Clara Zetkin

 

Die Aufgaben des Parteitags zu Dresden

(9. September 1903)


Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Stuttgart, 9. September 1903.
Nach Ausgewählte Reden und Schriften, Band I, S. 226–230.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
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Der bevorstehende Parteitag zu Dresden tritt unter bedeutsamen Umständen zusammen, und wichtige Aufgaben sind es, die seiner harren. Ihm geht ein glänzender, ruhmreicher Sieg der Sozialdemokratie voraus. Die Partei des klassenbewussten Proletariats ist mit mehr als drei Millionen Wählern bald die stärkste Partei des Reiches, sie verfügt über 82 eroberte Mandate. Sieg und Macht verpflichten. Die Stärke des gemusterten Heeres, der Vorteil der errungenen parlamentarischen Position müssen im höchsten Maße den Interessen des arbeitenden Volkes, der Gesamtheit und damit dem Ziele der Sozialdemokratie dienstbar gemacht werden. Dazu drängt das Bewusstsein der gesteigerten Verantwortlichkeit innerhalb der Sozialdemokratie selbst; das heischen die Bedürfnisse der breiten Massen, die immer sehnsuchtsvoller, einsichtsreicher zu höherer Kultur emporstreben; das bedingt der Zusammenbruch des bürgerlichen Liberalismus und seine erwiesene Unfähigkeit, Träger der zeitgemäßen Gestaltung und Entwicklung unseres sozialen Lebens zu sein.

Eine überquellende Fülle sozialer Reformarbeit größten wie kleinen Stiles, durchgreifender gesetzgeherischer Aufgaben tritt an die Partei heran. Auf allen Gebieten springt die Notwendigkeit gründlichen Wandels in die Augen. Die Arbeiterschutzgesetzgebung und Arbeiterversicherung schreien förmlich nach Fortschritten. Die Koalitionsfreiheit der Werktätigen muss endlich gegen Textauslegung, Polizeiwillkür und Unternehmergewalt sichergestellt werden, das Vereins- und Versammlungsrecht aller Gesellschaftsglieder ist freiheitlich und einheitlich zu regeln. Der organische Ausbau der Volksbildung wie der Kampf gegen das Wohnungselend von Seiten des Reiches sind unabweisbar. Der Dalles in den Kassen der Bundesstaaten wie im Reichsschatz fordert gebieterisch eine Reichsfinanz- und Steuerreform. Die Strafrechtspflege entsprechend den Forderungen der veränderten ethischen Begriffe und fortgeschrittenen Einsicht umzugestalten, ist dringend nötig. Es gilt, den Kampf gegen den Militarismus – wie gegen seine Geschwister Marinismus und Weltpolitik mit aller Energie in grundsätzlicher Schärfe weiterzuführen. Dem Rechte der Frau als Persönlichkeit in der Familie, als Bürgerin in Staat und Gemeinde muss gesetzliche Anerkennung errungen werden usw. usw.

Des Weiteren und nicht zum wenigsten steht die Sozialdemokratie vor der Notwendigkeit, die gesetzlich gewährleistete Grundlage ihrer politischen, gesetzgeberischen Mitarbeit an der Gestaltung des sozialen Lebens gegen die Reaktion verteidigen zu müssen. Die Giesebrechterei [1] schleicht im Dunkeln zur Meuchelung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Reichstagswahlrechts. Gewiss: Der praktische Wert ihrer Treiberei darf nicht überschätzt werden. Allein, es wäre gefährlich, ihre symptomatische Bedeutung zu verkennen. Sie weist unzweideutig darauf hin, dass das Ringen des klassenbewussten Proletariats sich immer mehr zu einem Kampf um die Eroberung der politischen Macht zuspitzt. Sie ruft zur Kampagne für die Demokratisierung des Wahlrechts im Reiche, in den Bundesstaaten und Gemeinden.

Endlich ist es die Aufgabe der Sozialdemokratie, dahin zu wirken, dass der lebendige Quell alles parlamentarischen Einflusses, aller politischen Macht auch in Zukunft stark und rein fließt: Das proletarische Klassenbewusstsein muss immer mehr geklärt und geschult werden. Die Agitation durch Wort und Schrift hat für Ausbreitung und Vertiefung des sozialistischen Gedankens unter den Volksmassen zu sorgen, hat den Sozialismus als einheitliche Weltanschauung von höchster sittlicher und kultureller Kraft in ihrem Bewusstsein wie im Leben jedes einzelnen zur Geltung zu bringen. In gewissenhafter Beratung wird der Parteitag zu Dresden nach den erfolgreichsten Mitteln und Wegen für die Sozialdemokratie suchen, den angedeuteten vielseitigen Pflichten gerecht zu werden.

Damit jedoch diese seine Erörterungen praktisch fruchtbar seien, darf er sich einer Aufgabe nicht entziehen. Er muss in aller Klarheit und Bestimmtheit aussprechen, wie die Sozialdemokratie ihre Gegenwartsarbeit leisten, ihr Zukunftsziel erstreben soll: als proletarisch-revolutionäre Klassenkampfpartei oder als „sozialistisch-demokratische Reformpartei“. Diese Frage, welche die Partei bereits seit 1898 beschäftigt, ist nämlich neuerlich vom Genossen Bernstein mit der bekannten Forderung angeschnitten worden, die Vizepräsidentenstelle unter allen Umständen zu beanspruchen, auch um den Preis eines Kotaus vor dem Kaiserthrone. Freunde Bernsteins haben den Vorschlag geringschätzig als „qualifizierte Dummheit“, Taktlosigkeit, Ungeschicklichkeit und anderes bezeichnet. Unseres Erachtens haben sie ihm damit unrecht getan und sind seiner Bedeutung nicht gerecht geworden. Bernstein ist zu seiner Forderung in konsequenter Weiterentwicklung der revisionistischen Gedankengänge gekommen, die er seit Jahren spinnt. Wer darüber noch nicht im Klaren ist, der kann durch Genossen Vollmars Ausführungen zu der Streitfrage belehrt werden. In richtiger Wertung wendeten sich deshalb die Genossen in recht vielen Parteiversammlungen nicht bloß gegen den Vorschlag an und für sich, sie verurteilten ihn vielmehr als praktische Frucht des Revisionismus mit aller Schärfe. Von verschiedenen Seiten ist verlangt worden, die Fraktion und nicht die Partei selbst solle in der strittigen Frage das entscheidende Wort sprechen. Das dünkt uns ungerechtfertigt und undemokratisch. Die Fraktion steht innerhalb der Partei und nicht über ihr. Sicherlich, dass sie nicht aus Schulbuben besteht, denen jedes Recht der Bestimmung versagt ist. Aber ebenso zweifelsohne, dass ihr Entscheidungsrecht nur innerhalb der Grenzen der grundsätzlichen und taktischen Auffassung gilt, welche für die Partei im Allgemeinen bindend ist. Und gerade weil Bernsteins Vorschlag mehr ist als eine flüchtige Zufallslaune: das legitime Kind einer veränderten Auffassung von unserer Taktik – so kommt es der Partei und nicht der Fraktion zu, die Entscheidung zu fällen.

Eine neue Auffassung von der Stellung der Sozialdemokratie zur bürgerlichen Welt liegt auch zu guter Letzt der vom Parteivorstand gerügten Mitarbeit von Genossen an bürgerlichen Organen vom Schlage der Zukunft zugrunde, einer Zeitschrift, die unter dem Deckmantel der Parteilosigkeit die Geschäfte des Junkertums, der Bismärckerei, besorgt und die Sozialdemokratie in der gehässigsten Weise beschimpft hat. Es ist deshalb nur richtig, dass der Parteitag auch darüber sich äußert. Einzelne Genossen haben sich über die Entscheidung des Parteivorstandes als über einen „Ukas“ zur Beschränkung der Meinungsfreiheit erregt. Wir zu unserem Teil finden die Erregung darüber begreiflicher, dass eine solche Entscheidung nötig geworden war und ist.

Die Masse der Parteigenossen hat über ihre Stellungnahme zu beiden Fragen kaum einen Zweifel gelassen. Den Auseinandersetzungen der letzten Jahre über die Grundsätze und die Taktik der Partei stand sie als bloßer „theoretischer Spielerei“ fast gleichgültig gegenüber. Heute dagegen ist sie es, die zu einer Klärung drängt. Die wirtschaftliche und politische Entwicklung hat seither gegen die tatsächlichen Voraussetzungen des Revisionismus so respektlos mit dem Hammer philosophiert, dass die Genossen des ewigen Tüftelns, Deutelns und Zweifelns an unserer grundsätzlichen Auffassung müde sind. Sie haften gewiss nicht am toten Buchstaben und an Formelwerk. Wohl aber weisen sie eine Revision zurück, die unsere geschichtlich gestützten Grundsätze an Abstraktionen misst, welche am Schreibtisch reiften und nicht in der Wirklichkeit des Lebens.

Nach den ausgiebigen Erörterungen der aufgerollten Frage in der Presse und in Versammlungen kann unseres Dafürhaltens die Diskussion des Parteitags darüber kurz sein. Der Vorbereitung der Sozialdemokratie für Arbeit und Kampf werden die klärenden Debatten des Parteitags über die Taktik nur förderlich sein. Die wichtigste Vorbedingung für erfolgreiche Arbeit und sieghaften Kampf ist die unzweideutige Klarstellung, in innerlich fest gefügter Einheitlichkeit als proletarisch-revolutionäre Klassenpartei auf dem Plane zu stehen. Das bewusste Festhalten dieses ihres Charakters hat die Sozialdemokratie von Sieg zu Siege geführt, ihm verdankt sie den Riesenerfolg der letzten Reichstagswahl. Das Festhalten an diesem ihrem Charakter verbürgt ihr künftige Errungenschaften und den endgültigen Triumph. Das alte revolutionäre Banner wird über den Verhandlungen wehen, zu denen die Vertreter der Partei sich in der roten Hauptstadt des roten Königreichs zusammenfinden.

Glück auf zu ihrer Arbeit!

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Anmerkung

1. Wilhelm von Giesebrecht (1814–1889), reaktionärer deutscher Historiker. Die Red.

 


Zuletzt aktualisiert am 28. August 2024