Clara Zetkin

 

Der Kampf im Ruhrgebiet

(25. Januar 1905)


Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Stuttgart, Nr. 2, 25. Januar 1905.
Nach Ausgewählte Reden und Schriften, Band I, S. 286–293.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
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Was sich seit Wochen ankündigte, hat sich erfüllt. Am 17. des Monats haben die Vertreter der Bergarbeiterorganisationen jeder Richtung den Generalausstand beschlossen, beschließen müssen, sicherlich nicht leichten Herzens, vielmehr in vollem Bewusstsein der Härte, Erbitterung und Gefahren des Riesenkampfes und der ernsten Verantwortung, die er den Organisationen und den Organisierten auferlegt. Nachdem zuerst die Belegschaft der Zeche „Bruchstraße“ in den Streik getreten war, um die angesonnene Verlängerung der Schichtdauer abzuschlagen, griff die Ausstandsbewegung mit elementarer Gewalt um sich. Binnen weniger Tagen hatte sie gegen 50.000 Kohlengräber erfasst. Der Generalstreik wird 200.000 Bergarbeiter mit verschränkten Armen auf das Blachfeld des Klassenkampfes führen, ein wirtschaftliches Streiterheer, wie es Deutschland noch nie gesehen. Bei der Rolle der Kohle im modernen Wirtschaftsleben muss das gesamte ökonomische Getriebe erschüttert werden, wenn der starke Arm des Grubenproletariats die Zechen stilllegt. Ein eindringlicher Beweis für die Gemeinschädlichkeit des Privatbesitzes, dessen Raffgier den Kampf heraufbeschworen hat.

Das Grubenkapital, verkörpert in den Herren Stinnes, Thyssen, Kirdorf und einer Handvoll weiterer Millionäre, hat es so gewollt. Mit ausgesuchter Brutalität und Protzigkeit, dem starren „Nein“ seiner Antwort auf die erhobenen Forderungen die Verhöhnung und Herausforderung hinzufügend, hat es jedes Entgegenkommen, jede Verhandlung abgelehnt. Es pocht auf die ungeheuren Machtmittel, über die es im Wirtschaftsleben und im Staat verfügt, Machtmittel, groß genug, um die Staatsgewalt zum Kuschen zu bringen – wie die Hibernia-Affäre zeigt –, sofern sie sich nicht von vornherein als dienstwilliger Büttel der Zechenmagnaten erweist, was in den Kämpfen zwischen diesen und den Arbeitern bisher noch stets der Fall gewesen ist.

Das Grubenkapital will den Krieg. Er soll seine Interessen fördern, indem er das Verschlucken der kleinen Zechen durch die großen beschleunigt; ein Feigenblatt vor das profitwütige Stilllegen der minder ertragreichen Gruben hängt; der Erweiterung und Vertrustung der Betriebe Vorschub leistet; den Kampf der gemischten gegen die reinen Werke in der Eisenindustrie begünstigt und damit die angestrebte Allianz von Eisen und Kohle in schnelleren Fluss bringt. Mit anderen Worten: Das im Kohlenbau ausbeutende und herrschende Kapital will eine größere Konzentration des Wirtschaftslebens. Dies aber nicht etwa aus Rücksicht auf die fortschrittlichen Tendenzen, die einer solchen eignet, sondern lediglich zu Nutz und Frommen seines Profits. Sie ermöglicht ihm ja die rücksichtsloseste Schröpfung der Konsumenten wie die stärkste Ausbeutung und Knebelung der Produzenten, der Arbeiter.

Die Arbeiter niederzuwerfen, wehrlos zu machen, das ist das innig gewünschte Ziel, das für die Werkbesitzer im Brennpunkte des Kampfes steht. Er gilt vor allem der Zertrümmerung der gewerkschaftlichen Organisation der Arbeiter. Der grimme Hass gegen sie züngelt aus der Antwort des „Vereins für bergbauliche Interessen“, der Unternehmervertretung. Nicht mit den Vertretern der gesamten Belegschaften, nicht mit einer fest zusammengeschlossenen Gemeinschaft wollen die Herren unterhandeln, nur mit „ihren“ einzelnen Arbeitern. Natürlich! Sie wissen, dass sie von der wirtschaftlichen Schwäche der einzelnen Arbeiter alles zu hoffen, von der Macht der Organisation alles zu fürchten haben. Um die Organisation der Bergarbeiter wird der Kampf am heißesten entbrennen, wenn auch andere Momente sein Ausgangspunkt gewesen sind. Auf Seiten der Lohnsklaven des Grubenkapitals hat bekanntlich die Verlängerung der Seilfahrt den Anstoß zur Streikbewegung gegeben. Die Verlängerung der Seilfahrt läuft auf eine Ausdehnung der Schichtdauer hinaus, sie bedingt einen längeren Aufenthalt unter Tag. Ein längeres Atmen und Arbeiten in einer Atmosphäre und unter Bedingungen, welche an und für sich schon der Gesundheit schädlich genug sind! Verlängerung der Schichtdauer besagt für den Kohlengräber in dürren Worten: Verkürzung des Lebens in Luft und Licht, Verkürzung der Lebenskraft, ja, der Lebensdauer selbst! Davon zu schweigen, dass der längere Aufenthalt in der Grube die Zeit und Kraft mindert, welche der Bergmann seiner Familie, seiner Erholung und Bildung zu widmen vermag. Die Achtstundenschicht ist ein geschichtlich geheiligtes und verbrieftes Recht der Bergarbeiter. In einem opferschweren, blutgetränkten Kampfe haben sie es 1889 gegen die vereinigte Macht von Kapital und Staat behauptet. Und was damals betreffs der Dauer der Schicht und der Seilfahrt in dem „Friedensprotokoll“ festgelegt worden ist – Achtstundenschicht, Seilfahrt von zusammen höchstens einer Stunde –‚ das wollen sie sich heute nicht durch eine vertragsbrüchige Ausbeuterclique entreißen lassen.

Die ihnen zugemutete heimtückische Ausdehnung der Schichtdauer ist jedoch nur der letzte Tropfen gewesen, welcher den Eimer der Empörung zum Überlaufen brachte. Welche Last wachsender Übel drückt nicht die Hörigen der Grubenaristokratie! Die Löhne sind trotz gestiegener Produktivität der Arbeiter und ungeachtet einer starken Verteuerung der Lebensbedürfnisse gesunken. Familienväter haben in den letzten Zeiten Monatslöhne von sechzig Mark heimgebracht. Das verhasste Wagennullen, das nach Gunst und Gabe oder nach Laune erfolgt und sich zu skrupelloser Betrügerei zuspitzt, kürzt im Verein mit leicht verhängten Strafen den Verdienst. Die Wurmkrankheit hat furchtbares Unheil über Zehntausende Familien gebracht. Die Einstellung der Förderung auf kleinen Zechen raubte vielen mit dem Brot die Heimat, an welcher sie mit westfälischer Zähigkeit hingen. Scharen von Ausländern, Polen, Italiener, Kroaten, wurden als Lohndrücker von den waschecht patriotischen Kapitalisten ins Land gerufen. Auf manchen Werken spotten die sanitären Einrichtungen jedem Bedürfnis, die Vorkehrungen gegen Unglücksgefahr sind äußerst mangelhaft. Auf anderen wieder zeigt sich eine schamlose Günstlingswirtschaft, die einzelnen Strebern gutes Gedinge zuschanzt, Bergarbeiter mit steifem Rückgrat und Kameradschaftsgefühl dagegen benachteiligt und schikaniert. Der immer mehr grassierende Reserveleutnants- und Unteroffizierston verletzt. Wer in der Gewerkschaftsorganisation rührig tätig ist, wem ein Vertrauensposten übertragen wird, der muss erwarten, unter dem ersten besten Vorwand die Abkehr zu erhalten. Die bescheidenen Forderungen der Bergleute nach Anstellung selbstgewählter Grubendelegierter und Wagenkontrolleure finden kein Gehör. Die Deputatkohle, die sie für den Hausbrand zu halbem Verkaufspreise erhalten, wurde in letzter Zeit unpünktlich geliefert oder auch wohl verweigert.

Kurz, eine Fülle von schreienden Missständen hat reichlich Grund zu gärender Unzufriedenheit geschaffen. Von ihrer Gesamtheit wuchtet übermächtig die Empfindung auf die Bergleute nieder, dass der viel besungene „freie Arbeiter“ in Wirklichkeit ein Unfreier, ein Sklave ist, der brutalen Willkür und nimmersatten Habsucht einer rohen und gewissenlosen Unternehmerkaste preisgegeben. Zur Abwehr der und jener Verschlechterung, zur Erringung der und jener Verbesserung ihrer Lage sind die Kohlengräber in den Ausstand getreten oder richtiger von ihren Ausbeutern in den Ausstand gehetzt worden. Aber der tiefe, bei allen einzelnen Forderungen mitschwingende Grundton ihres Kampfes ist das mit urwüchsiger Gewalt hervorbrechende Bewusstsein des unüberbrückbaren Gegensatzes zwischen Kapital und Arbeit. Die Ausgebeuteten lehnen sich gegen das System der Ausbeutung selbst auf; ihr proletarisches Klassenempfinden revoltiert gegen die Klassenherrschaft des Grubenkapitals, ihr Rechtsgefühl gegen dessen Geldsackgewalt. Daher die leidenschaftliche Empörung, welche das Grubenproletariat des Ruhrreviers durchzittert, mag es für die Sozialdemokratie stimmen oder sich noch vom Zentrum nasführen lassen, mag es deutsch oder fremdsprachig klagen und fordern. Daher die unwiderstehliche Gewalt, mit welcher die Ausstandsbewegung, einem nicht zu bändigenden Naturereignis gleich, die Bevölkerung mit fortreißt. Nicht zwischen den einzelnen Belegschaften und Grubenverwaltungen ist der Kampf entfacht, Klasse steht gegen Klasse.

Das aber nicht bloß in der Kohlenindustrie, sondern im ganzen Deutschen Reich. Hinter den steifnackigen Grubenbaronen stehen ihre kapitalistischen Brüder in der Auswucherung der proletarischen Arbeitskraft auf anderen Gebieten; hinter ihnen stehen aber auch die bürgerlichen Parlamente und Regierungen. Oder glaubt etwa jemand, diese Distelsträucher unseres öffentlichen Lebens würden etwas anderes als Stacheln für die Arbeiter geben? Eine Regierung, in welcher der „lange Möller“ betriebsam die einträglichen Geschäfte des Kapitals besorgt; ein Reichstag, dessen Zierden die Bäumer und Kardorff sind; ein Abgeordnetenhaus, das nach jeder Richtung hin unfruchtbarer und volksfeindlicher ist als das Reichsparlament.

Sei‘s drum! Die Grubensklaven haben‘s gewagt. Sie haben ihnen den frech ins Antlitz geschleuderten Fehdehandschuh aufgehoben. Nun gilt es, dem überstarken Feind nicht zu unterliegen. Seinen Machtmitteln müssen die Ausständigen die feste Geschlossenheit ihrer Reihen entgegenstellen, die feste Einheitlichkeit und eiserne Disziplin, mit der sie kämpfen. Das Proletariat der ganzen Welt, vor allem aber das deutsche Proletariat, wird ihnen als nicht versagender Bundesgenosse mit treuer Solidarität zur Seite stehen.

Nicht die Männer allein, auch die Frauen der werktätigen Massen ruft der tobende Riesenkampf zur Pflichterfüllung. In erster Linie aber die Proletarierinnen des Streikgebietes. Treffen die Fuchtelhiebe, welche das ausbeutende Kapital auf ihre Brüder niedersausen lässt, nicht auch sie, ja, oft gerade sie am schmerzhaftesten? Bedeutet nicht jede abgeschlagene Verschlechterung, jede ertrotzte Verbesserung der Arbeitsbedingungen des Mannes auf der Zeche eine Erleichterung der Sorgenlast der Frau im Heim? Wohlan denn, so tue auch sie das ihrige dazu, auf dass Arbeiterrecht gegen Geldsackgewalt siege! Sie zermürbe nicht durch Wehklagen oder Schelten den Kampfmut, die Kampffreudigkeit des Mannes. Sie steigere vielmehr seine Widerstandskraft durch die Einsicht, Begeisterung und Opferfreudigkeit, mit der sie die drückenden Lasten trägt, welche der Kampf in Gestalt manch bitterer Sorgen bringen wird. Mit klugem Sinn und fleißiger Hand schalte und walte sie am häuslichen Herd, um die Stunde möglichst hinauszuschieben, wo die Not seine Flamme verlöscht. Sie gedenke, wie oft sie sparen und entbehren musste, nicht etwa weil der Mann ein leichteres Los für sich und die Seinigen erstreiten wollte, nein, weil die Herren Zechenritter fetteren Profit einzusäckeln wünschten!

Sie gestalte das Familienleben so geordnet, behaglich und traulich wie nur möglich, damit der Mann den Aufenthalt im Heim dem im Wirtshaus vorziehe. Wie kurz bemessen sind nicht die Tage, die Stunden, die der Bergarbeiter den Seinen schenken kann, in denen er, befreit von der fieberhaften Hatz der Erwerbsfron, in Ruhe und Frische mit seinem Weibe sich auszusprechen, mit seinen Kindern zu plaudern und zu spielen vermag! Der harte Beruf; der keine Rücksicht auf Morgen und Abend kennt, der den Kohlengräber zu jeder Tageszeit in düstere Nacht bannt, wirkt zerrüttend auf das Familienleben zurück und knickt viele der bescheidenen Blüten, die hier den anderen Proletariern sprießen. Nun nütze die Frau, die Mutter die Sklavenrast, welche der Kampf dem Manne bringt, um die Bande des Gemüts- und Geisteslebens zwischen den Familiengliedern zu festigen. Gewiss: Die Not, welcher der Streik die Haustür öffnet, wird der Bergarbeiterfrau die Erfüllung ihrer häuslichen und mütterlichen Aufgaben erschweren, wird ihr manche bittere, heimliche Träne abpressen. Nichtsdestoweniger muss sie ihre ganze Kraft aufbieten, damit das Heim eine Stätte der Erquickung und Stärkung für den kämpfenden Mann sei, eine feste Burg, aus der er gerüstet in ruhiger Kraft in den Streit zieht. So wirke sie allem entgegen, was ihn zum Feigling und Verräter machen könnte; allem, was geeignet wäre, ihn aus einem besonnenen Kämpfer in einen zuchtlosen Tumultuanten zu verwandeln. Der gewaltige Kampf; in dem Riesenmassen gegen Riesenmittel stehen, heischt zwingend, dass Mann und Frau gemeinsam alle Kräfte und alle Tugenden ihres Wesens in ihm einsetzen. Er kann nur mit der Frau, nicht ohne sie, geschweige denn gegen sie für das Proletariat siegreich durchgefochten werden.

In den Kämpfen des französischen, belgischen und amerikanischen Grubenproletariats haben sich die Frauen durch ihre Festigkeit und Begeisterung ausgezeichnet. Ihre deutschen Schwestern müssen sich ihnen ebenbürtig erweisen. Die Genossinnen im ganzen Reich werden ihrerseits ihre Pflicht nicht versäumen, mit Energie und Opferwilligkeit für die kämpfenden Schwestern und Brüder einzutreten und die Proletarierinnen in Stadt und Land zu ihrer moralischen und materiellen Unterstützung aufzurufen. Im Ruhrgebiet muss das protzige Grubenkapital besiegt auf der Walstatt bleiben. Der gesamten deutschen Kapitalistenklasse und ihrem Staate zum Trutz, allen Frondenden und Ausgebeuteten zu Nutz und Frommen. Glück auf!

 


Zuletzt aktualisiert am 2. September 2024