Clara Zetkin

 

Im Zeichen des Klassenkampfes

(2. November 1904)


Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Stuttgart, 2. November 1904.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
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Ohne Beachtung und Protest seitens der bürgerlichen Presse, die sich gewöhnlich gierig auf jedes sensationelle Ereignis stürzt, ist ein Unrecht eingeleitet – zur Zeit, wo wir diese Zeilen schreiben, vielleicht schon Tatsache geworden –‚ das seinesgleichen suchen dürfte. Ein blutiges Unrecht, das dem natürlichen und sozialen wie dem gesetzlichen Recht frech, brutal ins Antlitz schlägt und ein Glied der Gesellschaft trifft, welches doppelten und dreifachen Anspruch auf die Sicherung ungeschmälerten Rechtes haben sollte: eine proletarische Mutter.

In Sommerfeld in der Niederlausitz soll, nach der Märkischen Volksstimme in Forst, einer älteren Witwe, welche als Textilarbeiterin ihre drei unmündigen Kinder ernährt, das Vormundschaftsrecht über diese entzogen werden. Also hat es der Waisenrat der Gemeinde beschlossen, und also hat es das Vormundschaftsgericht in einem ersten Termin bestätigt. Und der Grund der Entscheidung? Weil die Witwe organisiert, weil sie Mitglied des Textilarbeiterverbandes ist. Als jüngst in Sommerfeld ein neuer Waisenrat sein Amt antrat, eröffnete er der Frau, dass sie dem Textilarbeiterverband den Rücken kehren müsse, falls sie weiterhin Vormund über ihre Kinder bleiben wolle. Das Vormundschaftsgericht unterschrieb dies ungeheuerliche Ansinnen mit einer ebenso ungeheuerlichen Begründung. Es erklärte, wenn die Mutter einer sozialdemokratischen Gewerkschaft angehörte, so würden die Kinder vernachlässigt. So oder so: Die Witwe soll eines Rechtes beraubt werden, das ihr gesetzlich zusteht. Entweder ihres Mutterrechtes zur Vormundschaft, welches kraftvoller noch als durch den Akt des Gebärens und den Buchstaben des Gesetzes durch die Tatsache gestützt wird, dass die Frau die Ernährerin ihrer Kinder ist. Oder aber ihres Koalitionsrechtes, welches in der gesetzlich anerkannten Notwendigkeit wurzelt, dass die Lohnsklavin in Gemeinschaft mit ihren Berufsgenossen ihre Interessen gegen die Raffgier des ausbeutenden Kapitals schützen muss. Die Frau wird ihr Recht weiterverfolgen, und die Organisation, der sie die Treue bewahrt, wird ihr dabei schützend zur Seite stehen. Aber welches auch immer der Ausgang des Kampfes sein wird: er ist von großer, allgemeiner Bedeutung.

Die Angelegenheit mit ihrem Drum und Dran führt mitten hinein in das Martyrium und Heldentum der Proletarierin. Sie zeigt uns dieselbe als Glied der ausgebeuteten und leidenden, aber auch der gegen die Ausbeutung kämpfenden Klasse, und grell, einem aufflammenden Blitz gleich, lässt sie den tödlichen Hass in Erscheinung treten, mit welchem die ausbeutenden Klassen das Ringen des Proletariats um Erhebung und Freiheit verfolgen.

Da ist ein Weib, ein „schwaches Weib“, wie die landläufige Redensart lautet. Der Zufall der Geburt hat in dieser erbarmungslosen Welt der Auswucherung der Armen durch die Reichen die schwere Last des Existenzkampfes – und das wahrscheinlich von zarter Jugend an! – auf seine Schultern gebürdet. Die Ehe bringt Kindersegen, Mutterpflichten; der Zwang zu verdienen aber macht sich nach wie vor mit eherner Gewalt geltend. Ja, mehr noch: Er wird mit jedem Mäulchen verschärft, das gesättigt werden muss. Was das bedeutet? Oh, ihr schmerzensreichen proletarischen Mütter, die ihr eure Kinder nicht bloß pflegen und erziehen sollt, die ihr ihnen jeden Bissen Brot mit erwerben müsst, ihr wisst es! Ein fieberhaftes, qualvolles Hin und Her zwischen der harten Brotfron und den verantwortungsvollen Pflichten der Mutter; Nächte ohne Schlaf! Feiertage ohne Rast und Freude! Und dann geschieht das Furchtbare. Der Mann stirbt, ehe die Kinder herangewachsen sind. Etwas Alltägliches das! Zu Hunderttausenden und Hunderttausenden mäht die Ausbeutung mit ihren Folgen Proletarierleben ab, lange ehe das Alter gekommen. Nun muss die Frau Mutter und Vater zugleich sein, muss sie allein die ganze Bürde für den Unterhalt ihrer Kleinen tragen. Sie steht am Tage in der Fabrik, des Nachts daheim am Waschfass, werktags webt sie fremdem Reichtum feines Linnen, warme und weiche Wolle, schimmernde Seide, sonntags flickt sie sich und den Waislein armselige Fähnchen zusammen. Sie arbeitet nicht mehr, sie schuftet; sie darbt nicht nur, sie hungert, um für die geliebten Kinder zu sorgen.

Aus des Lebens bitterer Not aber erwächst der Witwe eine neue Erkenntnis und ein neuer Wille. Sie lernt begreifen, dass sie ihre Pflicht als Mutter nur halb tut, dass sie widerstandslos einen Raub an ihren Kleinen geschehen lässt, solange sie sich nicht gegen die Ausbeutung wehrt, die ihr die Kraft aus den Knochen, die Frische und Freudigkeit aus Herz und Hirn saugt. Und sie versteht, dass sie sich in Gemeinschaft mit denen wehren muss, die gleich ihr, zusammen mit ihr Leibeigene des Kapitals sind. In der gedrückten, getretenen Lohnsklavin schlägt die klassenbewusste Proletarierin die Augen auf. Sie will kämpfen, und sie kann kämpfen. Die Frau tritt der Gewerkschaft ihrer Berufsgenossen bei. Die Macht der Organisation soll ihr geben, was Profitsucht und Herrendünkel der Kapitalisten ihr vorenthalten: Zeit, nur Zeit, um sich den Kindern widmen zu können; auskömmlichen Lohn, um die Bedürfnisse der jungen Leiber und Geister zu stillen; einen Teil des Menschentums, welches die kapitalistische Profitmühle fühllos, gewissenlos zermalmt. Einer für alle, alle für einen, das ist die erhebende Moral der proletarischen Solidarität, deren fruchtbare Bedeutung sich der Witwe an dem Geist, an den Zielen der Organisation erschließt. An dem Stamm der notwendigen Verteidigung eigener Interessen sprießt und öffnet sich die herrliche Blüte des Gemeinsinns. Das Wesen der kapitalistischen Ordnung sorgt dafür, dass der Kampf um das tägliche Brot der Arbeiterin und der Ihrigen sich zum Ringen um das Recht, die Freiheit der Arbeiterklasse weitet; zu dem Streben nach dem kleinen Augenblicksvorteil tritt der Kampf um das hehre Ideal.

So lernten die Kinder in der Mutter mehr schätzen als die treu besorgte Ernährerin und Pflegerin allein: die Klassenkämpferin, die Gesellschaftsbürgerin, die mit erschlossenem Sinn und mutvollem Herzen die höchsten Bürgertugenden übt. Ein erzieherisches Beispiel für das ganze Leben, das köstlichste, weiterwirkende Erbe, das eine Mutter ihren Kindern hinterlassen kann. Wenn Bürgerkronen zu vergeben wären, wer hätte mehr Anspruch auf eine solche als die Witwe, die mit müden Füßen und wunder Seele über die Dornen und Steine einer proletarischen Existenz dem Brote für ihre Kinder nachging und auf diesem Marterwege an der Erfüllung ihrer Mutterpflicht zur Erfüllung ihrer Klassenpflicht erstarkte; die aus harter persönlicher Sorge nicht Verbitterung, Egoismus und Verzweiflung emporquellen ließ, vielmehr die selbstlose Hingabe an die Interessen der Allgemeinheit, das bewusste Wirken für eine bessere Gegenwart, für eine freie Zukunft.

Keine Bürgerkrone ist es jedoch, was unsere kapitalistische Gesellschaft für die Aufopferung und den Heroismus dieses schlichten und doch so reichen Lebens beut. Entrechtung stellt sie dafür in Aussicht. Was hohe Tugend ist, wertet sie als eitel Verbrechen, das zu strafen sie sich anschickt. Die Lohnsklavin, welche sich vermaß, als gewerkschaftlich Organisierte die Hand mitbessernd an die Übel unserer Tage zu legen, sie hat gesündigt wider den Himmel der kapitalistischen Profitgier. Sie ist eine Rebellin gegen die Macht des Kapitals, den lebendigen Menschen toten Maschinen gleich auszubeuten. Das muss geahndet werden. Es ist eine bekannte Tatsache, dass die Herren Kapitalisten, vom „heiligen Goldhunger“ findig gemacht für alle Kniffe und Pfiffe einer Gewinnsteigerung und fühllos für alles menschliche Empfinden, auf die Mutterliebe spekulieren, um die verheirateten Arbeiterinnen besonders auszunutzen. Wie sie, also rechnen auch Organe der kapitalistischen Gesellschaft schamlos mit dem heiligen Gefühl, um einer Ausgebeuteten mit der Koalitionsfreiheit die Waffe zur Verteidigung ihrer Interessen aus der Hand zu winden.

Her mit deinem Mutterrecht oder mit deinem Bürgerrecht, so herrschen sie die Witwe an. Sie haben keine Achtung vor dem natürlichen Recht der Mutter, die ihr Kind bange Monate unter dem Herzen trug, es unter Schmerzen und in Todesgefahr gebar und dann mit den Säften ihres Körpers nährte. Sie sind blind für das soziale Recht, welches die Witwe durch treue Erfüllung ihrer Mutterpflicht, in langen Jahren sauren Mühens ums kärgliche Brot ihrer Kinder, errungen hat. Sie pfeifen auf das Gesetz, welches der Arbeiterin die Freiheit gewährt, sich mit ihren Berufsgenossen zu Schutz und Trutz gegen das Kapital zu verbinden, eine Freiheit, welche die Witwe ausgenutzt hat, ausnutzen musste, gerade weil sie ihr Fleisch und Blut nähren, pflegen und erziehen wollte.

Die Kinder würden verwahrlosen, wenn die Mutter einer sozialdemokratischen Gewerkschaft angehörte, so hieß es. Und sie ersticken nicht an der Lüge, alle die Gutgesinnten, die diesen Ausspruch nachplappern! Wie viele Väter mögen sich unter ihnen befinden, die ungeachtet ihres Wohlstandes ihre unehelichen Kinder verleugnet haben und verwahrlosen ließen, ihre ehelichen Sprösslinge durch Unverständnis und Lieblosigkeit dem Verkümmern und Verkommen überantworteten! Wie viele Väter und Mütter, die nicht auf Grund persönlichen Sorgens und Mühens ihren Elternpflichten genügten, sondern nur dank der Ausbeutung von Vätern und Müttern proletarischer Kleinen! Die ihr die Mutterehre der Witwe begeifert, habt ihr für eure Kinder gehungert wie die Arme, für sie gefrondet gleich ihr mit perlender Stirn und schmerzenden Gliedern? Habt ihr in rücksichtsloser Lohnfron die sausenden Peitschenhiebe der kapitalistischen Ausbeutung ertragen, die Notwendigkeit empfunden, gegen ihre lauernde Gier Menschenwürde und Mutterpflicht schützen zu müssen?

Heuchler und Otterngezücht! Die Mutter schlagt ihr, die klassenbewusste, kämpfende Proletarierin meint ihr. So schmähet ihr durch Taten schreienden Unrechtes, was ihr mit den Lippen lobpreiset: die Mütterlichkeit, der ihr einen göttlichen Thron errichtet habt; den Gemeinsinn, die Bürgertugend, dem ihr Lorbeeren windet; die Treue, der ihr Denkmäler errichtet. Indem ihr Rechte zertrümmert und Begriffe verkehrt, zeigt ihr den gähnenden Abgrund auf, welcher die Welt des Proletariats von der Welt des Kapitals trennt. Das Attentat gegen das Recht der Witwe ist eines jener Strohhälmchen, die erkennen lassen, woher der Wind kommt und wohin er bläst. Er kommt aus der Wetterecke grimmsten kapitalistischen Klassenhasses, und er bläst in die Richtung einer Meuchelung proletarischen Rechtes. Mit dem steigenden Hasse der Ausbeutenden kündet er die reifende Macht der Ausgebeuteten, die im Bewusstsein einstiger Freiheit kraftvoll an ihren Ketten rütteln.

 


Zuletzt aktualisiert am 1. September 2024