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Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.
Abgehalten zu München vom 14. bis 20. September 1902.
Mit einem Anhang: Bericht über die 2. Frauenkonferenz am 13. und 14. September in München, Berlin 1902, S. 141–143.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Ich stimme in vielen Beziehungen mit der Kritik überein, die
an der Neuen Zeit geübt worden ist, Es ist kein Zweifel,
dass die Neue Zeit vielfach der Aktualität entbehrt, kein
Zweifel auch, dass es ihr nicht immer gelungen ist, in dem gleichen
Maße wie die Sozialistischen Monatshefte neue Kräfte
zur Mitarbeit heranzuziehen. Niemand, glaube ich, ist unter uns, der
diesen Mangel mehr empfindet als Kautsky selbst. Aber diese Mängel
sind zum Teil sehr erklärlich, es verbindet eben nicht jeder
Redakteur die Eigenschaft eines betriebsamen Geschäftsreisenden
zugleich mit der Gepflogenheit, sich zur Vordertüre hinauswerfen
zu lassen und zur hinteren Tür wieder hereinzukommen. (Sehr
gut!) Vielleicht werden die Anregungen, die Kautsky heute
empfing, dazu beitragen, dass er sich mehr und mehr jenem Ideal des
Redakteurs nähert, das Heine gestern aufgestellt hat, und dass
er auch ein solcher unausstehlicher Redakteur wird (Heiterkeit!),
der es lernt, die Leute breit zu schlagen, denen, wie Heine sich
ausdrückt, gar nicht viel an der Mitarbeiterschaft gelegen ist.
Was die Heranziehung weiterer Kreise anbetrifft, auch solcher, deren
Entwicklungsgang noch nicht abgeschlossen ist, so kann man ganz gut
die Bedenken begreifen, die Kautsky davon abgehalten haben, solchen
Kräften einen breiten Spielraum in der Neuen Zeit
einzuräumen. Es ist das Verantwortlichkeitsgefühl, das er
als Leiter des offiziellen Organs der Sozialdemokratie, der
Gesamtpartei und seinem eigenen Gewissen gegenüber hat, es ist
die Erkenntnis, dass die Neue Zeit in Kreise dringt, wo der
einzelne Leser nicht alles so nachprüfen kann, wie es Vollmar
als Ideal hingestellt hat, ein Ideal, das wir heute noch nicht
verwirklicht sehen. Gerade in den letzten Jahren ist es gelungen neue
Kräfte heranzuziehen und erfreulicherweise aus dem Proletariat
selbst. Sie dürfen nicht die einzelne Nummer der Neuen Zeit
mit der einzelnen Nummer der Monatshefte vergleichen. Bedenken
Sie, dass das eine ein Monatsblatt, das andere ein Wochenblatt ist.
Man hat als einen der wichtigsten Gründe, weshalb es so vielen
Genossen verekelt worden ist, an der Neuen Zeit mitzuarbeiten,
den Ton derselben angeführt. Es ist darüber schon manches
Wort hier gesagt worden, ich will nur das eine hinzufügen: wenn
die Revisionisten sich durch das Wort Revisionist beleidigt fühlen,
könnten wir uns nicht mit demselben Recht beleidigt fühlen,
wenn man uns fortwährend Rrrrevolutionäre mit dem
vierfachen r nennt, oder die Unentwegten, die Zielbewussten usw.? In
dieser Hinsicht ist, wie schon in Lübeck gesagt wurde, gesündigt
worden in und außerhalb Ilions, und wir haben uns da
gegenseitig nichts vorzuwerfen. Kautsky ist der Vorwurf der
Einseitigkeit gemacht, aber das Material, das zum Beweis dafür
angeführt wird, reicht nicht aus. Der Redakteur derjenigen
Zeitschrift, die sich nicht nur anmaßt, das wissenschaftliche
Organ der Partei zu sein, sondern die es tatsächlich ist, es von
Anfang an auch gewesen ist, wenngleich aus bestimmten, in der
damaligen politischen Situation liegenden Gründen vielleicht die
offizielle Anerkennung gefehlt hat, ist zu einer gewissen Reserve
gezwungen, die sich ein außerhalb der Kontrolle der
Partei-Instanzen stehendes Organ nicht aufzuerlegen braucht. Kautsky
hat schon darauf hingewiesen, welche Rücksichten zu nehmen er
gezwungen ist. Aber es kommt noch ein anderes hinzu: als Redakteur
der wissenschaftlichen Zeitschrift der Sozialdemokratie hat er auch
darüber zu wachen, dass die Ansichten sich immer mehr klären
und immer weiter entwickelt werden. Da ist er der Partei wie seinem
Gewissen dafür verantwortlich, das solche Meinungen zum Ausdruck
kommen, die seiner eigensten Überzeugung nach im Interesse der
Gesamtpartei, im Interesse des gewaltigen proletarischen
Klassenkampfes liegen, und durch dies Verantwortlichkeitsgefühl
ist er ohne Zweifel verpflichtet, manchmal dem oder jenem Artikel
eine Fußnote oder das von David bemängelte Schwänzchen
anzuhängen. Wenn David darin schon eine Beschränkung der
Meinungsfreiheit und der Kritik erblickt, so bedaure ich ungemein,
dass wir nicht die ungeschriebenen Artikel oder die ungehaltenen
Reeden von David hören beziehungsweise lesen können, worin
er sich entschieden verwahrt hätte gegen die Aufforderung des
Karlsruher Volksfreundes, der Genossin Luxemburg den
Parteimaulkorb anzulegen. Wenn wir die ganzen Vorwürfe, die
heute erhoben worden sind, betrachten, so sieht es mit den beiden
Teilen so aus: man erkennt wohl das Recht an, die alte Richtung, um
sich so auszudrücken, mit aller Schärfe zu kritisieren und
auch in schärfstem Tone zu bekämpfen, man verwahrt sich
aber mit allem Nachdruck gegen die Pflicht, selbst jenen scharfen Ton
zu vermeiden, man fordert die weiteste Meinungs- und
Bewegungsfreiheit für die eigenen Ansichten, ist aber empört,
wenn auf die Kritik die Gegenkritik mit derselben Freiheit antwortet.
Man bekennt eine souveräne Verachtung jeglichem alten Dogma,
verlangt aber auf der anderen Seite den unbegrenzten Respekt vor dem
eigenen neuen Dogma! Wenn die Neue Zeit vielleicht manchmal
bezüglich des Tones wie auch der Tendenz und der Bekämpfung
anderer Tendenzen im Übereifer gesündigt haben mag, so wird
das begreiflich durch die geschichtlichen Bedingungen, unter denen
sie ins Leben getreten ist. Was ist denn die Neue Zeit für
die Partei gewesen? Sie war tatsächlich ein Bindeglied, welches
das große wissenschaftliche Erbe unserer Meister Marx, Engels,
Lassalle etc. zubereitet und nutzbar gemacht hat der Tagespresse, der
praktischen Tagesarbeit, dem praktischen politischen Kampf. Und
dieser hohen Aufgabe musste sie nicht nur gerecht werden, indem sie
die Grundsätze, auf denen unser Programm und unsere Taktik fußt,
in ruhigen, sachlichen Artikeln entwickelte, nein, sie hatte auf der
anderen Seite auch die Aufgabe, alle jene bürgerlichen Krethi
und Plethi abzuwehren, die den Sozialismus verfälschen und sich
an die Rockschöße des Proletariats anhängen wollten.
Sie hat den wissenschaftlichen Sozialismus gleichsam in die Partei
einführen müssen in stetem Kampf mit dem
Pseudo-Sozialismus. Das Waffenhandwerk ist ein raues Handwerk, und
wer sich fortwährend mit den Gegnern herumschlagen muss, der
schlägt unwillkürlich auch mal im Kampfe mit den Genossen
einen scharfen Ton an, der besser vermieden wäre. Soll die Neue
Zeit der Aufgabe getreu bleiben, die sie bis jetzt erfüllt
hat, ich darf wohl sagen, glänzend erfüllt hat, so ist es
notwendig, dass alle Parteigenossen, die dazu fähig sind und
sich berufen fühlen, in rückhaltloser Weise für die
Neue Zeit zu arbeiten. Das ist möglich. So gut wie sich
die beiden Tendenzen im praktischen Tageskampf der Partei, auf den
Parteitagen trotz scharfer Auseinandersetzungen doch stets friedlich
und schiedlich mit einander vertragen haben, so gut muss und kann das
auch in dem Organ der Sozialdemokratie, in der Neuen Zeit der
Fall sein. Nur wenn das eintritt, werden uns jene Kräfte wieder
zuströmen, die jetzt verärgert und verbittert bei Seite
stehen. Nur dann kann die Neue Zeit sein, was sie sein soll
und sie auch zu sein im Stande ist. Dass sie aber das ist, ist nicht
nur notwendig im Hinblick auf die bevorstehenden Kämpfe, von
denen Kautsky gesprochen hat, sondern auch im Hinblick auf die kleine
Tagesarbeit, die wir zu leisten haben. Je mehr neue Elemente in den
Vordergrund geschoben werden, um so notwendiger haben wir eine
Stelle, die theoretisch leitend, führend, beratend, die
Einheitlichkeit betätigend und fördernd ihr zur Seite
steht, mit Rücksicht auf das gemeinsame Ziel, und das im Grund
nur gerichtet ist gegen den gemeinsamen Feind und für die
Erkämpfung der gemeinsamen Freiheit. (Lebhafter Beifall.)
Auf Grund der Mitteilungen von David revoziere ich meine Äußerung [bezüglich der Fußnoten in der Neuen Zeit], soweit sie sich auf die Person von David bezieht, halte sie aber sachlich aufrecht und dediziere sie kameradschaftlich dem Genossen Heine. (Große Heiterkeit.)
Zuletzt aktualisiert am 25. August 2024