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Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Nr. 12, 6. Juni 1900.
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Die Heinzegarde war ausgezogen, um mit den Spießen und Stangen von Gesetzesparagraphen die Unsittlichkeit zu fangen, so wenigstens erklärte sie tugendstolz denen, die es glauben, und denen, die es nicht glauben. Zur höheren Ehre der Sittlichkeit wollte sie nicht bloß durch Bestimmungen gegen Dirnen und Louis an bösartigen sozialen Gebresten herumpfuschen, zur höheren ehre der Sittlichkeit vorgeblich wollte sie auch mittels Gesetzestexten, Polizeiallmacht und Juristenweisheit Kunst, Wissenschaft, die freie Entwicklung des Geisteslebens unter die Satzungen des verknöcherten kirchlichen Dogmas beugen. Dass die Sittlichkeit im Grunde den Heinzemännern Hekuba ist, in dem einen Falle ein Tamtam für quacksalberndes Gehabe, das sich spreizend an die Stelle sozialreformerischer Arbeit setzt, in dem anderen Falle ein Feigenblatt, hinter dem sich der Hass des Pfaffen- und Junkertums gegen das moderne Kulturleben birgt: das erhärtete nicht bloß sinnenfällig das Schicksal des „Arbeitgeberparagraphen“ – mit dem wir uns bereits eingehend befasst haben – das bewies auch des Weiteren die Ablehnung des sozialdemokratischen Antrags, § 361, Ziffer 6 des Strafgesetzbuchs zu streichen. Der betreffende Gesetzestext lautet: „Mit Haft wird bestraft eine Weibsperson, welche wegen gewerbsmäßiger Unzucht einer polizeilichen Aufsicht unterstellt ist, wenn sie den polizeilichen Vorschriften zuwiderhandelt, oder welche, ohne einer solchen Aufsicht unterstellt zu sein, gewerbsmäßig Unzucht treibt.“
In der Tat, wenn es eine Bestimmung gibt, die im Interesse der Sittlichkeit fallen müsste, so ist es der vorstehende Passus des Strafgesetzes. Er trägt wesentlich mit dazu bei, den Boden zu schaffen, in welchem eine der widerlichsten, unsittlichsten Erscheinungen unserer Zeit wurzelt: das Zuhältertum. Indem er Strafen vorsieht gegen die unglückseligen Geschöpfe, welche auf dem Prostitutionsmarkt ihr Weibtum ohne polizeilichen Erlaubnisschein verkaufen oder in Zuwiderhandlung polizeilicher Vorschriften: erschwert er den Dirnen die Ausübung des Gewerbes, auf dem ihr Unterhalt beruht und macht sie zu Gehetzten, Schutzbedürftigen. Aber die Sorge um das Stück Brot, das in Tausenden von Fällen durch ehrliche Arbeit nicht erworben werden kann, ist stärker als die Achtung vor dem Gesetz und den polizeilichen Vorschriften. Der Hunger zwingt die Prostituierte, unter allen Umständen ihrem traurigen Gewerbe nachzugehen, wenn nicht unter dem Schutze des Gesetzes und der Polizei, so mit Missachtung des einen und der anderen. Im Kampfe ums Dasein gilt für sie, zu sündigen, ohne sich erwischen zu lassen. So werden durch die Strafbestimmungen nur die psychologischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Rolle des Louis gezeitigt. Als geächtete und gehetzte empfindet die Dirne das Bedürfnis nach einem Berater und Freund, der – Auswürfling wie sie – ihr als Gleicher zur Seite steht. Als wirtschaftliche bedrohte Gewerbetreibende bedarf sie eines Schützers, der dafür sorgt, dass sie ohne Rücksicht auf irgendwelche Vorschriften ihrem schmachvollen Handwerk nachzugehen vermag, ohne in den Maschen des Strafgesetzes hängen zu bleiben. Gesetzgeber, welche Paragraphen gegen die Ritter von der Ballonmütze fabrizieren, aber den betreffenden Passus des Strafgesetzes aufrecht erhalten, gleichen dem biederen Schneiderlein, das seinen Fuß auf die Donauquelle setzte und mit freudigen Stolze ausrief: „Wie werden sie sich in Wien wundern, wenn die Donau ausbleibt!“
Des Weiteren ist die Ziffer 6 des § 361 die Grundlage schreienden Unrechts – und jedes Unrecht ist unsittlich – das unbescholtenen, ehrbaren Frauen und Mädchen widerfährt. Sie verleiht den Polizeibehörden schier schrankenlose Machtbefugnis, nach Gutdünken auch die anständigste Frau als Prostituierte aufzugreifen, zu inhaftieren, der schimpflichen körperlichen Untersuchung zu unterwerfen unter Sittenkontrolle zu stellen. Und es fehlt nicht an Beispielen, dass Polizeiorgane diese Machtbefugnis nicht nur leichtfertig gebraucht, sondern auch sträflich missbraucht haben. Es genügt der Verdacht eines übereifrigen, tölpelhaften Polizeiers, die Denunziation eines in die Schranken gewiesenen geilen Schurken, und auch das reinste Weib muss die körperliche und seelische Schmach erdulden, gegen welche Not und Gemeinheit nicht immer die Straßendirne abgestumpft haben. Wir erinnern an die Fälle Köppen in Berlin und Kiefer in Köln. In Berlin wurde im vorigen Jahre festgestellt, dass eine unbescholtene Frau jahrelang in den Listen der Prostituierten geführt wurde, ohne dass sie eine Ahnung davon hatte. Noch Ärgeres trug sich in Hamburg zu, wo Bordelle im „polizeitechnischen Sinne“ nur offiziös, nicht offiziell bestehen. Hier wurde eine anständige verheiratete Frau unter Sittenkontrolle gestellt und sollte den entsprechenden Vorschriften nachkommen. Sie weigerte sich dessen, erhielt ein Strafmandat und beantragte gerichtliche Entscheidung. Es erfolgte zunächst Freispruch, der Oberstaatsanwalt legte jedoch hiergegen Berufung beim hanseatischen Oberlandesgericht ein. Dieses hob seinerseits das freisprechende Urteil unter einer Begründung auf, welche nach richterlichem Amtsverstand gewiss Logik und Recht für sich beanspruchen darf, die aber nichtsdestoweniger jedem gesunden Rechtsempfinden, jedem nicht durch Formelkram verkümmerten Denken ins Gesicht schlägt. Das Oberlandesgericht entschied, dass für die Beurteilung des Falles einzig maßgebend sei, ob die Polizei eine weibliche Person unter Sittenkontrolle gestellt habe oder nicht. Ob dies mit Recht oder Unrecht geschehen sei, habe das Gericht nicht zu entscheiden. Ohne jede Bürgschaft gegen Missbrauch lieferte das Urteil mit einem Federstrich die Ehre einer jeden Frau dem willkürlichen Ermessen der Polizeibehörden aus, und das natürlich von „Rechtswege“. Ungeheuerlich wie das Erkenntnis ist, darf es doch ein Verdienst für sich fordern: es zeigt hüllenlos das gemeingefährliche Wesen jener Bestimmung des Strafgesetzbuchs, welche die Polizei zum höchsten Sittentribunal erhebt und ihr die Macht verleiht, nach Belieben auch der ehrbarsten Frau – dafern es einem schlauen Polizeier gefällt, sogar der Vorsteherin eines Sittlichkeitsvereins – das Brandmal einer Dirne aufzudrücken und sie als Dirnen zu misshandeln.
Aber die Sozialdemokratie forderte nicht bloß die Streichung des betreffenden Gesetzestextes, weil dieser in der Praxis zu unheilbaren, ungesunden, durch und durch unsittlichen Zuständen führt. Eine hohe, grundsätzliche Auffassung wohnt vielmehr ihrem Antrag inne und hebt ihn an Bedeutung weit über zahlreiche andre, gute und nützliche Reformforderungen empor. Als Vorkämpferin für die soziale Gleichwertigkeit und Gleichstellung des weiblichen Geschlechts trat die Sozialdemokratie auf den Plan und erklärte: im Namen wahrer Sittlichkeit fort mit dieser Bestimmung! sie stellt ein Ausnahmerecht schimpflichster Art gegen das weibliche Geschlecht dar, sie heiligt gesetzlich jene ebenso unsittliche als kindische Auffassung, dass es zweierlei Moral für das Geschlechtsleben gäbe, eine Moral der Laxheit und Toleranz für den Mann, eine Moral unbeugsamer Strenge und Härte für die Frau. Eine Moral, ein Recht und Unrecht für beide Geschlechter! Was die Frau menschlich erniedrigt, das schändet auch den Mann. Was man beim Manne nicht als Missetat erachtet, sondern als traurige Notwendigkeit begreift und entschuldigt – wenn nicht gar ausdrücklich billigt und als gutes Recht fordert – das darf auch der Frau, die ebenfalls dem Zwange trauriger Notwendigkeit unterliegt, nicht als Verbrechen angerechnet werden. Wenn der Käufer auf dem Prostitutionsmarkt nicht zum sozial Geächteten wird, so darf auch die Verkäuferin nicht als Ausgestoßene gelten.
Tatsächlich bedeuten die einschlägigen Bestimmungen des Strafgesetzbuchs ein Ausnahmegesetz, das seine Schärfe einseitig nur gegen das weibliche Geschlecht kehrt, das eine persönliche Beleidigung der Frau ist. Das arme Ding, das im Elend und in sittlicher Verwilderung aufgewachsen ist, und das der große Kuppler Hunger mit wuchtigen Geißelhieben in die Straße treibt, um die traurige Existenz durch das Laster zu fristen, wird als Verfemte der polizeilichen Aufsicht unterstellt und unter Umständen bestraft. Der Mann, den die wirtschaftliche Unmöglichkeit, sich zur Zeit des stärksten Geschlechtsbedürfnisses verheiraten zu können, auf die Suche nach käuflichem Genuss treibt, der bleibt hochachtbar, die Polizei fragt nicht nach ihm, kümmert sich nicht um ihn, hat keine Strafe für ihn bereit, und wenn er auch als Geschlechtskranker das Gift furchtbarer Seuche weiter verbreitet.
Gewiss ist nichts kindlicher als die Auffassung – sie spukt in manchen frauenrechtlerischen Kreisen – welche die Prostituierte tränenselig als Märtyrerin bemitleidet, dagegen alle Schalen sittlicher Entrüstung über den Mann, den „Wüstling“ ergießt. Die Dirne, welche Geschlechtsgenuss feil hält, der Mann, welcher Geschlechtsgenuss bar zahlend kauft, sie sind Beide unglückselige, bedauernswerte Opfer wirtschaftlicher und sozialer Verhältnisse, welche weiten Kreisen Vorbedingungen für ein gesundes, sittliches Geschlechtsleben vorenthalten. [1] Aber ein schreiendes Unrecht ist es, eine Unsittlichkeit ohne Gleichen, den beiden Opfern mit ganz verschiedenem Maße zu messen, je nachdem sie dem einen oder dem anderen Geschlecht angehören.
Das zweierlei Maß bei Beurteilung der geschlechtlichen Sittlichkeit von Mann und Frau, das die Ziffer 6 des § 361 als Recht und Gesetz sanktioniert, ist nichts als ein Ausdruck der sozialen Unterbürtigkeit des weiblichen Geschlechts. Es ist bedingt durch die Auffassung, dass die Frau niederer Natur sei als der Mann und deshalb niederen Rechtes sein müsse als er. Nicht als Persönlichkeit kommt sie in Betracht als gleichwertige, gleichberechtigte Gefährtin des Mannes, vielmehr lediglich als dessen Dienerin, Eigentum und Zeitvertreib. Statt dass das Gesetz im Namen der einen Gerechtigkeit und der einen Sittlichkeit gleiches Recht für alle fordert, erniedrigt es sich in der fraglichen Bestimmung unter dem Banne des Dogmas von der Minderwertigkeit des weiblichen Geschlechts zum Diener der vulgären Spießbürgermoral, nach welcher der außereheliche Geschlechtsverkehr – besonders wenn er Folgen hat – das Mädchen zur „Gefallenen“ macht, dem Manne dagegen keinen Makel anhängt, ihn höchstens in den Ruf eines „interessanten Don Juan“ bringt, der als bemittelter und betitelter Bewerber Gnade vor den Augen der tugendstolzesten Schwiegermutterkandidatin findet.
Angesichts dieser grundsätzlichen Bedeutung ist es erklärlich, dass die von den Berliner Genossinnen ausgehende Petition, welche die gleiche Reform wie der sozialdemokratische Antrag fordert, in kurzer Zeit Tausende von Unterschriften von Frauen aller Stände erhielt, und dass noch weitere Tausende von Unterschriften einlaufen. Die Frauenwelt aller Kreise, soweit sie zum Bewusstsein von des Weibes Würde und persönlichem Rechte erwacht ist, empfindet die einschlägigen Bestimmungen des Strafgesetzbuchs als Schimpf, der dem gesamten Geschlecht angetan wird. Die Frau, die ihr Menschentum fühlt, denkt und will, erklärt: fort mit diesem Schimpf! Gegenüber der platten, zwieschlächtigen Moral, die hier zum Gesetz destilliert ist, bricht – mutatis mutandis, mit den nötigen Änderungen – der heiße Schmerzens- und Empörungsschrei aller sozial Getretenen und Geknechteten von ihren Lippen, der Shakespeare der tieftragischen Gestalt seines Shylock in den Mund gelegt hat: „Ich bin ein Weib. Hat nicht ein Weib Hände, Gliedmaßen, Werkzeuge, Sinne, Leidenschaften? mit derselben Speise genährt, mit denselben Waffen verletzt, denselben Krankheiten unterworfen, mit denselben Mitteln geheilt, gewärmt und gekältet von eben dem Winter und Sommer als ein Mann? Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht? Wenn ihr uns vergiftet, sterben wir nicht?“
Die bürgerlichen Gesetzgeber haben kein Verständnis für eine solche Auffassung und das ihr entspringende Begehren. Nicht eine einzige Stimme erhob sich aus ihren Reihen, um Fraueninteresse und Frauenrecht zu verteidigen. Die Ehre, auch in dieser Hinsicht für eine höhere Kultur zu kämpfen, fiel einzig der Sozialdemokratie zu.
Unmöglich, die Haltung der bürgerlichen Parteien dadurch zu entschuldigen, dass im Interesse der Allgemeinheit das grundsätzliche Frauenrecht politischen Notwendigkeiten in ordnungs- und sanitätspolizeilicher Hinsicht weichen muss. Wenn die löblichen Polizeibehörden über Dirnen die Bestimmungen über groben Unfug und Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung mit dem zehnten Teil der Schneidigkeit und Deutungskunst anwenden die sie der Arbeiterklasse gegenüber betätigen, so verwandelt sich die Friedrichstraße in Berlin in eine Stätte höhertöchterlicher Züchtigkeit. Der fromme Gottesmann Stöcker kann dann dort bis 5 Uhr morgens spazieren, ohne durch den Anblick von 40 Prostituierten daran erinnert zu werden, dass ach! das Fleisch schwach ist und die Zierde der konservativen Partei, der gottesfürchtige Hammerstein, die sündige Gesellschaft seiner Flora Graß der kirchlich gesegneten Gemeinschaft mit seinem ehelichen Weibe vorzog. Von welch geringer sanitärer Bedeutung aber die Aufrechterhaltung der schmachvollen Bestimmung des Strafgesetzes ist, das erhärten Ziffern. Die Zahl der Dirnen in Berlin wird auf 60.000 bis 100.000 geschätzt, aber nur gegen 5.000 davon unterstehen der polizeilichen Aufsicht. Schutz gegen die Verseuchung breiter Bevölkerungskreise mit dem furchtbaren syphilitischen Gift wird nicht durch das Ausnahmerecht gegen das weibliche Geschlecht geschaffen, sondern durch ein engmaschiges Netz sanitärer Maßregeln, die jedes polizeilich schikanösen und sozial ächtenden Charakters entkleidet sind. Männer der Wissenschaft, Ärzte und Hygieniker, und nicht Polizeier und Juristen haben hier das entscheidende Wort zu sprechen. Nicht praktische Rücksichten sind für die Haltung der bürgerlichen Parteien maßgebend, vielmehr grundsätzliche Gegnerschaft ist es gegen die Forderung der einen Moral für beide Geschlechter, gegen die Forderung der Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts. Der sozialdemokratische Antrag wurde von der gleichen Majorität niedergestimmt, welche den Arbeitgeberparagraph fallen ließ; von den gleichen Parteien, die durch Erschwerung der Ehescheidung die Verantwortlichkeit tragen für zunehmende Prostitution in der Ehe und außer der Ehe. Von den gleichen Parteien, die der Frau ihre privatrechtliche und öffentlich-rechtliche Gleichstellung vorenthalten. Der Kampf für und gegen die doppelte Moral ist ein Kampf für und gegen die Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts, ist ein Kampf für und gegen höhere Sittlichkeit und Kultur. Unentmutigt führen die Frauen diesen Kampf weiter.
1. Die diesem Argument zugrunde liegende Annahme, dass Männer zu Prostituierten gehen, weil sie anders keine Möglichkeit zu Geschlechtsverkehr haben, war und ist falsch. Ein wichtiger Aspekt der Prostitution sind immer auch sexuelle Praktiken, die bei nichtkäuflichem Geschlechtsverkehr nicht üblich sind.
Zuletzt aktualisiert am 16. August 2024