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Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Stuttgart, 4. Oktober 1905.
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Der Parteitag zu Jena hat gehalten, was das deutsche, das internationale kämpfende Proletariat von ihm erwartete, erwarten musste. Er gehört zu den Tagungen, welche in der Geschichte der Sozialdemokratie zählen werden.
Von den Flammenzeichen einer ungewöhnlich bedeutsamen historischen Situation umloht, hat er von dem festen Boden der sozialistischen Auffassung aus das Kampffeld des klassenbewussten Proletariats überblickt und in klarer Erkenntnis dessen, was ist und was als „der Geschichte ew’ges Muss“ heraufsteigt, die praktischen Konsequenzen der Stunde gezogen.
Das wichtigste Ergebnis davon ist die Stellungnahme zum politischen Massenstreik. Seitdem die Sozialdemokratie sich grundsätzlich für den Parlamentarismus als eine Kampfwaffe des Proletariats erklärt hat, ist unseres Erachtens keine gleich wichtige Entscheidung gefallen, wie sie diese Stellungnahme in sich begreift. Denn so wertvoll und richtunggebend auch das Werk mehrerer Parteitage für die innere und äußere Entwicklung der Sozialdemokratie gewesen ist: es hat sich im wesentlichen darauf beschränkt, unser Arbeits- und Kampffeld scharf zu umgrenzen, die Bedingungen für den Gebrauch der beiden bewährten Methoden des proletarischen Befreiungskampfes – Parlamentarismus und Gewerkschaften – zu prüfen und ihre Anwendung auf neuen Gebieten zu beschließen. Der Parteitag zu Jena ist dagegen über dieses Werk hinausgegangen. Er hat die Methoden des Klassenkampfes selbst um eine neue vermehrt, um die des politischen Massenstreiks. Damit verabschiedete er nachdrücklich den Glauben, dass Parlamentarismus und Gewerkschaften die alleinseligmachenden Mittel des proletarischen Klassenkampfes seien. Dieser Glaube berief sich vorzüglich, aber irrtümlicherweise auf Engels’ bekannte Vorrede zu Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850 und gipfelte in der Überzeugung, das Proletariat müsse auch die schlimmsten Nackenschläge der Reaktion ohne die äußerste Gegenwehr in der Hoffnung über sich ergehen lassen, dass „der Menschheit große Gegenstände“ nicht von der Tagesordnung verschwinden können. Der Parteitag zu Jena hat entgegen dieser christlichen Sklavenmoral, die sich als politische Klugheit gebärdete, die Pflicht des revolutionären Kampfes durch den politischen Massenstreik proklamiert. Er brachte zum Ausdruck, dass außergewöhnliche Situationen, welche die Todfeinde des Proletariats revolutionär zuspitzen, auch mittels außergewöhnlicher Kampfmethoden durchgefochten und überwunden werden müssen. Binnen verhältnismäßig kurzer Zeit hat sich die Sozialdemokratie dank des Anschauungsunterrichts der Tatsachen – der Massenstreiks im Ausland, der schamlos brutalen Reaktion in der Heimat – zu dieser Erkenntnis durchgerungen. Als Parvus 1896, als erster in Deutschland – dafern wir nicht sehr irren –, den Gedanken erörterte, den Umsturz von oben unter Umständen durch den politischen Massenstreik zu bekämpfen, da begegneten seine Ausführungen kühler Nichtbeachtung, ja, scharfer Feindseligkeit und billigem Hohn. Unwidersprochen wurde auf dem Parteitag zu Lübeck 1901 als Quintessenz seiner Gedankengänge verspottet, „dass man nächstens durch eine große Revolution durch politische Massenstreiks die Gewalt bekommt und dann in drei Monaten die sozialdemokratische Gesellschaft fix und fertig aufrichtet“. Man messe daran den Inhalt, das Gepräge, die Stimmung der Verhandlungen zu Jena über den politischen Massenstreik, die, wie kaum je Beratungen eines Parteitags, revolutionär im besten geschichtlichen Sinne des Wortes waren. Eine schlüssige Antwort ergibt sich dann auf die Fragen, ob die Sozialdemokratie im Banne ihres „Dogmas“ verknöchert oder aus dem Born des lebendigen Lebens neue Erkenntnisse und Kräfte gewinnt und ob sie durch ihre steigende Macht und Verantwortlichkeit nach rechts oder nach links gedrängt wird.
Eine erschöpfende Erörterung aller Seiten und Tiefen des Problems konnte natürlich weder in Bebels glänzendem Referat erfolgen – der großzügigen Auseinandersetzung eines politischen Kämpfers par excellence mit der Situation und ihren Anforderungen – noch in den Debatten, deren Höhepunkt, was die revolutionäre Stimmungsgewalt anbelangt, wohl die Rede des Genossen von Elm bildete. Jedoch die Aufgabe des Parteitags zu Jena war es auch nicht, die Diskussion des politischen Massenstreiks abzuschließen, vielmehr sie in kräftigen Fluss zu bringen. Er musste sich damit begnügen, dem kämpfenden Proletariat Deutschlands die neue Waffe zu überweisen, die es unter dem Zwange bestimmter Umstände gebrauchen kann und gebrauchen muss. Nun gilt es, durch gewissenhaftes Studium die Waffe zu schärfen, durch unablässige Aufklärungs- und Organisierungsarbeit die proletarischen Massen für ihren Gebrauch zu schulen. Das aber keineswegs in Gegensatz zu den Arbeiten und Kämpfen des Tages, sondern in innerem organischem Zusammenhang mit ihnen, sie vertiefend und fördernd. Wie immer einzelne Gewerkschaftsführer heute noch den politischen Massenstreik bewerten mögen: Dieses Studium und diese Arbeit muss Partei und Gewerkschaften immer inniger zu der einen revolutionären Arbeiterbewegung zusammenschließen.
In der gleichen Richtung hat der Parteitag sicherlich durch seine Behandlung der umstrittenen Maifeier gewirkt. Im Anschluss an Fischers Referat, das wägende Berücksichtigung der nüchternen Wirklichkeit mit dem hinreißenden Feuer des sozialistischen Gedankens vereinte, brachten die Debatten eine Auseinandersetzung über das Verhältnis zwischen Partei und Gewerkschaften, die wohl in dem und jenem Punkte noch tiefer hätte schürfen können, deren klärender und einigender Charakter aber hoch veranschlagt werden muss. Die in dem Wesen und den Aufgaben der Gewerkschaften begründeten Tendenzen, welche den proletarischen Klassenkampf ungünstig beeinflussen könnten, müssen durch die lebendige Kraft der sozialistischen Erkenntnis überwunden werden. Tue deshalb jeder Genosse als Gewerkschafter in dieser Hinsicht seine volle Pflicht, um die Form der Organisation mit sozialistischem Geist zu erfüllen, das war der Grundton der Verhandlungen. Und wenn, von dem Bewusstsein innerer Zusammengehörigkeit durchdrungen, Parteiorganisationen und Gewerkschaften mit gleichem Eifer, gleicher Begeisterung und Hingabe zur Maifeier rüsten, so muss diese ihrem Wesensinhalt gemäß zu einer immer weiterfassenden und wirksameren Willenskundgebung des kämpfenden Proletariats werden.
Das neue Organisationsstatut, welches „Die rote Woche“ gab, ist geeignet, zu seinem Teil dazu beizutragen, die Reihen der Partei fest zum Ansturm gegen den Feind zusammenzuschließen. Nach einem sachlich wertvollen und eindringenden Referat des Genossen Vollmar und sorgfältiger Prüfung der eingegangenen Anträge seitens der Kommission ist der vorgelegte, nur unwesentlich geänderte Entwurf zur Annahme gelangt. Wohl wird die Partei durch das neue Statut einheitlicher und straffer zusammengefasst, jedoch in Würdigung des geschichtlich Gewordenen nicht so fest, dass dadurch die Lebens- und Arbeitsfähigkeit der Landes- und Provinzialverbände gefährdet würde. Die dahin abzielenden Bedenken sind unseres Erachtens unbegründet. Abgesehen von den selbständigen Aufgaben, welche das politische Leben der Einzelstaaten den Landesorganisationen in reicher Fülle zuweist, werden die geäußerten Befürchtungen schon durch die praktischen Notwendigkeiten hinfällig, unter denen die Verbindungen mit der Zentralleitung sich vollziehen. Eine demokratischere Gestaltung des Vertretungssystems zu den Parteitagen unterblieb, weil zunächst die Durchführung des neuen Statuts die rechnerischen Grundlagen dafür liefern muss. Die Wünsche nach größerer Initiative des Parteivorstandes fanden Berücksichtigung dadurch, dass die Zahl seiner Mitglieder im Statut nicht festgelegt wurde, sondern von jedem Parteitag nach den vorliegenden Aufgaben bestimmt werden soll. Für das neue Tätigkeitsjahr wurde ein Schriftführer mehr bestellt. Die Bestimmungen, welche die Stellung der Frauen innerhalb der Sozialdemokratie regeln, gelangten unverändert zur Annahme. Wir sind überzeugt, dass unsere Genossinnen allerwärts nicht die Lässigsten sein werden, dem neuen Statut entsprechend mit aller Kraft für den festeren Zusammenschluss der Partei zu wirken.
Die Berichte des Parteivorstandes und der Reichstagsfraktion sowie die an sie geknüpften Debatten und Beschlüsse kündeten frisch pulsierendes Leben, kraftvolle Arbeits- und Kampffreudigkeit. Und in der Hauptsache befriedigend ward die Frage zum Austrag gebracht, welche nach dem Glauben und Wünschen der bürgerlichen Welt das Kern- und Spektakelstück des Parteitages werden musste: die der Polemiken zwischen verschiedenen Parteiblättern, an der Spitze Die Neue Zeit und Leipziger Volkszeitung auf der einen Seite, der Vorwärts auf der anderen Seite. Dass die Angelegenheit an eine Kommission verwiesen wurde, hat sich als zweckmäßig herausgestellt. Sie konnte dadurch sachgemäßer und eingehender behandelt werden, als dies im Plenum möglich gewesen wäre. Allerdings bezweifeln wir, ob es eine glückliche Entscheidung war, dem Parteivorstand die Befugnis zuzusprechen, unter Umständen „vermittelnd“ einzugreifen, um die mit aller Schärfe gerügten Formen der Polemik zwischen Parteiorganen in Zukunft zu vermeiden. Was dagegen die beschlossene Resolution betreffs des sachlichen, prinzipiellen und taktischen Untergrunds der jüngsten Pressepolemiken erklärt, was sie erklärt betreffs der Überweisung kritischer Untersuchungen des Parteiprogramms an Die Neue Zeit und der Verpflichtung der Parteipresse, die prinzipielle Aufklärung entsprechend unserem Programm im Sinne der Dresdner Resolution zu fördern: das wird sicherlich der gesunden inneren Entwicklung der Partei frommen. Es ist geeignet, die theoretischen Studien aus der Missachtung emporzuheben, der sie in weiten Parteikreisen anheim gefallen sind, dem modischen Gerede zu steuern, das jede Auseinandersetzung über prinzipielle und taktische Probleme als Akademikerspielerei verschreit, das Ansehen und die Verbreitung des wissenschaftlichen Organs der Partei zu heben und durch das alles wie durch die geforderte feste Haltung der Parteipresse zur theoretischen Schulung der Genossen und zur Einheit der Partei beizutragen.
Mit Genugtuung darf die Sozialdemokratie auf das Werk ihrer letzten Tagung zurückblicken. Es hat im Zeichen des schärfsten Klassenkampfes gestanden, die Partei entschieden einen guten Schritt weiter vorwärts, nach links, gebracht und in ihr lebendige Kräfte der revolutionären Erkenntnis und Energie zum Bereitsein aufgerufen. In fest gegliederten Reihen, kampfgerüsteter als je schreitet die Sozialdemokratie der Zukunft, ihren Schlachten und Siegen entgegen.
Zuletzt aktualisiert am 2. September 2024