]

Wie groß auch die Schwierigkeiten sein mögen, unsere Kinder im Geiste unserer Weltanschauung zu erziehen, wir dürfen uns dadurch nicht schrecken lassen. Wenn wir alle unsere Energie und Kraft einsetzen, so ist gar kein Zweifel, dass Tausende und Zehntausende proletarische Familien unendlich viel mehr für die Erziehung ihrer Kinder zum Sozialismus tun können, wie sie heute tun. (Bravo!) Aber ich gebe ohne weiteres zu, dass es bestimmte materielle und geistige Schranken gibt, über welche auch bei dem besten willen innerhalb der kapitalistischen Ordnung große Kreise des Proletariats nicht hinwegkommen, wenngleich sie die glühende Sehnsucht haben, ihre Kinder gut zu erziehen. Da fragt es sich nun, was tun? Und da hat zunächst meines Erachtens einzusetzen die Sozialpolitik als Grundlage einer gesunden Hauspädagogik. (Sehr richtig!) Eine gute häusliche Erziehung hat zur Voraussetzung gründliche soziale Reformen, wie sie erstrebt werden von den politischen und gewerkschaftlichen Organisationen. In den Mittelpunkt einer gesunden Sozialpolitik, welche die proletarische Familie erziehungsfähig machen soll, stelle ich den Achtstundentag und eine durchgreifende Wohnungsreform. Die Forderung des Achtstundentages bedeutet meiner Meinung nach nicht zum mindesten den gewaltigsten Schrei nach dem Recht der Erfüllung von Elternpflicht, der durch die Welt hallt. (Lebhafter Beifall.) Der Achtstundentag gibt Mann und Weib im Proletariat die Möglichkeit, in gemeinsamem Lebenswerk sich einige Stunden des Tages der Erziehung ihrer Kinder widmen zu können. Ebenso bedeutungsvoll ist eine gründliche Wohnungsreform. Die traurigen Wohnungsverhältnisse sind nicht nur die Ursachen, aus denen eine Fülle geistigen und sittlichen Elends emporquillt, welche proletarische Kinder in körperlicher, geistiger und sittlicher Hinsicht dem Herkommen überliefert, sondern sie setzen auch viele Eltern in die Unmöglichkeit einsichtsvolle Pfleger und Erzieher der Kinder zu sein. Eine ganze Menge angeblicher Unarten der Kinder würden sie gar nicht als solche empfinden, wenn sie nicht in so erbärmlichen engen Räumen eingepfercht wären. (Sehr gut!)
 

[Genossenschaftliche Selbsthilfe]

Also, eine gesunde Sozialpolitik hat wichtige materielle Grundlagen für eine gesunde Hauspädagogik der proletarischen Eltern zu schaffen Deshalb müssen die Eltern alle ihre Kräfte anspannen im politischen und gewerkschaftlichen Klassenkampf, um die Klassenlage des Proletariats zu heben. Aber noch ein anderes Hilfsmittel kommt in Frage, um den Kleinen das an Erziehung und Fürsorge zu bieten, was die einzelne Familie nicht zu bieten vermag, was aber die Gesellschaft noch vorenthält oder in gefälschter Weise gewährt. Ich erinnere an die verpfafften Kindergärten. (Sehr wahr!) Da gibt es einen Weg, der unter Umständen zu beschreiten ist, den Weg der genossenschaftlichen Selbsthilfe. Die Gründung von Kinderheimen, Kindergärten und dergleichen haben wir meines Dafürhaltens nicht grundsätzlich zu verwerfen. Nichts scheint mit verfehlter, als wenn unter dem Impuls, der durch die Diskussion über die Erziehungsfrage gegeben wird, auf einmal Männer und Frauen des Proletariats in leidenschaftlich begeisterter Weise die Gründung solcher Kinderheime, Kinderhorte usw. in Angriff nehmen wollen. Nein, derartige Gründungen haben alle mit der größten Vorsicht zu erfolgen. Und zwar nicht bloß im Hinblick darauf, dass die Gesetzgebung des Klassenstaates, dass die Praxis der Gesetzgebung in jedem Augenblick dazwischen fahren kann. Vielmehr auch mit Rücksicht auf die inneren Schwierigkeiten, die betreffs der Gründung, Leitung und dem zweckmäßigen Funktionieren der entsprechenden Institutionen vorliegen. Nichts wäre verkehrter, als wenn Leute mit gutem Willen, aber ohne pädagogische Begabung und Schulung, nur aus Begeisterung für die sozialistische Jugenderziehung auf diesem Gebiet herumexperimentieren wollten. So sehr ich es begrüße, wenn Einrichtungen entstehen, die im Sinne unserer Weltanschauung mit pädagogischem Takt geleitet werden, so bedauerlich wäre ein plan- und pädagogikloses Herumexperimentieren.

Die Sozialdemokratie hat aber nicht nur die Aufgabe, durch den Kampf für eine gesunde Sozialpolitik die häusliche Erziehung zu unterstützen und zu fördern, sondern ihr erwächst auch die Aufgabe, die Eltern durch entsprechende Aufklärung und Schulung besser für ihre Pflichten als Erzieher vorzubereiten. Zunächst hat unsere Presse eine hervorragende Aufgabe dadurch zu erfüllen, dass sie den Schulfragen, den pädagogischen Problemen überhaupt, die gebührende Beachtung schenkt. Dann aber muss sie das Streben der Eltern nach Fortbildung und Selbsterziehung fördern. Schließlich gilt es, die sozialistische Jugenderziehung durch eine entsprechende Literatur anzustreben.
 

[Kinderliteratur]

Es ist von vielen Seiten beantragt worden die Partei solle eine Kinderzeitung schaffen; den Anfang einer solchen haben wir in der allmonatlich erscheinen Beilage der Gleichheit. Wer die Schwierigkeiten kennt, welche die Herausgabe und Verbreitung einer solchen Kinderzeitung mit sich bringt, der wird aus Zweckmäßigkeitsgründen dafür stimmen müssen, dass das zunächst einmal schon Vorhandene weiter ausgebaut wird. Ich möchte deshalb, anstatt die Gründung einer weiteren Kinderzeitschrift zu befürworten, lieber einen Ausbau der Beilage der Gleichheit empfehlen. Aber damit sind die Pflichten der Partei zur Schaffung einer Kinderliteratur noch nicht erfüllt worden. Sie hat die Pflicht, auch für eine geeignete sozialistische Buchliteratur zu sorgen. Versuche nach der Richtung sind ja schon wiederholt gemacht. Ich erinnere an die Kinderbücher, die im Verlage von Dietz erschienen sind, an das bekannte Kinderbuch unserer Genossin Emma Adler, an die Märchensammlungen von Karl Ewald. Ich will in diesem Augenblick nicht in eine Kritik dieser ernsthaften und beachtenswerten Versuche, eine sozialistische Kinderliteratur zu schaffen, eintreten. Ich will nur konstatieren, dass diese Versuche beim Proletariat durchaus nicht die Berücksichtigung und Unterstützung gefunden haben, die sie verdienen. Die Verlagsinstitute der Partei haben von neuerlichen Versuchen in dieser Richtung abgesehen, nachdem sie die Erfahrung gemacht dass unsere Literatur die Konkurrenz nicht bestand mit der ganz minderwertigen, billigen bürgerlichen Kinderliteratur, die auf den Markt geworfen wird. Es ist eine grobe Pflichtvernachlässigung der Eltern, wenn sie ihren Kindern, um etliche Pfennige zu sparen, eine Literatur geben, die im schroffsten Gegensatz steht zu allen Ideen, zu denen sie sich bekennen und die sie in ihre Kinder hineinzutragen vermöchten, wenn sie diesen eine von sozialistischem Geiste erfüllte Literatur bieten könnten. Trotz der gemachten Erfahrungen muss ein neuer Versuch unternommen werden, und die seither erweckte Erkenntnis in großen Kreisen der Partei verbürgt dem Vorstoß zur Schaffung sozialistischer Kinderbücher Erfolg. Die vorliegende Aufgabe ist schwer aber ich erinnere Sie daran, dass von bürgerlicher Seite uns bereits in dankenswertester Weise vorgearbeitet worden ist. Der Verein in Hamburg für die Herausgabe von guten Jugendschriften, ferner der Verlag vom Kunstwart der Verlag Schafstein in Köln und eine Reihe anderer bürgerlicher Verlage, haben eine Kinderliteratur geschaffen, die, alles in allem genommen, vom pädagogischen Standpunkt aus, einen kolossalen Fortschritt bedeutet, eine Kinderliteratur, die geeignet ist, das Kind geistig und künstlerisch zu entwickeln und zu fördern. Aber, Genossen, wir als Sozialisten können diese Kinderliteratur nicht ohne weiteres für unsere Kinder übernehmen. Diese Literatur, so vortrefflich sie zum großen Teil künstlerisch und literarisch ist, steht im Widerspruch mit unserer Weltanschauung, in ihr werden hier und da Militarismus, Chauvinismus, Krieg, Gläubigkeit usw. einer Auffassung entsprechend behandelt, die unseren eigenen Anschauungen von Krieg, Vaterlandsliebe, Militarismus usw. geradezu ins Gesicht schlägt. Aber Genossen, schwerer noch fast als das Gegensätzliche, was in dieser Hinsicht auch die gute bürgerliche Literatur enthält, fällt ins Gewicht, was sie nicht enthält und was sie nicht kennt. Sie schweigt von den Idealen der Brüderlichkeit, der Solidarität der Arbeits- und Kampfgenossen, der proletarischen Freiheitsliebe, kurz, sie kennt nicht die sozialen Tugenden, welche der proletarische Klassenkampf gebiert und bedarf, und die auf der Grundlage unserer sozialistischen Weltanschauung entstehen. So hat z. B. der Verlag Callway eine vortreffliche Sammlung von Gedichtbüchern herausgegeben, die Weberschen „Spielmannsbücher“, die vom „Kunstwart“ empfohlen worden sind, und die auch ein sozialdemokratisches Blatt kritiklos gelobt hat. Einige Hefte davon sind vom pädagogischen Standpunkt aus wahre Juwelen. Nun nehmen Sie aber einmal die Hefte her, die für uns besonders in Betracht kommen, Arbeit und Helden. In den Gedichten Helden werden Helden aller Art gefeiert, Helden, die den Tod sterben für das Vaterland, Helden der Pflichttreue usw. Aber ein Held fehlt darin, der Held, der für die Freiheit kämpft und stirbt. In dem Buch Arbeit lernen Sie in künstlerischer, prachtvoller Form den Arbeiter von den verschiedensten Seiten kennen; Sie lernen ihn aber nicht kennen als einen Mann, der sich mit seinen Genossen organisiert und mit ihnen zusammen kämpft. Sie lernen den leidenden Proletarier kennen, der nach Auffassung der bürgerlichen Gesellschaft pflichttreuen Proletarier, aber nicht den Arbeiter als Rebell, als Kämpfer gegen die kapitalistische Wirtschaftsordnung. (Sehr gut!) Das zeigt klar, warum wir die anerkennenswerten, zum Teil vom pädagogischen und künstlerischen Standpunkt aus vollendeten Erzeugnisse der Bourgeoisie für unsere Kinder nicht unbesehen übernehmen dürfen. Wohl aber können wir das von der bürgerlichen Seite geschaffene als wertvolle Vorarbeit würdigen und nutzen und als Beispiel nehmen, in welcher Weise und nach welcher Richtung wir weiter zu schaffen haben.

[Genossin Zetkin hat bereits 1½ Stunden gesprochen. Im Verlauf ihrer Rede sah man wiederholt, dass ihr das Reden äußerst schwer fiel. An dieser Stelle macht sie eine längere Pause; es hat den Anschein, als ob sie infolge der Ermattung überhaupt nicht weiter reden kann. Dreesbach und nach ihm Singer begeben sich zu ihr, wie es scheint, um sie zu ersuchen, dass sie ihr Referat abbricht.

Hierauf erklärt Singer: Genossen, wir haben alle mit großen Interesse das Referat der Genossin Zetkin bis hierher gehört, und ich bin überzeugt, das der noch fehlende Teil das gleiche Interesse finden wird. (Sehr richtig!) Der gesundheitliche Zustand der Genossin Zetkin macht es uns aber geradezu zur Pflicht, sie zu schonen. Der Parteitag wird die Verantwortung nicht übernehmen wollen, den Gesundheitszustand der Genossin noch zu verschlimmern, indem er darauf besteht, das Referat zu Ende zu hören. Ich schlage vor, dass wir die Genossin Zetkin ersuchen, ihr Referat und den noch fehlenden Teil im Druck zu veröffentlichen. Es liegen ja bereits Anträge vor, beide Referate als Broschüre zu Massenagitation im Druck erscheinen zu lassen. Wir sind überzeugt, das es ihr sehr schmerzlich ist, das Referat nicht beendigen zu können; aber ihr Gesundheitszustand verlangt dringende Schonung. Ich bitte Sie, meinen Vorschlag anzunehmen und dadurch zu bezeugen, einen wie großen Wert der Parteitag darauf legt, das Referat der Genossin Zetkin vollständig kennen zu lernen. (Lebhafte Zustimmung.)]

(Clara Zetkin verlässt hierauf unter stürmischem Beifall die Tribüne.)

 


Zuletzt aktualisiert am 11. November 2024